BGE 116 V 145
 
26. Urteil vom 17. April 1990 i.S. B. gegen ELVIA, Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden
 
Regeste
Art. 6 Abs. 2 UVG, Art. 9 Abs. 2 UVV: Unfallähnliche Körperschädigungen.
- Der Ausschluss dieser Befunde aus der Liste der unfallähnlichen Körperschädigungen ist gesetz- und verfassungsmässig (Erw. 6c).
 
Sachverhalt


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A.- Der 1957 geborene Mario B. arbeitet im Fitness-Center C., einem für die obligatorische Unfallversicherung nunmehr der ELVIA Schweizerische Versicherungs-Gesellschaft in Zürich (nachfolgend ELVIA), ehemals Helvetia Unfall, unterstellten Betrieb. Als er am 1. Mai 1987 beim Aufräumen der Gewichte 4 oder 5 Scheiben à je 10 kg vom Boden aufhob und in etwa 6 Metern Entfernung in gebückter Haltung wieder abstellen wollte, verspürte er einen heftigen "Zwick" im Rücken auf der Höhe Lenden-/Brustwirbel. Er konnte sich nur mit Mühe und unter starken Schmerzen, welche 2 bis 3 Tage andauerten, teilweise wieder aufrichten (Befragungsprotokoll vom 5. August 1987). Am 3. Juni 1987 wurde eine Bagatellunfall-Meldung erstattet. Im Arztzeugnis vom 22. Juli 1987 diagnostizierte Dr. U. eine akute Thoraco-Lumbalgie nach Heben einer schweren Last. Der Versicherte war vom 5. bis 17. Mai 1987 arbeitsunfähig.
Die ELVIA bestritt mit Verfügung vom 7. September 1987 ihre Leistungspflicht, weil mangels eines ungewöhnlichen äusseren Faktors der Unfallbegriff nicht erfüllt sei. Sie wies eine hiegegen erhobene Einsprache ab und hielt in ihrem Entscheid vom 12. Oktober 1987 fest, dass auch keine unfallähnliche Körperschädigung vorliege.


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B.- Beschwerdeweise liess Mario B. beantragen, der Einspracheentscheid sei aufzuheben und die Helvetia Unfall sei "der Leistungspflicht zu unterstellen"; eventuell sei zur Frage, ob eine unfallähnliche Körperschädigung bestehe, ein Kurzgutachten einzuholen.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies die Beschwerde mit Entscheid vom 5. Februar 1988 ab.
C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt Mario B. die vor der Vorinstanz gestellten Anträge sinngemäss erneuern; gegebenenfalls sei die Sache zur Neubeurteilung an eine der Vorinstanzen zurückzuweisen.
Die ELVIA beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, eventuell Durchführung einer medizinischen Expertise. Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichtet auf einen Antrag.
D.- Das Eidg. Versicherungsgericht holte beim BSV einen ergänzenden Bericht zu Fragen der unfallähnlichen Körperschädigung im Zusammenhang mit Lumbago ein, welcher am 25. November 1988 zusammen mit einem fachtechnischen Bericht des Dr. S., Chefarzt der MEDAS St. Gallen, vom 2. November 1988 erstattet wurde. Die Parteien nahmen hiezu im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels Stellung. Nachdem der Rechtsvertreter des Versicherten nebst zwei Röntgenbildern ein Zeugnis des Hausarztes Dr. U. vom 27. Dezember 1988 und dessen Röntgenbericht vom 8. Februar 1989 eingereicht hatte, liessen sich die ELVIA und das BSV mit Zusatzbericht vom 19. Mai 1989 nochmals vernehmen. Darin beantragt das Bundesamt Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Ferner wurden nachträglich die von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) in einem Parallelverfahren eingereichten Unterlagen, namentlich der Bericht des Chefarztes der Unfallmedizin, Dr. R., vom 5. Juli 1989 und eine Aktennotiz des Anstalts-Chefarztes Prof. Dr. Sch. vom 7. Juli 1989, dem Rechtsvertreter des Versicherten unterbreitet, der eine ergänzende Vernehmlassung einreichte.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
2. a) Nach Art. 6 Abs. 1 UVG werden die Leistungen der Unfallversicherung bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und

