BGE 118 V 150
 
19. Urteil vom 11. August 1992 i.S. Bundesamt für Sozialversicherung gegen Ausgleichskasse des Kantons Bern und Verwaltungsgericht des Kantons Bern betreffend Anspruch auf Ergänzungsleistungen i.S. B.
 
Regeste
Art. 17a ELV; Art. 3 Abs. 1 lit. f und Abs. 6 ELG.
- Die in Art. 17a ELV und lit. a Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der ELV vom 12. Juni 1989 getroffene Regelung ist gesetzes- und verfassungsmässig (Erw. 3c/cc).
- Die bisher geltende Rechtsprechung zu Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG, wonach eine Amortisation von anrechenbarem Verzichtsvermögen unzulässig ist, kann im zeitlichen und sachlichen Geltungsbereich von Art. 17a ELV keine Anwendung finden (Erw. 3c/bb).
 
Sachverhalt


BGE 118 V 150 (151):

A.- Der 1920 geborene, geschiedene Gottfried B. reichte erstmals im Jahre 1989 eine Anmeldung zum Bezug von Ergänzungsleistungen zur AHV/IV ein. Die Ausgleichskasse des Kantons Bern ermittelte einen Einnahmenüberschuss von Fr. 11'099.--, wobei sie eine vom Versicherten im Dezember 1988 an die Kinder ausbezahlte Summe von Fr. 80'000.-- als Vermögensverzicht anrechnete. Mit Verfügung vom 28. April 1989 verneinte die Ausgleichskasse einen EL-Anspruch für das Jahr 1989.
Am 15. Januar 1990 trat der Versicherte ins Alters- und Pflegeheim L. ein. Im November 1990 stellte seine Tochter, Ruth B., ein Gesuch um Neufestsetzung der Ergänzungsleistungen rückwirkend ab 1. Januar 1990. Die Ausgleichskasse ermittelte einen Ausgabenüberschuss von Fr. 2'607.-- und Fr. 5'918.-- für die Jahre 1990 und 1991, wobei sie wiederum die im Dezember 1988 an die Kinder ausbezahlten Fr. 80'000.-- mitberücksichtigte. Mit zwei Verfügungen vom 17. Januar 1991 wurde Ruth B. eröffnet, dass ein monatlicher Anspruch auf Ergänzungsleistung von Fr. 218.-- ab 1. Januar 1990 und von Fr. 494.-- ab 1. Januar 1991 bestehe.
B.- Ruth B. erhob namens ihres Vaters Beschwerde. Sie beanstandete ausschliesslich die Anrechnung der Summe von Fr. 80'000.--. Diese hätten die Kinder vor zwei Jahren erhalten und sie stehe dem Vater nun nicht mehr zur Verfügung.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die Beschwerde mit Entscheid vom 15. August 1991 ab.


BGE 118 V 150 (152):

C.- Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt die Aufhebung des Beschwerdeentscheides sowie die Abänderung der angefochtenen Verfügungen im Sinne einer Verminderung des anrechenbaren Verzichtsvermögens.
Während sich Gottfried B. nicht vernehmen lässt, schliesst die Ausgleichskasse auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
 
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
Der kantonale Richter führt des weitern richtig aus, dass Einkünfte und Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist, nach Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG (in der ab 1. Januar 1987 geltenden und auf den vorliegenden Fall anwendbaren Fassung) bei der Berechnung der Ergänzungsleistung anzurechnen sind.
b) Einziger Streitpunkt im vorinstanzlichen Verfahren war die Anrechnung des Verzichtsvermögens von Fr. 80'000.-- und eines daherigen angemessenen Ertrages.
Aus den Akten ergibt sich, wie Verwaltung und Vorinstanz richtig erkannt haben, dass der Vater ohne rechtliche Verpflichtung und ohne adäquate Gegenleistung seinen Kindern im Jahre 1988 den Betrag von Fr. 80'000.-- auszahlte. Darin liegt ein Verzicht auf Vermögenswerte im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG (BGE 115 V 353 Erw. 5c mit Hinweisen), der bei der Ermittlung des anrechenbaren Einkommens zu berücksichtigen ist. Insoweit hat die Vorinstanz die Beschwerde zu Recht abgewiesen.
Diese im Rahmen der Änderung der ELV vom 12. Juni 1989 (in Kraft seit 1. Januar 1990) erlassenen Bestimmungen lauten wie folgt:


