120 V 150
Urteilskopf
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21. Auszug aus dem Urteil vom 24. März 1994 i.S. S. gegen Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie
Regeste
Art. 139a in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 38 in Verbindung mit Art. 135 OG, Art. 132 in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 OG, Art. 41 IVG, Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 50 EMRK. Das Eidg. Versicherungsgericht hatte in einem IV-rechtlichen Revisionsverfahren den Anspruch einer bisher an einer ganzen Invalidenrente Berechtigten nach innerstaatlichem Recht mit der Ausfällung seines Urteils endgültig, d. h. formell und materiell rechtskräftig zu deren Ungunsten beurteilt. Der hierauf angerufene Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erachtete die Beweisbeibringung und -würdigung, die dem Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts zugrunde lag, als geschlechtsdiskriminierend und damit konventionswidrig, weshalb er die Individualbeschwerde teilweise guthiess.
- Welche Auswirkungen hat ein solcher völkerrechtlicher Entscheid auf das landesrechtlich rechtskräftige Urteil? (Erw. 2).
- Wie gestaltet sich (landes- und völkerrechtlich betrachtet) der im Nachgang an den Gerichtshofentscheid angehobene Revisionsprozess im Sinne von Art. 139a OG? (Erw. 3).
A.- a) Durch Verfügung vom 25. März 1980 war S. (geboren 1948) rückwirkend ab 1. Mai 1978 in den Genuss einer ganzen Invalidenrente gekommen. Nachdem diese Rente in zwei Revisionsverfahren am 10. Juni 1981 und 23. August 1984 bestätigt worden war, beauftragte die damals zuständige kantonale Invalidenversicherungs-Kommission (IVK) in einem erneuten Revisionsverfahren die Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) mit einer stationären Abklärung des Gesundheitszustandes der Versicherten. Aufgrund des MEDAS-Gutachtens vom 14. Januar 1986, welchem der Konsiliarbericht des Dr. med. B., Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 24. Dezember 1985 beilag, gelangte die IVK zum Schluss, S. sei in ihrer Eigenschaft als Hausfrau, welche Tätigkeit sie seit der Geburt ihres Sohnes am 4. Mai 1984 ausübe, höchstens noch zu 30% eingeschränkt. Demgemäss hob die Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie (vormals Ausgleichskasse der Schweizerischen Maschinen- und Metallindustrie) die ganze Invalidenrente mit Verfügung vom 21. März 1986 auf Ende April 1986 auf.
b) Hiegegen liess S. Beschwerde an die Rekurskommission X für die AHV/IV/EO führen mit dem Rechtsbegehren, es sei ihr, unter Aufhebung der
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angefochtenen Verfügung, weiterhin eine ganze, eventuell eine halbe Invalidenrente auszurichten. Mit Entscheid vom 8. Mai 1987, zugestellt am 6. August 1987, wies die kantonale Rekurskommission die Beschwerde ab.c) Am 18. August 1987 wandte sich S. selber mit einem Akteneditionsbegehren an das Eidg. Versicherungsgericht. ... Der Antrag lautete auf Zusprechung einer vollen Invalidenrente, wobei in prozessualer Hinsicht das vollumfängliche Akteneinsichtsrecht verlangt wurde. Die Durchführungsstelle schloss auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ebenso das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV).
