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Urteilskopf

110 V 248


40. Urteil vom 6. August 1984 i.S. Kündig gegen Ausgleichskasse VATI und AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich

Regeste

Art. 23, 25 AHVG, Art. 38 ZGB.
- Zusammenfassung der Rechtsprechung zur Verschollenerklärung (Erw. 1).
- Die Verschollenerklärung entfaltet die gesetzlichen Wirkungen vom Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht an bis zu ihrer richterlichen Aufhebung. Für diese Zeitspanne ist die Ehefrau des Verschollenen als Witwe im Sinne von Art. 23 AHVG zu betrachten. Im Falle der Aufhebung der Verschollenerklärung ist sie für die während der Verschollenheit bezogenen Witwenrenten nicht rückerstattungspflichtig (Erw. 2).

Sachverhalt ab Seite 248

BGE 110 V 248 S. 248

A.- Bruno Kündig wurde am 27. Juli 1977 vom Einzelrichter des Bezirksgerichts X. wegen langer nachrichtenloser Abwesenheit als seit dem 16. Januar 1970 verschollen erklärt. Seiner Ehefrau Ilse Kündig sprach die Ausgleichskasse VATI aufgrund einer Anmeldung vom 31. März 1977 ab 1. März 1972 eine Witwenrente zu (Verfügungen vom 6. Juni und 7. November 1977). Nachdem die Ausgleichskasse Meldungen erhalten hatte, dass sich Bruno Kündig in Spanien aufhalte, stellte sie die Rentenzahlungen auf
BGE 110 V 248 S. 249
Ende April 1982 ein (Verfügung vom 27. April 1982) und forderte von Ilse Kündig die geleisteten Renten im Betrag von insgesamt Fr. 94 400.-- gestützt auf Art. 47 AHVG zurück (Verfügung vom 11. Mai 1982). Am 8. Juli 1982 widerrief der Einzelrichter des Bezirksgerichts X. die Verschollenerklärung des Bruno Kündig.

B.- Die gegen die beiden Verfügungen vom 27. April und 11. Mai 1982 erhobene Beschwerde wies die AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich mit Entscheid vom 4. November 1982 ab.

C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Ilse Kündig beantragen, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der beiden angefochtenen Kassenverfügungen sei ihr bis Ende Juli 1982 eine Witwenrente auszurichten und es sei von einer Rückerstattung abzusehen.
Ausgleichskasse und Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) schliessen auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Erwägungen

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1. Die Gewährung von Witwen- und Waisenrenten setzt den Tod des Ehemannes bzw. eines oder beider Elternteile voraus. Dem Tod gleichgestellt ist in Anknüpfung an Art. 38 ZGB die Verschollenerklärung (EVGE 1967 S. 237 Erw. 3, 1960 S. 97, 1953 S. 230 Erw. 2; ZAK 1960 S. 178 Erw. 1, 1952 S. 170 ff., 1951 S. 41, 1948 S. 488; JEAN-FRANÇOIS AUBERT, L'état civil et l'assurance-vieillesse et survivants, SZS 1962, S. 16-19; JEAN-DANIEL DUCOMMUN, Problèmes juridiques actuels de l'assurance-vieillesse et survivants, ZSR 74/1955 II, S. 270a-274a). Von der Regelung des Art. 38 ZGB ist das Sozialversicherungsrecht insofern abgewichen, als bereits vor der Verschollenerklärung im Sinne einer "vorgängigen sozialen Massnahme" Leistungen erbracht werden können, sofern im Falle der langen nachrichtenlosen Abwesenheit das Gesuch um Verschollenerklärung bereits gestellt bzw. dies nicht zumutbar ist oder wenn bei Verschwinden in Todesgefahr die Stellung des Gesuchs noch nicht möglich ist (EVGE 1960 S. 98; vgl. EVGE 1967 S. 235 Erw. 1 sowie Wegleitung des BSV über die Renten vom 1. Januar 1980, Rz. 128.2 - in der Fassung gemäss Nachtrag 2 - und Rz. 176). Eine weitere Abweichung vom Zivilrecht besteht darin, dass zwar die Wirkung der Verschollenerklärung entsprechend Art. 38 Abs. 2 ZGB grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Todesgefahr bzw. der letzten Nachricht zurückbezogen wird, jedoch der Frist des Art. 46 Abs. 1 AHVG Rechnung
BGE 110 V 248 S. 250
zu tragen ist, wonach der Anspruch auf Nachzahlung mit dem Ablauf von 5 Jahren seit Ende des Monats, für welchen die Leistung geschuldet war, erlischt; diese Frist bleibt gewahrt, wenn das Leistungsgesuch vor ihrem Ablauf eingereicht wird, auch wenn die Verschollenerklärung durch den Richter noch nicht ausgesprochen ist (EVGE 1967 S. 236 Erw. 2 und 3; ZAK 1960 S. 178 Erw. 1).