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Berufskrankheiten gewährt, soweit das Gesetz nichts anderes bestimmt.
Gemäss Art. 9 Abs. 1 UVV gilt als Unfall die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper. Damit wurde im wesentlichen die vom Eidg. Versicherungsgericht in ständiger Rechtsprechung verwendete Definition des Unfalls übernommen. Der äussere Faktor ist ungewöhnlich, wenn er den Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreitet, was im Einzelfall nach den objektiven Verumständungen zu beurteilen ist (BGE 112 V 202 Erw. 1 mit Hinweisen).
b) Gemäss Art. 6 Abs. 2 UVG kann der Bundesrat Körperschädigungen, die den Folgen eines Unfalles ähnlich sind, in die Versicherung einbeziehen. Von dieser Kompetenz hat der Bundesrat in Art. 9 Abs. 2 UVV Gebrauch gemacht und folgende Körperschädigungen auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung den Unfällen gleichgestellt:
a. Knochenbrüche, sofern sie nicht eindeutig auf eine Erkrankung
zurückzuführen sind; b. Verrenkungen von Gelenken;
c. Meniskusrisse;
d. Muskelrisse;
e. Muskelzerrungen;
f. Sehnenrisse;
g. Bandläsionen;
h. Trommelfellverletzungen.
Diese Aufzählung der den Unfällen gleichgestellten Körperschädigungen ist abschliessend. Daher ist es unzulässig, die Liste der unfallähnlichen Körperschädigungen durch Analogieschlüsse zu erweitern (BGE 114 V 302 Erw. 3d, 303 Erw. 3e; MAURER, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl., 1989, S. 202).
c) Nach der Rechtsprechung gelten nur die in Art. 9 Abs. 2 lit. a UVV genannten Knochenbrüche dann nicht als unfallähnliche Körperschädigung, wenn sie eindeutig auf eine Erkrankung zurückzuführen sind. Für die übrigen in der Verordnungsbestimmung erwähnten Verletzungen ist eine solche Einschränkung nicht vorgesehen. Dem Wortlaut nach können somit die in Art. 9 Abs. 2 lit. b bis h UVV aufgezählten Läsionen auch dann eine unfallähnliche Körperschädigung darstellen, wenn sie ganz oder teilweise auf einer Krankheits- oder Degenerationserscheinung beruhen. Dagegen kann die ausschliesslich aufgrund eines pathologischen Prozesses

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erfolgte Läsion nicht als unfallähnliche Schädigung anerkannt werden. Da diese mit Ausnahme des ungewöhnlichen äusseren Faktors sämtliche anderen Merkmale des Unfallbegriffs voraussetzt, muss auch bei einer auf Krankheits- oder Abnützungserscheinung basierenden Beeinträchtigung eine plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eintreten, welche die Verletzung verursacht. Der Auslösungsfaktor kann alltäglich und diskret sein. Wesentlich ist, dass ein plötzliches Ereignis, beispielsweise eine heftige Bewegung oder das plötzliche Aufstehen aus der Hocke, die in Art. 9 Abs. 2 lit. b bis h UVV erwähnten Verletzungszustände hervorruft. Fehlt es an einem solchen unmittelbaren Geschehen und ist die Läsion vielmehr wiederholten, im täglichen Leben erfolgten Mikrotraumata zuzuschreiben, die eine allmähliche Abnützung bewirken, welche schliesslich das Ausmass der eine Behandlung erfordernden Schädigung erreicht, liegt kein Unfall, sondern eine Krankheit vor (BGE 114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b).
b) Die Leistungspflicht des Unfallversicherers lässt sich entgegen dem vorinstanzlichen Entscheid nicht mit der Begründung verneinen, die Lumbago weise auf eine Krankheit hin. Nach der Rechtsprechung können die in Art. 9 Abs. 2 lit. b bis h UVV aufgezählten Läsionen auch dann eine unfallähnliche Körperschädigung darstellen, wenn sie ganz oder teilweise auf einer Krankheits- oder Degenerationserscheinung beruhen. Wesentlich ist aber, dass ein plötzliches Ereignis, beispielsweise eine heftige Bewegung oder das plötzliche Aufstehen aus der Hocke, die in Art. 9 Abs. 2 lit. b bis h UVV erwähnten Verletzungszustände hervorruft (BGE 114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b).