Am 23. November 1987 gewährte das Eidg. Versicherungsgericht S. Akteneinsicht durch Auflegung ihres Dossiers bei der kantonalen Rekurskommission. Die Versicherte übte ihr Recht am 30. November 1987 aus. Danach schaltete sich Fürsprecher R. ins Verfahren ein. Er ersuchte um Fristerstreckung für die Einreichung einer Beschwerdeergänzung nach vollzogener Akteneinsicht. Am 8. Januar 1988 teilte S. dem Gericht mit, sie werde, nachdem sie Fürsprecher R. die Vollmacht entzogen habe, die Ergänzung selber einreichen. Dem kam sie am 11. Januar 1988 nach. Nach Einholung einer zusätzlichen Stellungnahme der Verwaltung ging das Eidg. Versicherungsgericht zur Beurteilung der Streitsache über. Im Rahmen der Prüfung der veränderten Verhältnisse im massgebenden Vergleichszeitraum (25. März 1980 bis 21. März 1986) kam es zum Schluss, die Versicherte sei, anders als bei der Zusprechung der ganzen Rente, invalidenversicherungsrechtlich als Hausfrau zu qualifizieren, ihr Invaliditätsgrad somit nach der spezifischen Methode zu ermitteln. Das Gericht liess sich hiebei vom Umstand leiten, dass die Versicherte am 4. Mai 1984 ein Kind geboren hatte, welches der vollständigen Pflege und Erziehung (durch die Mutter) bedürfe. Damit erübrige sich eine Prüfung der Erwerbsunfähigkeit im angestammten Beruf als Büroangestellte. Unter pulmologischen Aspekten (keine Reaktivierung der 1975 erlittenen Lungentuberkulose) bezeichnete das Gericht die Versicherte als uneingeschränkt arbeitsfähig, wobei es vorgängig die Kritik an der Vollständigkeit der medizinisch-somatischen Unterlagen zurückgewiesen hatte. ... Das Eidg. Versicherungsgericht hiess die Beschwerde dispositivmässig teilweise gut, hob den Entscheid der kantonalen Rekurskommission und die angefochtene Revisionsverfügung auf und stellte fest, dass der Invaliditätsgrad ab 1. Mai 1986 einen Drittel betrage. Die Sache wurde an die Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie
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zurückgewiesen, damit diese, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen (Härtefall), neu verfüge (Urteil vom 21. Juni 1988).d) Mit Verfügung vom 17. Juli 1989 lehnte die Ausgleichskasse mangels Vorliegens der wirtschaftlichen Voraussetzungen die Zusprechung einer Härtefallrente ab. ...
e) Die Versicherte rief, nunmehr vertreten durch Rechtsanwalt M., mit - von der Europäischen Kommission für Menschenrechte als zulässig erklärter - Individualbeschwerde den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (nachfolgend "Gerichtshof") an. Dieser fällte am 24. Juni 1993 folgendes Urteil:
"1. Dit, à l'unanimité, que l'article 6 § 1 s'appliquait en l'espèce;
2. Rejette, à l'unanimité, les exceptions préliminaires du Gouvernement;
3. Dit, à l'unanimité, qu'elle n'a pas compétence pour connaître du grief
relatif à l'indépendance des experts médicaux;
4. Dit, par huit voix contre une, qu'il n'y a pas eu violation de
l'article 6 § 1;
5. Dit, par huit voix contre une, qu'il y a eu violation de l'article 14
combiné avec l'article 6 § 1;
6. Dit, à l'unanimité, que le présent arrêt constitue par lui-même une
satisfaction équitable suffisante quant au préjudice moral allégué;
7. Dit en l'état, par huit voix contre une, que la Confédération doit
verser à la requérante, dans les trois mois, 7500 (sept mille cinq cents)
francs suisses pour frais et dépens;
8. Dit, par huit voix contre une, que la question de l'application de
l'article 50 ne se trouve pas en état pour le dommage matériel;
en conséquence,
a) la réserve sur ce point;
b) invite le Gouvernement et la requérante à lui adresser par écrit,
dans les six mois, leurs observations sur ladite question et notamment à
lui donner connaissance de tout accord auquel ils pourraient aboutir;
c) réserve la procédure ultérieure et délègue au président le soin de
la fixer au besoin."
B.- Wiederum vertreten durch Rechtsanwalt M. lässt S. am 1. November 1993 ein Revisionsgesuch einreichen mit folgenden Anträgen:
1. Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988.
2. Feststellung, dass der Invaliditätsgrad ab 1. Mai 1986 weiterhin 100%,
eventualiter 60% betrage.
3. Zusprechung einer ganzen, eventualiter einer halben Invalidenrente ab
1. Mai 1986.
...