BGE 118 V 150 (153):

Der anzurechnende Betrag von Vermögenswerten, auf die verzichtet worden ist (Art. 3 Abs. 1 Bst. f ELG), wird jährlich um Fr. 10'000.-- vermindert (Abs. 1).
Der Wert des Vermögens im Zeitpunkt des Verzichts ist unverändert auf den 1. Januar des Jahres, das auf den Verzicht folgt, zu übertragen und dann jeweils nach einem Jahr zu vermindern (Abs. 2).
Wortlaut und Entstehungsgeschichte (vgl. ZAK 1989 S. 432) geben den klaren Willen des Verordnungsgebers wieder, dass diese Bestimmungen uneingeschränkt, d.h. unabhängig von Beweggrund und Höhe des Verzichtsvermögens sowie des tatsächlich noch vorhandenen Vermögens anwendbar sein sollen. Da übergangsrechtlich auch Vermögenswerte, auf die vor dem 1. Januar 1990 verzichtet worden ist, ab diesem Zeitpunkt der jährlichen Verminderung unterliegen (lit. a der Übergangsbestimmungen zur Änderung der ELV vom 12. Juni 1989), haben Verwaltung und Vorinstanz die Höhe des anrechenbaren Verzichtsvermögens im vorliegenden Fall offensichtlich abweichend von Art. 17a ELV festgesetzt.
3. a) Die Vorinstanz verneint die Anwendbarkeit von Art. 17a Abs. 1 und 2 ELV wie auch von lit. a Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der ELV vom 12. Juni 1989 im vorliegenden Fall mit der Begründung, diese Bestimmung sei insofern verfassungs- und gesetzwidrig, als einerseits die Amortisation von Verzichtsvermögen vor dem 1. Januar 1990 ausgeschlossen und anderseits ab 1. Januar 1990 in allen Fällen eine betragsmässig feste Amortisation von Fr. 10'000.-- jährlich vorgeschrieben werde. Eine Amortisation von Verzichtsvermögen sei schon dann zulässig, wenn angenommen werden könne, dass ein Versicherter, hätte er das Verzichtsvermögen noch, dieses mittlerweile zur Deckung seines Lebensunterhaltes herangezogen hätte; andernfalls sei sie erst dann zulässig, wenn die vorhandenen Vermögenswerte den hypothetischen Verzehr des Verzichtsvermögens sowie den entsprechenden Ertrag nicht mehr zu decken vermögen. Eine andere Lösung würde eine nicht zu rechtfertigende Schlechter- oder Besserstellung des Verzichtenden gegenüber anderen EL-Ansprechern bedeuten.
Auch die Ausgleichskasse lehnt aus Gründen der Gleichbehandlung der Versicherten im vorliegenden Fall die Anwendung der fraglichen Bestimmungen ab, hält jedoch dafür, dass diese Bestimmung dann anwendbar sei, sobald das tatsächlich noch vorhandene Vermögen unter den Vermögensfreibetrag gesunken ist.
Das BSV macht in seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde demgegenüber geltend, dass gemäss geltender Rechtsprechung des Eidg.

BGE 118 V 150 (154):