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4. Der Beschwerdeführer hob am 1. Mai 1987 beim Aufräumen der Gewichte 4 oder 5 Scheiben à je 10 kg vom Boden auf und wollte sie in einiger Entfernung in gebückter Haltung wieder abstellen, als er einen heftigen "Zwick" im Rücken auf der Höhe Lenden-/Brustwirbel verspürte. Damit liegt ein unmittelbares Geschehen im Sinne der dargelegten Rechtsprechung vor, welches die Merkmale der Plötzlichkeit sowie der Unfreiwilligkeit aufweist und zu einer Körperschädigung führte. Da Lumbago (bzw. Lumbalgie) als solche in der abschliessenden Aufzählung von Art. 9 Abs. 2 UVV nicht genannt ist, stellt sich die Frage, ob die beim Beschwerdeführer diagnostizierte akute Thoraco-Lumbalgie unter eine der in der Liste erwähnten unfallähnlichen Körperschädigungen subsumiert werden kann.
a) Gemäss der medizinischen Literatur bezeichnet Lumbago bzw. Lumbalgie ("Hexenschuss") einen durch sensible Eigeninnervation der Lendenwirbelsäule ausgelösten, meistens akut einsetzenden, stechenden, zunächst segmentalen Kreuzschmerz ohne Irritation der Ischiaswurzeln. Sie ist oft mit Lähmungsgefühl, Schonhaltung und schmerzbedingter Bewegungseinschränkung der Lendenwirbelsäule, muskulärem Hartspann der Rückenmuskulatur und Druckschmerzhaftigkeit der Dornfortsätze verbunden (PSCHYREMBEL, Klinisches Wörterbuch, 256. Aufl., 1990, S. 979; ROCHE, Lexikon Medizin, 2. Aufl., 1987, S. 1065; THIELE, Handlexikon der Medizin, S. 1502). Das gleiche Erscheinungsbild zeigt sich gemäss Bericht des Dr. S., Chefarzt der MEDAS St. Gallen, vom 2. November 1988 auch bei der etwas höher, im thoraco-lumbalen Übergangsbereich auftretenden Thoraco-Lumbalgie. In der Stellungnahme vom 5. Juli 1989 im Parallelfall weist Dr. R., Chefarzt der Abteilung Unfallmedizin der SUVA, darauf hin, dass der Begriff Lumbago grundsätzlich für dieses klar umschriebene klinische Krankheitsbild reserviert ist; die Diagnose einer Lumbago setze voraus, dass andere für akute Kreuzschmerzen in Frage kommende Ursachen diagnostisch ausgeschlossen wurden; akute posttraumatische Schmerzzustände infolge schwerer (direkter oder indirekter) äusserer Einwirkungen fielen grundsätzlich nicht unter den klinischen Begriff Lumbago. Nach HOPPLER (Krankenversicherung und unfallähnliche Körperschädigungen, SKZ 1988 S. 128) kommt es selten vor, dass eine Lumbago als Unfallfolge bezeichnet werden kann.
b) Laut Bericht des Dr. S. führen verschiedene Ursachen zu Lumbago: Unphysiologische und übermässige Belastung des Rückens