Zum Revisionsgesuch holte das Eidg. Versicherungsgericht Stellungnahmen der - seit dem 1. Juni 1992 neu zuständigen - Kantonalen Invalidenversicherungsstelle und des Bundesamtes für Justiz ein, welche dem Rechtsvertreter der Versicherten am 3. März 1994 zu Kenntnis- und allfälliger Stellungnahme zugestellt wurden. Mit Replik vom 16. März 1994 hielt Rechtsanwalt M. die Revisionsbegehren vollumfänglich aufrecht. Ferner wurde die Ausgleichskasse eingeladen, sich zu den prozessrechtlichen Aspekten des Falls zu äussern.
Auf die Rechtsschriften, insbesondere die Begründung der einzelnen Revisionsanträge, wird, soweit erforderlich, in den Erwägungen eingegangen.
Aus den Erwägungen:
2. a) Nach Art. 135 in Verbindung mit Art. 38 OG werden die Entscheidungen des Eidg. Versicherungsgerichts mit der Ausfällung formell und materiell rechtskräftig (POUDRET, Commentaire de la loi fédérale d'organisation judiciaire, Bern 1990, N. 2 ff. zu Art. 38 OG). Dabei bedeutet die materielle Rechtskraft, dass die (letztinstanzlich) definitiv beurteilte Sache nicht wiederaufgenommen und zum Gegenstand eines neuen Verfahrens gemacht werden kann, und zwar insbesondere nicht durch das höchste Gericht selber (POUDRET, a.a.O., N. 4 zu Art. 38 OG).
Der gesetzlich vorgesehene prozessuale Weg zur Überwindung dieser negativen Wirkung eines formell und materiell rechtskräftigen Urteils (ne bis in idem; vgl. HABSCHEID, Schweizerisches Zivilprozess- und Gerichtsorganisationsrecht, 2. Aufl. Basel und Frankfurt a.M. 1990, S. 277) ist das ausserordentliche Rechtsmittel der Revision, wie es für die Bundesrechtspflege in Art. 136 ff. OG normiert ist.
b) Aufgrund der Rechtslage, wie sie vor Inkrafttreten des Art. 139a OG am 15. Februar 1992 bestand, bildete ein Urteil des Gerichtshofes, welches eine gegen einen letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheid gerichtete Individualbeschwerde aus der Feststellung einer begangenen Konventionsverletzung heraus guthiess, keinen Revisionsgrund im Sinne von Art. 136 ff. OG (VILLIGER, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention [EMRK], Zürich 1993, S. 157, besonders Fn. 36 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung). Da aber die Schweiz mit der Ratifizierung der EMRK am 28. November 1974 (AS 1974 2151 ff.) die Art. 53 EMRK ) und, falls der Gerichtshof eine Konventionsverletzung feststellt, Wiedergutmachung zu leisten, stellte sich die Frage, wie dieser völkerrechtlichen Verpflichtung nachzukommen sei (Botschaft des Bundesrates vom 29. Mai 1985 betreffend die Änderung des Bundesgesetzes über die Organisation der Bundesrechtspflege, Separatausgabe, S. 125 unten f.; POLAKIEWICZ, Die Verpflichtungen der Staaten aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Berlin, Heidelberg usw. 1993, S. 121 f.). Zu diesem Zweck wurde Art. 139a OG in das Gesetz aufgenommen (vgl. auch Art. 66 Abs. 1 lit. b VwVG; Art. 229 Ziff. 4 BStP), welcher unter der Marginalie "Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention" lautet:
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Verpflichtung eingegangen war, sich nach den Entscheidungen eines EMRK-Organs zu richten (Art. 32 Ziff. 4 und "1. Die Revision eines Entscheides des Bundesgerichts oder einer Vorinstanz ist zulässig, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (...) eine Individualbeschwerde wegen Verletzung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) und deren Protokolle gutgeheissen hat und eine Wiedergutmachung nur durch Revision möglich ist.
2. Stellt das Bundesgericht fest, dass die Revision geboten, aber eine Vorinstanz zuständig ist, so überweist es ihr die Sache zur Durchführung des Revisionsverfahrens.