2. Das Eidg. Versicherungsgericht hat bisher nicht entscheiden müssen, welche Wirkung der richterlichen Aufhebung einer Verschollenerklärung im Sozialversicherungsrecht zukommt. Vorliegend ist umstritten, ob die Aufhebung der Verschollenerklärung die Pflicht zur Rückerstattung der während der Verschollenheit ausgerichteten Witwenrenten nach sich zieht und ob die Ausgleichskasse die Rentenzahlungen bereits vor der richterlichen Aufhebungsverfügung vom 8. Juli 1982 einstellen durfte.
a) Der Zweck der Verschollenerklärung besteht darin, der Ungewissheit über das Schicksal eines Vermissten im Interesse der mit ihm verbundenen Personen rechtlich ein Ende zu bereiten. Diesen Personen wird im Sinne einer Umkehrung der Beweislast der Nachweis des Todes erlassen, damit sie die aus dem Tode abgeleiteten Rechte geltend machen können, wie wenn der Tod bewiesen wäre (Art. 38 Abs. 1 ZGB). Folgerichtig löst die Verschollenerklärung in der AHV einen Anspruch auf Witwen- und Waisenrenten aus, weil mit ihr der Beweis für eine dem Tod des Versicherten gleichzustellende Tatsache erbracht wird (EVGE 1967 S. 237 Erw. 3 mit Hinweis).
Die Verschollenerklärung entfaltet ihre Wirkung vom Zeitpunkt der Todesgefahr oder der letzten Nachricht an (Art. 38 Abs. 2 ZGB), bis der Nachweis erbracht werden kann, dass der Vermisste lebt, oder wenn die Tatsache und der Zeitpunkt seines Todes festgestellt werden können (JACQUES-MICHEL GROSSEN, Das Recht der Einzelpersonen, Schweizerisches Privatrecht, Bd. II, S. 308). Die Aufhebung der Verschollenerklärung hat im Interesse der Rechtssicherheit durch den Richter zu erfolgen; bis dahin bleibt der Vermisste auch im Todesregister als verschollen eingetragen (Art. 51 ZGB, Art. 91 Abs. 3 ZStV). Damit wird jenen Unsicherheiten begegnet, mit denen neue Anhaltspunkte über das Schicksal des Vermissten behaftet sind. Bis alle Zweifel über die Identität ausgeräumt sind, hat der Richter - wie vorliegend - unter Umständen eingehende Abklärungen zu treffen, weshalb auch in zeitlicher Hinsicht auf seinen Entscheid abzustellen ist. Für den Zeitraum der rechtsgültigen Verschollenerklärung treten daher die
BGE 110 V 248 S. 251
daran geknüpften Rechtsfolgen ein. Demnach sind Witwen- und Waisenrenten bis zur richterlichen Aufhebung der Verschollenerklärung auszurichten. Dies entspricht auch der Praxis des Eidg. Versicherungsgerichts, wonach eine Witwe ihren Status so lange beibehält, als sie nicht wieder heiratet (BGE 105 V 10 Erw. 1, 211) oder der Zivilrichter nicht ihre durch den Tod aufgelöste Ehe als ungültig erklärt (EVGE 1965 S. 74). Ob anders zu entscheiden ist, wenn die Rentenberechtigten die richterliche Aufhebung der Verschollenerklärung schuldhaft hinauszögern, kann vorliegend offenbleiben.