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kann einen Ermüdungsschmerz der strapazierten Muskeln und Bänder auslösen. Abnützung sowie namentlich Einrisse und Spaltbildungen im dorsalen Abschnitt der Bandscheibe als Folge starker chronischer oder akuter Biegespannungen können ebenfalls Schmerzen verursachen und schliesslich eine Verlagerung des Bandscheibenkerns in Richtung Spinalkanal bewirken. Diese unter der Bezeichnung Protrusion bekannte Erscheinung kommt besonders im Bereich der 4. und 5. Lendenbandscheibe häufig vor. Im weiteren können Gefügestörungen im Bewegungssegment (d.h. Verlagerung des oberen Wirbels nach hinten infolge Bandscheibenverschmälerung und damit zusammenhängende Verschiebungen in den kleinen Gelenken) zu Zerrungen an Gelenkkapseln und am hinteren Längsband führen. Bei akuter Lumbago sind gemäss Bericht des Dr. S. meist auch Blockierungen der subluxierten Wirbelgelenke im Spiel. Schliesslich sind auch lokale Entzündungen an der Wirbelsäule oder in ihrer Umgebung (z.B. bei Infektionen) in der Lage, das klassische Bild einer Lumbago zu erzeugen, in diesen Fällen aber meist nicht mit schlagartigem Beginn.
Die Differentialdiagnose der Lumbago ist gemäss der erwähnten Stellungnahme des Dr. R. sehr vielgestaltig und umfasst multiple Erkrankungen aus dem rheumatischen, neurologischen, neurochirurgischen, orthopädischen, urologischen und gynäkologischen Bereich. Für die Lumbago ist das plötzliche Auftreten der Schmerzen ohne wesentliche äussere Einwirkung typisch; eine "dumme" Bewegung, eventuell auch eine Erkältung genügt, und manchmal ist für den Versicherten gar keine Ursache erkennbar.
Die Auffassungen des Dr. S. und des Dr. R. stimmen - unter Vorbehalt der Erwägung 4c - darin überein, dass als Ursachen der Lumbago Funktionsstörungen des Bewegungssegmentes bzw. unphysiologische und übermässige Belastungen des Rückens, degenerative Veränderungen bzw. Abnützungen als Folge starker chronischer und akuter Biegespannungen in Betracht kommen.
c) Gemäss Bericht des Dr. S. können bei Lumbago unfallähnliche Körperschädigungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV eine Rolle spielen, namentlich Subluxationen der kleinen Wirbelgelenke, Muskelrisse und -zerrungen, Sehnenrisse sowie Bänderzerrungen und -risse. Bei jungen Versicherten könne Lumbago den einzigen Befund oder den Hauptbefund darstellen, während bei älteren Versicherten gleichzeitig mehrere Faktoren, wie degenerative Abnützungserscheinungen an der Wirbelsäule, insuffiziente Rückenmuskulatur und unverhältnismässige Belastung, vorhanden seien.


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Demgegenüber ist die akute Lumbago gemäss Auffassung des Dr. R. eine funktionelle Störung eines oder mehrerer Wirbelsäulensegmente, ohne dass organische Läsionen im Sinne unfallähnlicher Körperschädigungen vorlägen. Gerade die häufigen schlagartigen Heilungen der Lumbago durch einfache Handgriffe beweisen nach seiner Auffassung, dass organische Verletzungen von Muskeln, Sehnen oder Bändern fehlten. Soweit hingegen Luxationen, Muskelrisse und -zerrungen, Sehnenrisse oder Bandläsionen im Bereich der Wirbelsäule als akute Verletzungen vorliegen, welche zugleich das Bild einer Lumbago zeigen, so handle es sich in der Regel um die Folge schwerer (direkter oder indirekter) äusserer Einwirkungen, die den Unfallbegriff im Sinne von Art. 9 Abs. 1 UVV erfüllten.
Die erwähnte Meinungsverschiedenheit dürfte jedoch nur selten von praktischer Tragweite sein (vgl. Erwägung 4d nachfolgend). Denn auch Dr. S. hält den Nachweis, ob und inwieweit im Einzelfall bei Lumbago unfallähnliche Körperschädigungen im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV vorliegen, für praktisch unmöglich. Es sei lediglich feststellbar, ob an der Wirbelsäule radiologisch bereits über das Alter hinausgehende Verschleisserscheinungen beständen. Dr. R. argumentiert, ein solcher Nachweis sei nicht möglich, weil bei der akuten Lumbago keine unfallähnlichen Körperschädigungen vorlägen bzw. sich mit den zur Verfügung stehenden diagnostischen Mitteln keine solchen Verletzungen nachweisen liessen.
d) Aus diesen Darlegungen folgt, dass bei Lumbago als Hauptbefund mit den verfügbaren diagnostischen Mitteln der Nachweis einer Verletzung an Wirbelsäulengelenken, Muskeln, Sehnen oder am Bandapparat praktisch ausgeschlossen ist. Kann eine unfallähnliche Körperschädigung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV bei Lumbago somit medizinisch kaum je nachgewiesen werden, ist es auch nicht möglich, diese allenfalls unter eine der in dieser Liste aufgezählten Körperschädigungen zu subsumieren.
Bestehen indessen in besonderen Fällen aufgrund der Akten konkrete Anhaltspunkte, dass neben Lumbago unfallähnliche Körperschädigungen wie namentlich Muskelzerrungen, Sehnenrisse oder Bandläsionen als selbständige Diagnosen in Betracht fallen könnten, hat der Unfallversicherer bzw. im Streitfall der Richter kraft des Untersuchungsgrundsatzes (vgl. BGE 114 V 305 Erw. 5b, BGE 115 V 142 Erw. 8a) entsprechende Abklärungen vorzunehmen. Damit wird nicht zum vornherein ausgeschlossen, dass