3. Die kantonale Vorinstanz hat auch dann auf das Revisionsgesuch einzutreten, wenn das kantonale Recht diesen Revisionsgrund nicht vorsieht."
Dazu hat der Bundesrat in der Botschaft (a.a.O., S. 126) ausgeführt:
"Nun kann bei der Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung eine geldwerte Entschädigung wirkungslos, möglicherweise sogar unangebracht sein. Dies wäre hauptsächlich der Fall, wenn ein kantonales Strafurteil, das rechtskräftig geworden ist und dessen Begründetheit nicht angezweifelt wird, mit einem Verfahrensmangel behaftet ist (so wenn beispielsweise das Gericht nicht rechtsmässig besetzt war). Verschiedene Unterzeichnerstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention haben die Erfahrung gemacht, dass in solchen Fällen intern ein einziges befriedigendes Mittel zur Wiedergutmachung einer Konventionsverletzung gegeben ist, nämlich die Wiederaufnahme des Verfahrens.
In diesem Sinne schlägt der Bundesrat vor, die Verfahrensgesetze des Bundes so zu ändern, dass in solchen Fällen ein abgeschlossenes Verfahren wieder aufgenommen werden kann (...)."
c) Die Gesuchstellerin hält die Voraussetzungen des Art. 139a OG vorliegendenfalls für erfüllt: Der Gerichtshof habe ihre
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Individualbeschwerde mit Urteil vom 24. Juni 1993 gutgeheissen und festgestellt, dass das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 21. Juni 1988 eine Konventionsverletzung beinhalte. Die durch dieses - rechtskräftig gewordene - Urteil angeordnete Überprüfung der finanziellen Verhältnisse seitens der Verwaltung habe ergeben, dass kein wirtschaftlicher Härtefall vorliege (Verfügung vom 17. Juli 1989), so dass ihr die vorher ausgerichtete Invalidenrente ganz und endgültig entzogen worden sei. Die Rechtskraftwirkung dieser Entscheide könne nur auf dem Weg der Revision überwunden werden.d) Die Auffassung der Gesuchstellerin ist richtig. Im Hinblick auf die Frage der Anwendung des Art. 50 EMRK, welcher dem Gerichtshof für den Fall der unvollkommenen Wiedergutmachung nach innerstaatlichem Recht die Kompetenz zur gerechten Entschädigung nach billigem Ermessen zugesteht (FROWEIN/PEUKERT, EMRK-Kommentar, Kehl, Strassburg, Arlington 1985, N. 3 f. zu Art. 50), hatte dieser in bezug auf den hier allein zur Diskussion stehenden materiellen Schaden den Hinweis der Regierung aufgenommen, wonach es das schweizerische Recht seit dem 15. Februar 1992 dem Betroffenen einer vom Gerichtshof festgestellten Konventionsverletzung erlaube, die Wiederaufnahme des streitigen Verfahrens zu beantragen: "Il estime donc que la question (der Entschädigung durch den Gerichtshof selbst) ne se trouve pas en état." Dem schloss sich der Gerichtshof an: "Tel est aussi l'avis de la Court. Partant, il y a lieu de réserver ladite question et de fixer la procédure ultérieure, en tenant compte de l'éventualité d'un accord entre l'état défendeur et la requérante (article 54 §§ 1 et 4 du règlement)." Der Gerichtshof hat folglich die Voraussetzungen für ein Vorgehen nach Art. 50 EMRK zumindest vorläufig verneint, indem er im Sinne des Standpunktes der Regierung annahm, die festgestellte Konventionsverletzung von Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK (Geschlechtsdiskriminierung bei der Beibringung der Beweise) könne auf dem Weg der Verfahrenswiederaufnahme nach innerstaatlichem Recht Wiedergutmachung finden.