Versicherungsgerichts eine hypothetische Verminderung des Verzichtsvermögens für die Zeit nach der Entäusserung nicht zulässig sei. Dies habe zur Folge, dass die Vermögenswerte, auf die verzichtet worden ist, bis zum Tod des Bezügers unverändert in der EL-Berechnung stehenbleiben und somit nicht, wie dies bei einem Nichtverzicht möglich ist, vermindert werden können. Um die mit dieser Schlechterstellung verbundenen Härten aufzufangen, habe der Bundesrat, gestützt auf Art. 3 Abs. 6 ELG, in Art. 17a ELV die jährliche Amortisation von Verzichtsvermögen vorgeschrieben (vgl. auch ZAK 1989 S. 432). Hinsichtlich der Höhe der Amortisation sei aus Gründen der Praktikabilität und der Rechtssicherheit ein einheitlicher Betrag in allen Fällen einem variablen in Einzelfällen vorzuziehen. Die übergangsrechtliche Regelung, wonach Vermögenswerte, auf die vor Inkrafttreten von Art. 17a verzichtet worden ist, erst ab 1. Januar 1990 der jährlichen Verminderung unterliegen sollen (lit. a Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung vom 12. Juni 1989), bezwecke schliesslich, die finanziellen Auswirkungen und nachträgliche Anspruchsabklärungen in Grenzen zu halten.
b) Im Streit liegt somit die Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit von Art. 17a Abs. 1 und 2 ELV sowie lit. a Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der ELV vom 12. Juni 1989.
(Es folgen Ausführungen über die Überprüfung der Verordnungen des Bundesrates.)
c/aa) Art. 17a ELV stützt sich auf Art. 3 Abs. 6 ELG. Gemäss dieser Bestimmung regelt der Bundesrat u.a. die Bewertung des anrechenbaren Einkommens und Vermögens. Aus den Materialien ergibt sich, dass durch Art. 3 Abs. 6 ELG, den das Parlament in der vorgeschlagenen Fassung diskussionslos übernommen hat, dem Bundesrat eine umfassende Kompetenz zur Regelung der Fragen betreffend die Anspruchsberechtigung eingeräumt werden sollte, soweit nicht die Kantone ausdrücklich durch das Gesetz für zuständig erklärt würden. Damit sollte insbesondere ermöglicht werden, durch eine differenzierte Ordnung den verschiedenen Verhältnissen Rechnung zu tragen. Diese Kompetenz umschliesst zweifellos (BBl 1970 I 148) auch die Regelung der Amortisation des gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG anrechenbaren Verzichtsvermögens, weshalb sich Art. 17a ELV ohne weiteres im Rahmen der formellgesetzlichen Delegationsnorm hält.
bb) Was die sachlich-inhaltliche Gesetzmässigkeit anbelangt, hat das Eidg. Versicherungsgericht zum alten, bis 31. Dezember 1986 gültigen Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG, der die Anrechenbarkeit von

BGE 118 V 150 (155):

Verzichtsvermögen nur unter der Voraussetzung vorsah, dass der Verzicht im Hinblick auf die Erwirkung von Ergänzungsleistungen erfolgte, in ständiger Rechtsprechung befunden, dass eine Amortisation von Verzichtsvermögen im Sinne von Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG nicht zulässig sei (BGE 113 V 195 Erw. 5c mit Hinweisen). Begründet wurde dies damit, dass es letztlich auf eine Anerkennung der durch die Entäusserung geschaffenen Sachlage hinausliefe, "résultat que veut précisément éviter l'art. 3 al. 1er lit. f LPC" (nicht veröffentlichte Erw. 4e von EVGE 1968 S. 296). Nach dieser Rechtsprechung blieb somit dem Versicherten, der auf Vermögen verzichtete, im Gegensatz zu jenem Versicherten, der sein Vermögen behielt, auf alle Zeit verschlossen, das ihm weiterhin zu- und angerechnete Verzichtsvermögen abzutragen. Dies konnte, wie das BSV bemerkte (vgl. ZAK 1989 S. 432), zu grossen Härten für die Betroffenen führen. Zu beachten ist ferner, dass ein übermässiger Vermögensverzehr, soweit er der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient, in der Regel nicht unter Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG fällt (BGE 115 V 354 Erw. 5c mit Hinweis) und folglich ergänzungsleistungsrechtlich berücksichtigt wird.
Wenn der Verordnungsgeber aus diesen und weiteren Gründen, gestützt auf Art. 3 Abs. 6 ELG, sich entschloss, durch Einfügung des Art. 17a in die ELV überhaupt und erstmals eine Grundlage für die Amortisation von Verzichtsvermögen zu schaffen, so liegt darin kein Widerspruch zur Bestimmung über die Anrechenbarkeit solcher Einkünfte gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG; denn der Amortisationsgedanke wahrt den gesetzlichen Grundsatz der Anrechenbarkeit, ja setzt ihn gleichsam voraus. Folglich kann die erwähnte Rechtsprechung im zeitlichen und sachlichen Geltungsbereich des Art. 17a ELV von vornherein keine Anwendung mehr finden.
cc) Mit Bezug auf die Modalitäten (Zeitpunkt und Höhe der Amortisationsraten) kommt dem Bundesrat unter den Gesichtspunkten von Gesetzes- und Verfassungsmässigkeit (Rechtsgleichheit, Willkür) zunächst ein weiter Spielraum der Gestaltungsfreiheit zu.
Die vom Bundesrat getroffene Lösung schreibt ohne Rücksicht auf die übrige Vermögenslage eine jährliche pauschale Amortisation von Fr. 10'000.-- vor. Es ist klar, dass auch andere, allenfalls differenziertere Regelungen denkbar wären. Indessen ist nicht ersichtlich, inwiefern diese einfache und geradlinige Lösung rechtsungleich oder willkürlich sein oder den Grundsatz der Anrechenbarkeit von Verzichtsvermögen nach Art. 3 Abs. 1 lit. f ELG unterlaufen sollte.