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sich in einem atypischen Fall hinter der vieldeutigen Diagnose Lumbago eventuell eine unfallähnliche Körperschädigung verbirgt, die gegebenenfalls mit dem Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit (BGE 114 V 305 Erw. 5b) nachgewiesen werden könnte (vgl. in diesem Zusammenhang MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., 1963, S. 102). Neben Lumbago diagnostizierte unfallähnliche Körperschädigungen müssen allerdings im Hinblick auf die Leistungspflicht des Unfallversicherers dann unberücksichtigt bleiben, wenn diese gesamthaft lediglich Nebenbefunde darstellen. Denn bei einem klinischen Bild, das sich mit mehreren Diagnosen umschreiben lässt (Syndrome), muss für die Abgrenzung der Leistungspflicht der Unfallversicherung von jener der Krankenversicherung auf die Hauptdiagnose bzw. den Hauptbefund abgestellt werden (vgl. RAMSEIER, Unfallähnliche Körperschädigungen, Therapeutische Umschau, 1985, S. 576 f.).
(Es folgen Ausführungen über die Auslegung des Gesetzes.)
b) In Art. 11 des Vorentwurfes des BSV vom 30. März 1980, welcher Art. 9 Abs. 2 UVV teilweise entspricht, waren unter lit. e "Muskelzerrungen im Bereich der Extremitäten, am Brustkorb vorne und seitlich oder am Becken vorn" aufgeführt. Die UVV-Kommission beschloss in der Folge, dass "Muskelzerrungen im Bereich des Rückens (wie Lumbago, Diskopathie) nicht zu den unfallähnlichen Körperschädigungen zu zählen" seien (Protokoll der Sitzung vom 9./10. Juni 1980). Aus dem Protokoll einer weiteren Sitzung vom 29. April 1981 ergibt sich eindeutig, dass man ausdrücklich die Lumbago und lumbagoähnliche Verletzungen ausschliessen wollte. Im Entwurf des Eidgenössischen Departementes des Innern vom 15. Juli 1981 erhielt die Bestimmung (neu unter lit. e von Art. 9) folgende Fassung: "Muskelzerrungen mit Ausnahme jener im Bereich des Rückens." Die verwaltungsinterne Redaktionskommission ersetzte diesen Wortlaut durch die Formulierung: "Muskelzerrungen, ausgenommen im Rücken" (Fassung vom 15. Januar 1982).
Im Vernehmlassungsverfahren wurde von verschiedener Seite eingewendet, es sei nicht einzusehen, weshalb Muskelzerrungen im