3. a) Aus dem Gesagten ergibt sich, dass der Revisionsgrund von Art. 139a OG vorliegt (vgl. auch POUDRET, a.a.O., N. 2.3 zu Art. 139a). Es stellt sich demnach die Frage, inwieweit der inkriminierte Entscheid zur Wiedergutmachung aufgehoben werden muss; denn das Verfahren ist nur so weit wieder aufzurollen, als der Revisionsgrund reicht (HABSCHEID, a.a.O., S. 497; BEERLI-BONORAND, Die ausserordentlichen Rechtsmittel in der Verwaltungsrechtspflege des Bundes und der Kantone, Diss. Zürich 1985, S. 163 ff.). Das zu revidierende, formell und materiell rechtskräftige Urteil
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des Eidg. Versicherungsgerichts vom 21. Juni 1988 griff verändernd im Sinne von Art. 41 IVG in ein Dauerschuldverhältnis zwischen der Invalidenversicherung und der Gesuchstellerin ein. Grundlage dieser Änderung bildete die Tatsache, dass die Gesuchstellerin nicht mehr wie früher als Erwerbstätige, sondern als Hausfrau beurteilt wurde. Die Beweiserhebung und -würdigung wiederum, worauf diese Beurteilung fusste, hielt der Gerichtshof für geschlechtsdiskriminierend und also konventionswidrig. Damit ist der beanstandeten Beurteilung der Boden entzogen. Soll der Weg zu einer materiellen Neubeurteilung des Rechtsverhältnisses frei werden, muss deshalb das Urteil vom 21. Juni 1988, wie mit dem ersten Revisionsantrag anbegehrt, als Ganzes aufgehoben werden (Art. 144 Abs. 1 OG).b) Es fragt sich sodann, welche Instanz zur damit ermöglichten und gebotenen materiellen Neubeurteilung zuständig ist. Das kann vorliegend nur das Eidg. Versicherungsgericht sein; denn mit der revisionsweisen Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988 steht die gegen den kantonalen Rekursentscheid erhobene Verwaltungsgerichtsbeschwerde der Gesuchstellerin wieder unbehandelt im Raum. Über diese Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Eidg. Versicherungsgericht neu zu urteilen. Der wiedergegebene Art. 139a Abs. 2 OG (vgl. Erw. 2a) ändert daran nichts, weil man bei der gegebenen prozessualen Lage nicht sagen kann, es müsse wegen erfolgter revisionsweiser Beseitigung des letztinstanzlichen Urteils gleichzeitig auch das Verfahren der Vorinstanz neu aufgerollt werden (Botschaft, a.a.O., S. 157 unten f.; vgl. auch POUDRET, a.a.O., N. 3 zu Art. 139a). Art. 139a Abs. 2 OG ist daher keine Vorschrift über die Zuständigkeit zur materiellen Neubeurteilung nach gutgeheissenem Revisionsgesuch, vielmehr eine Zuständigkeitsvorschrift hinsichtlich der Durchführung des nach Abs. 1 gebotenen Revisionsverfahrens selber. An dieser Betrachtungsweise ändert nichts, dass die Ausgleichskasse mit unangefochten gebliebener Verfügung vom 17. Juli 1989 den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente im Härtefall, zufolge Fehlens der hiefür verlangten wirtschaftlichen Voraussetzungen, formell rechtskräftig verneinte. Diese Verfügung verliert mit der revisionsweisen Aufhebung des sie tragenden Rückweisungsurteils vom 21. Juni 1988 ihre Rechtsbeständigkeit (vgl. BGE 109 V 234).
c) Da nunmehr feststeht, dass das Eidg. Versicherungsgericht - nach Aufhebung des Urteils vom 21. Juni 1988 zufolge bejahten Revisionsgrundes - selber zur materiellen Neubeurteilung zuständig ist, stellt sich die Frage, gemäss welchen Regeln diese zu erfolgen hat. Wegleitend hiefür sind
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einerseits die landesrechtlichen materiell- und verfahrensrechtlichen Normen, anderseits die völkerrechtlichen Anforderungen gemäss EMRK, wie sie durch das Dispositiv des Urteils des Gerichtshofs vom 24. Juni 1993 für die Beurteilung der vorliegenden Sache verbindlich konkretisiert worden sind.aa) Gemäss Art. 132 in Verbindung mit Art. 114 Abs. 2 OG stehen dem Eidg. Versicherungsgericht im Rahmen einer nach gutgeheissenem Revisionsgesuch möglich gewordenen und gebotenen materiellen Neubeurteilung drei prozessuale Erledigungsarten zu, nämlich die Gutheissung der Anträge in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, deren Abweisung und die Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde in dem Sinne, dass die Sache zur Aktenergänzung an die Verwaltung (oder an die kantonale Gerichtsinstanz) zurückgewiesen wird, damit anschliessend über den streitigen Rechtsanspruch (hier jener auf eine ganze/halbe Invalidenrente ab 1. Mai 1986) erneut verfügt (oder entschieden) werde (BGE 117 V 241 Erw. 2a, nicht veröffentlichtes Urteil V. vom 24. Oktober 1990 Erw. 2b; GRISEL, Traité de droit administratif, Neuenburg 1984, S. 935 unten f.; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. Bern 1983, S. 319).