BGE 118 V 150 (156):

Die Auffassung von kantonalem Gericht und Ausgleichskasse, zuerst sei das effektiv vorhandene Vermögen aufzubrauchen, bevor eine Amortisation des fiktiven Verzichtsvermögens vorzunehmen sei, ist zu sehr auf die bisherige Rechtsprechung ausgerichtet. Der Wille des Verordnungsgebers in Art. 17a ELV, Verzichtsvermögen vermindern zu lassen, unabhängig davon, ob effektives Vermögen vorhanden ist, trägt dem Gedanken der Gleichbehandlung aller Versicherten - jener, die verzichtet haben, und jener, die nicht verzichtet haben - Rechnung, indem Verzichts- wie effektives Vermögen grundsätzlich verringert werden kann. Die weitere Auffassung von Vorinstanz und Ausgleichskasse, im Falle des Verzichts bestehe das Vermögen aus zwei klar abgetrennten Teilen - nämlich dem effektiv vorhandenen und dem Verzichtsvermögen - und das effektiv vorhandene sei insofern anders als das Verzichtsvermögen zu behandeln, als es zuerst grundsätzlich aufzubrauchen sei, bevor an eine Amortisation des Verzichtsvermögens gedacht werden könne, entbehrt jeder Grundlage. Im weiteren wird damit dem Versicherten zugemutet, seinen durch allfällige Ergänzungsleistungen nicht gedeckten Lebensbedarf aus dem effektiven Vermögen zu bestreiten, bis der Freibetrag erreicht oder gar alles aufgebraucht ist, um dann eine Durststrecke zu durchlaufen, bis das fiktive Verzichtsvermögen hypothetisch abgetragen ist. Diese Zeitspanne des Darbens kann Jahre dauern, während welcher die Verwaltung dem Versicherten, der um Ergänzungsleistungen nachsucht, entgegenhält, er könne ja fiktives Verzichtsvermögen verzehren. Gerade diese Folge will jedoch der neue Art. 17a ELV mildern, was unter keinem Gesichtspunkt zu beanstanden ist.
Was nun das Mass der Amortisation anbelangt, so sind ebenfalls verschiedene Regelungen denkbar. Naheliegend erscheint die vom Bundesrat getroffene Lösung einer pauschalen Amortisation. Ebenso in Frage käme eine Lösung, wonach das Verzichtsvermögen jährlich um den auf dem ganzen Vermögen errechneten prozentualen zumutbaren Vermögensverzehr verringert würde. Es kann nun aber im Rahmen der vorfrageweisen Normenkontrolle nicht darum gehen zu untersuchen, welche von diesen und anderen denkbaren Lösungen die zweckmässigste ist. Ausschlaggebend ist allein, dass die vom Bundesrat getroffene Regelung, wie dargelegt, weder eine willkürliche und rechtsungleiche noch dem gesetzlichen Grundsatz der Anrechenbarkeit zuwiderlaufende Lösung darstellt.
Die vom Bundesrat getroffene Übergangsregelung, wonach Vermögenswerte, auf die vor dem Inkrafttreten der neuen Bestimmung

BGE 118 V 150 (157):

verzichtet worden ist, erst ab dem 1. Januar 1990 zu amortisieren sind (lit. a Abs. 1 der Übergangsbestimmungen zur Änderung der ELV vom 12. Juni 1989), ist schliesslich ebenfalls nicht zu beanstanden.