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Bereich des Rückens von der Versicherung ausgeschlossen werden sollten; denn gerade solche Verletzungen würden immer wieder Abgrenzungsschwierigkeiten zwischen der Leistungspflicht der Unfallversicherung und jener der Krankenversicherung verursachen (Auswertung der Vernehmlassungen zum Verordnungsentwurf über die Unfallversicherung vom Juli 1981, Bd. I, Dezember 1981). Das BSV trug diesen Bedenken Rechnung und schlug eine Streichung des Zusatzes "ausgenommen im Bereich des Rückens" vor. Der Streichungsantrag wurde anlässlich der Sitzung der UVV-Kommission vom 29./30. März 1982 diskussionslos gutgeheissen.
c) Ausgangspunkt für die Beantwortung der in Erwägung 4 gestellten Frage bildet der erwähnte Grundsatzbeschluss der Kommission, Muskelzerrungen im Rückenbereich (wie Lumbago, Diskopathie) nicht zu den unfallähnlichen Körperschädigungen zu zählen. Formell kam die Kommission auf diesen Beschluss nie zurück. Das BSV schliesst jedoch in seiner Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus der Streichung des Zusatzes "ausgenommen im Rücken", es sei bezüglich der Muskelzerrungen anlässlich der Sitzung vom 29./30. März 1982 "offenbar" zu einem Meinungsumschwung gekommen. Das Bundesamt folgert aus der Streichung des erwähnten Zusatzes weiter, der Verordnungsgeber habe damit Fälle von Lumbago "im Sinne einer widerlegbaren Vermutung" unter den Begriff der Muskelzerrungen nach Art. 9 Abs. 2 lit. e UVV subsumieren wollen. Damit sei der Leistungsansprecher der von Dr. S. geschilderten Beweisnot enthoben.
Der Auffassung des BSV kann nicht beigepflichtet werden. Der gesetzgeberische Wille, die Lumbago und die Diskushernie nicht in die Liste der unfallähnlichen Körperschädigungen aufzunehmen, ist entstehungsgeschichtlich klar dokumentiert. Überdies bezweckte die ursprüngliche lit. e mit dem Zusatz "mit Ausnahme jener im Bereich des Rückens" nicht nur, sondern "vor allem" den Ausschluss der Lumbago (Protokoll der Sitzung vom 29. April 1981). Damit sollten offensichtlich auch Muskelzerrungen beispielsweise im oberen Teil des Rückens, die nichts mit Lumbago zu tun haben, ausgegrenzt werden. Die Streichung des Zusatzes bedeutet daher nicht die Gleichstellung der Lumbago mit einer Muskelzerrung. Ausserdem ist ein Zusammenhang zwischen der Ausdehnung von Art. 9 Abs. 2 lit. e UVV auf alle Muskelzerrungen und derjenigen Stellungnahme im Vernehmlassungsverfahren, welche in Verbindung mit den Muskelzerrungen das "Verhebetrauma"

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im Sinne einer akuten Lumbago oder einer akuten Torticollis (Genickstarre) nannte, nicht erstellt. Gemäss einer Aktennotiz des Chefarztes Dr. Sch. erfolgte die Streichung des Zusatzes "ausgenommen im Rücken" auf Antrag und Zusicherung der Mediziner hin, bei richtiger medizinischer Betrachtungsweise bestehe keine Gefahr, dass Lumbago als eine unfallähnliche Körperschädigung interpretiert werden könne.
Der Verordnungsgeber, der die unfallähnlichen Körperschädigungen in Art. 9 Abs. 2 UVV präzis und differenziert formulierte, hätte die Lumbago wie auch die Diskushernie bei entsprechender Absicht ausdrücklich in der abschliessenden Liste unfallähnlicher Körperschädigungen erwähnt. Dass er dies unterliess, ist als qualifiziertes Schweigen zu interpretieren (vgl. BGE 114 V 302 Erw. 3d). Die Liste bezweckt nämlich, Fälle im Grenzbereich zwischen Unfall und Krankheit einer besonderen Ordnung zu unterwerfen, um Streitigkeiten darüber, ob ein Unfall oder eine Krankheit vorliegt, zu vermeiden (BGE 114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b). Es war angezeigt, die unfallähnlichen Körperschädigungen anhand der gängigen medizinischen Terminologie möglichst genau zu umschreiben, damit der Gefahr vorgebeugt werden konnte, dass bei der Auslegung der einzelnen Kategorien unfallähnlicher Körperschädigungen nicht doch wieder Abgrenzungsstreitigkeiten entstehen.
d) Nach dem Gesagten bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass Art. 9 Abs. 2 UVV die Lumbago miterfassen würde. Dasselbe gilt für die Diskushernie, wie das Eidg. Versicherungsgericht bereits in RKUV 1988 Nr. U 58 S. 375 im Zusammenhang mit den Bandläsionen nach Art. 9 Abs. 2 lit. g UVV festgestellt hat.
a) (Überprüfung der Verordnungen des Bundesrates)
b) Gemäss Art. 6 Abs. 2 UVG wurde der Bundesrat ermächtigt, Körperschädigungen, die den Folgen eines Unfalles ähnlich sind, in die Versicherung einzubeziehen. Diese Delegationsnorm enthält keine Richtlinien über die Art und Weise, wie von der Ermächtigung Gebrauch zu machen sei. Mit einer solchen Delegation wurde dem Bundesrat ein sehr weiter Spielraum des Ermessens für die Regelung auf Verordnungsstufe und namentlich die Kompetenz eingeräumt, die unfallähnlichen Körperschädigungen unter Beachtung