bb) Der Anwendung einer dieser landesrechtlich vorgesehenen Arten der Verfahrenserledigung steht das Völkerrecht nicht entgegen. Der Gerichtshof stellt es den Konventionsstaaten in ständiger Rechtsprechung anheim, wie sie verfahrensmässig auf eine festgestellte Konventionsverletzung reagieren (vgl. POLAKIEWICZ, a.a.O., S. 97 ff. und 112 ff.; VILLIGER, a.a.O., S. 149 f.). Indessen bleibt für das Revisionsverfahren das Dispositiv des Urteilsspruchs vom 24. Juni 1993 beachtlich. Darin hat der Gerichtshof entschieden (Ziff. 8 lit. a, b und c), dass Art. 50 EMRK hinsichtlich des materiellen Schadens derzeit nicht zur Anwendung komme ("ne se trouve pas en état"), weshalb folgerichtig ("en conséquence") angeordnet wurde, dass
- der Gerichtshof bezüglich der Anwendung von Art. 50 EMRK einen Vorbehalt anbringt;
- der Gerichtshof die Regierung und die Beschwerdeführerin einlädt, ihm innerhalb von sechs Monaten schriftlich ihre Bemerkungen zur Anwendung von Art. 50 EMRK mitzuteilen und ihm insbesondere Kenntnis zu geben von jeder Übereinkunft, zu welcher sie gelangen könnten;
- der Gerichtshof das spätere Verfahren vorbehält und dessen allfällige Einleitung ins Ermessen des Präsidenten stellt.
Der Gerichtshof hat demnach das Verfahren ausgesetzt, um dem für die Konventionsverletzung verantwortlichen Staat Gelegenheit zu geben, darauf nach eigenem Landesrecht zu reagieren. Dabei unterliegt der Staat der völkerrechtlichen Verpflichtung, für eine restitutio in integrum besorgt zu sein, d.h. den Betroffenen ungeschmälert in diejenige Lage zu versetzen, in welcher er sich ohne Konventionsverletzung befände (POLAKIEWICZ, a.a.O., S. 97 f.). Nur hierauf richtet sich der Wiedergutmachungsanspruch der Gesuchstellerin, vorliegend also auf die Beseitigung der festgestellten geschlechtsdiskriminierenden Beweisbeibringung ("recevabilité des preuves", "mode de présentation des moyens de preuve"), welche Art. 14 in Verbindung mit Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzte. Demnach muss sich die materielle Neubeurteilung, um der völkerrechtlichen Verpflichtung zu genügen, nach der geschlechtsneutralen Beantwortung der beweisrechtlichen Frage richten, ob die Gesuchstellerin im IV-rechtlichen Revisionsverfahren von 1986, gleich wie im Zeitpunkt ihrer Berentung, als Erwerbstätige zu betrachten sei oder ob gesicherte Änderungstatsachen im Sinne der Rechtsprechung zu Art. 41 IVG dafür vorliegen, dass sie sich ohne Invalidität vor dem 1. Mai 1986 ganz oder teilweise einem anderen nicht erwerblichen Aufgabenbereich zugewandt hätte.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
In Gutheissung des Revisionsgesuches wird das Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts vom 21. Juni 1988 aufgehoben.
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