125 V 368
Urteilskopf
125 V 368
59. Auszug aus dem Urteil vom 6. September 1999 i.S. A. gegen IV-Stelle des Kantons Zürich und Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich
Regeste
Art. 41 IVG; Art. 4 Abs. 1 BV: substituierte Begründung der Wiedererwägung; rechtliches Gehör.
- Bestätigung der Rechtsprechung, wonach der Richter eine zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung mit der substituierten Begründung der zweifellosen Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügung schützen kann, sofern deren Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.
- Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn die streitige Revisionsverfügung vorinstanzlich mittels substituierter Begründung geschützt wird.
Aus den Erwägungen:
1. Das kantonale Gericht schützte im angefochtenen Entscheid die rentenaufhebende Verfügung vom 17. September 1996 mit der Begründung, die Voraussetzungen für eine Revision nach Art. 41 IVG seien entgegen der
BGE 125 V 368 S. 369
Auffassung der Verwaltung zwar nicht erfüllt, doch seien die rentenzusprechenden Verfügungen vom 7. Oktober und 16. November 1994 zweifellos unrichtig und deren Berichtigung von erheblicher Bedeutung. (...).
2. Nach Art. 41 IVG sind laufende Renten für die Zukunft zu erhöhen, herabzusetzen oder aufzuheben, wenn sich der Invaliditätsgrad in einer für den Anspruch erheblichen Weise ändert. Anlass zur Rentenrevision gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen. Ob eine solche Änderung eingetreten ist, beurteilt sich durch Vergleich des Sachverhaltes, wie er im Zeitpunkt der ursprünglichen Rentenverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der streitigen Revisionsverfügung (BGE 105 V 29).
Fehlen die in Art. 41 IVG genannten Voraussetzungen, so kann die Rentenverfügung allenfalls nach den für die Wiedererwägung rechtskräftiger Verwaltungsverfügungen geltenden Regeln abgeändert werden. Danach ist die Verwaltung befugt, auf eine formell rechtskräftige Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller richterlicher Beurteilung gebildet hat, zurückzukommen, wenn sich diese als zweifellos unrichtig erweist und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Der Richter kann eine zu Unrecht ergangene Revisionsverfügung gegebenenfalls mit der substituierten Begründung schützen, dass die ursprüngliche Rentenverfügung zweifellos unrichtig und die Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (BGE 110 V 296 Erw. 3c, BGE 106 V 87 Erw. 1, BGE 105 V 201 Erw. 1 mit Hinweisen).
3. a) Der Beschwerdeführer hält die in Erw. 2 in fine zitierte Rechtsprechung für nicht haltbar und beantragt deren Änderung. Er begründet seinen Standpunkt im Wesentlichen damit, der Richter ziehe durch das "Auswechseln der Begründung" die Befugnis zur Wiedererwägung an sich, welche allein in die Zuständigkeit der Verwaltung falle.
b) Der in der kritisierten Rechtsprechung verwendete Ausdruck "substituierte Begründung" mag den Eindruck erwecken, es handle sich um ein besonderes Rechtsinstitut in dem Sinne, dass der Richter von sich aus die ursprüngliche Verfügung in Wiedererwägung ziehe, wie dies der Beschwerdeführer darlegt. Das ist jedoch nicht der Fall. Der Umstand, dass der Richter eine Verfügung auf Beschwerde hin mit einer gegenüber der Verwaltung abweichenden Begründung schützt, ist Ausfluss des Grundsatzes, wonach er das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat (BGE 122 V 36 f. Erw. 2b
BGE 125 V 368 S. 370
mit Hinweisen). Der Richter erwägt im Rahmen der nachträglichen Verwaltungsrechtspflege, eine im Ergebnis richtige, aber falsch begründete Verfügung sei aus anderen rechtlichen Überlegungen haltbar. Er schützt die angefochtene Verfügung mit der zutreffenden Begründung. Von einer unzulässigen Vermischung der Aufgaben der Verwaltung und des Gerichts, wie sie der Beschwerdeführer rügt, kann nicht gesprochen werden, weil der Richter keine Verfügung in Wiedererwägung zieht. Diese Befugnis steht einzig der Verwaltung zu, denn eine Verfügung kann nur von der erlassenden Behörde in Wiedererwägung gezogen werden. Der Richter, der in der Sache noch nichts "erwogen" hat, kann bereits vom Begriff her nicht "wieder"erwägen. Sein Tätigwerden setzt voraus, dass einerseits ein Verwaltungsakt ergangen ist und andererseits Beschwerde hiegegen geführt wurde. Aufgabe des Richters ist es, zu prüfen, ob die Verfügung rechtmässig sei. Die Tatsache, dass er keine Verwaltungsaufgabe übernimmt, sondern einzig das (verfügungsmässige) Handeln der Verwaltung überprüft, lässt sodann das Vorbringen des Beschwerdeführers, vorliegend sei Art. 88bis IVG anwendbar, als unbehelflich erscheinen, hat doch die Verwaltung in der streitigen Verfügung vom 17. September 1996 diese Bestimmung bereits angewendet. Nach dem Gesagten besteht somit keinerlei Anlass, die kritisierte Rechtsprechung zu ändern.
4. a) Der Anspruch auf rechtliches Gehör besteht und ist zu gewähren, wenn eine Behörde ihren Entscheid mit einer Rechtsnorm oder einem Rechtsgrund zu begründen beabsichtigt, die im bisherigen Verfahren nicht herangezogen wurden, auf die sich die beteiligten Parteien nicht berufen haben und mit deren Erheblichkeit im konkreten Fall sie nicht rechnen konnten (BGE 124 I 52 Erw. 3c, BGE 123 I 69, BGE 116 V 185 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
b) Dem Beschwerdeführer ist beizupflichten, dass er nicht ohne Weiteres damit rechnen musste, dass die Vorinstanz ihren Entscheid auf die substituierte Begründung der zweifellosen Unrichtigkeit der ursprünglichen Verfügungen stützen würde. Hinzu kommt, dass die Rente bereits einmal revidiert worden war und sie seit längerer Zeit ausgerichtet wurde. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer anwaltlich vertreten ist und bei einem qualifizierten Rechtsvertreter die Rechtsprechung zur Revision im Allgemeinen und zur substituierten Begründung im Besonderen als bekannt vorausgesetzt werden kann, führt zu keinem anderen Schluss. Anders zu entscheiden hätte zur Folge, dass der gewissenhafte Vertreter bei jeder Beschwerde gegen eine
BGE 125 V 368 S. 371
Revisionsverfügung vorsorglich auch Gründe gegen eine allfällige Substitution der Begründung vortragen müsste. Das kann nicht verlangt werden.c) Zu prüfen ist, ob der Verfahrensmangel im letztinstanzlichen Verfahren geheilt werden kann.
aa) Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende - Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn der Betroffene die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern, die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 124 V 183 Erw. 4a mit Hinweisen).
bb) Der Umstand, dass die Vorinstanz ihren Entscheid auf eine rechtliche Beurteilung abstützte, mit deren Heranziehung der Beschwerdeführer nicht ohne Weiteres rechnen musste, stellt keine derart schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs dar, welche einer Heilung des Mangels von vornherein entgegenstünde. Da der Beschwerdeführer im letztinstanzlichen Verfahren sämtliche Tatsachen und Einwendungen vor einer über umfassende Kognition verfügenden richterlichen Behörde vorbringen kann (Art. 132 OG), sind die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise Heilung der Gehörsverletzung vorliegend gegeben, zumal sich der Beschwerdeführer einlässlich in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zur Substitution der Begründung geäussert hat.