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der durch das Willkürverbot gesetzten Grenzen in einer abschliessenden Liste zu umschreiben. Aufgrund dieser Befugnis war der Bundesrat frei, im Sinne einer Abgrenzung Körperschädigungen in die Liste aufzunehmen, "die juristisch nicht den Unfällen und medizinisch nicht den Krankheiten" (MAURER, Recht und Praxis der schweizerischen obligatorischen Unfallversicherung, 2. Aufl., 1963, S. 100) zugezählt werden können.
c) In Anbetracht des dem Bundesrat eingeräumten Auswahlermessens (vgl. IMBODEN/RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Bd. I, 6. Aufl., S. 405) sowie des Umstandes, dass der Beachtung medizinischer Erfahrungen bei der Bezeichnung unfallähnlicher Körperschädigungen wesentliche Bedeutung beizumessen war, übt das Eidg. Versicherungsgericht bei der Überprüfung von Art. 9 Abs. 2 UVV auf die Gesetz- und Verfassungsmässigkeit grundsätzlich Zurückhaltung (BGE 114 V 304 Erw. 4c).
Bei der Lumbago handelt es sich um ein klar umschriebenes selbständiges Krankheitsbild. Dieses umfasst entsprechend der vieldeutigen Diagnose verschiedenartige Erkrankungen, welche grundsätzlich in den Leistungsbereich der Krankenversicherung fallen. Das Erscheinungsbild der Lumbago unterscheidet sich in den meisten Fällen unzweideutig von jenem unfallähnlicher Körperschädigungen. Dies gilt insbesondere auch für die klar diagnostizierbare Diskushernie. Damit steht der Ausschluss der Lumbago und der Diskushernie aus der Liste gemäss Art. 9 Abs. 2 UVV deren Zweck nicht entgegen, die oft schwierige Abgrenzung zwischen Unfall und Krankheit zugunsten des Unfallversicherten aus Beweis- und Praktikabilitätsgründen zu vermeiden (BGE 114 V 301 Erw. 3c; RKUV 1988 Nr. U 57 S. 373 Erw. 4b). Eine unbegründete rechtliche Unterscheidung ist darin angesichts der medizinischen Fakten nicht zu erblicken. Der Ausschluss der Lumbago und der Diskushernie aus der Liste der unfallähnlichen Körperschädigungen erweist sich somit als gesetz- und verfassungsmässig.
7. Beim Beschwerdeführer wurde von Dr. U. im Arztzeugnis vom 22. Juli 1987 klar eine akute Thoraco-Lumbalgie nach Heben einer schweren Last diagnostiziert. Sie kann nach dem Gesagten weder unter die Muskelzerrungen gemäss Art. 9 Abs. 2 lit. e UVV noch sonst unter eine der in dieser Liste enthaltenen unfallähnlichen Körperschädigungen subsumiert werden. Sodann bestehen aufgrund der Akten, namentlich auch der nachträglich aufgelegten Röntgenbilder des Dr. U. (vom 8. Februar 1989), keine Anhaltspunkte dafür, dass neben der Thoraco-Lumbalgie als selbständiger

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Befund z.B. noch eine Muskelzerrung vorliegen könnte und deswegen zusätzliche Abklärungen vorzunehmen wären. Die vom Beschwerdeführer aufgeworfene Frage, ob ein krankhafter Vorzustand bestand oder nicht, spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle. Denn auch bei einer auf Krankheits- oder Abnützungserscheinungen basierenden Beeinträchtigung kann eine plötzliche schädigende Einwirkung auftreten, welche allenfalls eine unfallähnliche Körperschädigung im Sinne von Art. 9 Abs. 2 UVV verursacht (BGE 114 V 301 Erw. 3c). Ergänzende Abklärungen betreffend das Fehlen eines krankhaften Vorzustandes, wie sie vom Beschwerdeführer beantragt werden, erübrigen sich somit ebenfalls.
Eine Leistungspflicht der ELVIA im Zusammenhang mit der vom Beschwerdeführer erlittenen Thoraco-Lumbalgie ist zu verneinen. Der Einspracheentscheid vom 12. Oktober 1987 und im Ergebnis auch der angefochtene vorinstanzliche Entscheid bestehen zu Recht.