b) Verwaltung und Vorinstanz gehen davon aus, die Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Witwenrente seien rückwirkend nicht erfüllt gewesen. Die Vorinstanz begründet dies im wesentlichen damit, dass die Verschollenerklärung "gänzlich widerrufen" und dadurch festgestellt worden sei, dass die Beschwerdeführerin nie Witwe im Sinne des Art. 23 AHVG gewesen sei. Dem kann nicht beigepflichtet werden. Abgesehen davon, dass die aus der Verschollenerklärung abgeleiteten Rechte bis zum richterlichen Aufhebungsentscheid bestehen und die Beschwerdeführerin bis zu diesem Zeitpunkt sozialversicherungsrechtlich als Witwe zu betrachten ist (Erw. a hievor), lässt sich eine Rückwirkung mit dem Zweck der Sozialversicherung nicht vereinbaren. Denn Renten der AHV und IV bezwecken die Deckung des Existenzbedarfs der Betagten, Hinterlassenen sowie Invaliden und sind für den Unterhalt und bei Jugendlichen zusätzlich für die Erziehung bestimmt (BGE 107 V 213; ZAK 1982 S. 95 mit Hinweisen). Dies kommt insbesondere auch darin zum Ausdruck, dass Rentenleistungen unter gewissen Voraussetzungen bereits vor einer Verschollenerklärung im Sinne einer vorgängigen Sozialmassnahme erbracht werden können (Erw. 1 hievor). In diesen Fällen ist allerdings eine Rückerstattungspflicht anzunehmen, wenn der Richter die Verschollenerklärung nicht ausspricht (AUBERT, a.a.O., S. 19), da die Wirkungen des Art. 38 ZGB gar nie eingetreten sind.
Zu Unrecht leitet das BSV aus der im Erbrecht vorgesehenen Sicherstellungs- und Herausgabepflicht (Art. 546 ff. ZGB) ab, für den Bereich der AHV sei ebenfalls eine Rückerstattungspflicht anzunehmen. Im Erbrecht sind im Gegensatz zur AHV nicht nur die Interessen der Hinterlassenen, sondern auch diejenigen des Verschollenen und besser berechtigter Dritter zu berücksichtigen. Das Zivilrecht regelt die Wirkungen der umgestossenen Verschollenerklärung ohnehin nicht einheitlich, lebt doch z.B. eine durch
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den Richter nach Art. 102 ZGB aufgelöste Ehe nicht wieder auf (EGGER, N. 2 zu Art. 102 ZGB; GÖTZ, N. 4 und 8 zu Art. 102 ZGB).
c) Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Beschwerdeführerin bis zur Verfügung des Einzelrichters des Bezirksgerichts X. vom 8. Juli 1982, d.h. bis Ende Juli 1982 Anspruch auf eine Witwenrente hat.

Dispositiv

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der AHV-Rekurskommission des Kantons Zürich vom 4. November 1982 und die Verfügungen der Ausgleichskasse VATI vom 27. April und 11. Mai 1982 aufgehoben, und es wird festgestellt, dass die Beschwerdeführerin bis Ende Juli 1982 Anspruch auf eine Witwenrente hat.

Inhalt

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Regeste: deutsch französisch italienisch

Sachverhalt

Erwägungen 1 2

Dispositiv

Referenzen

BGE: 105 V 10, 107 V 213

Artikel: Art. 38 ZGB, Art. 102 ZGB, Art. 23 AHVG, Art. 38 Abs. 2 ZGB mehr...