133 V 511
Urteilskopf
133 V 511
63. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen R. sowie Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen (Verwaltungsgerichtsbeschwerde)
I 375/06 vom 28. August 2007
Regeste
Art. 21 Abs. 4 IVG ist die gesetzliche Grundlage für Art. 6 Abs. 2 HVI. Die in Art. 6 Abs. 2 HVI festgehaltene Kostenbeteiligung der versicherten Person an der Ersatzbeschaffung von vorzeitig gebrauchsuntauglich gewordenen Hilfsmitteln infolge schwerer Sorgfaltspflichtverletzung ist gesetzeskonform (E. 4).
Aus den Erwägungen:
4. Es trifft zu, dass sich das Eidg. Versicherungsgericht in seinem Urteil I 250/05 vom 30. September 2005 (publ. in: SVR 2006 IV
BGE 133 V 511 S. 512
Nr. 22 S. 77) nicht zur gesetzlichen Grundlage von Art. 6 Abs. 2 HVI geäussert hat. Diese ist nunmehr zu prüfen.
4.1 Die Vorinstanz untersucht in ihrem Entscheid, ob Art. 21 ATSG gesetzliche Grundlage von Art. 6 Abs. 2 HVI sein kann. Sie verneint dies bezüglich Art. 21 Abs. 1 ATSG, kommt aber zum Schluss, dass Art. 21 Abs. 4 ATSG grundsätzlich auch auf Hilfsmittel angewendet werden könne. Die in Satz 2 des Art. 21 Abs. 4 ATSG enthaltene Regelung mache im strittigen Zusammenhang jedoch keinen Sinn, weshalb von einer auslegungsbedürftigen Lücke auszugehen sei. Diese Lücke füllte die Vorinstanz unter Berufung auf Art. 21 Abs. 1 ATSG dahingehend, dass nach Art. 6 Abs. 2 HVI nur die vorsätzliche Zerstörung eines Hilfsmittels sanktioniert werden dürfe.
4.2 Dieser Ansicht ist nicht zu folgen. Art. 21 Abs. 4 ATSG bezieht sich auf die Widersetzlichkeit gegenüber Eingliederungsmassnahmen sowie auf mangelnde Selbsteingliederung (vgl. auch UELI KIESER, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, N. 66 zu Art. 21 ATSG) und ersetzt u.a. die bis zum Inkrafttreten des ATSG gültig gewesenen Art. 10 Abs. 2 und Art. 31 IVG (BBl 1999 S. 4567, 4775 und 4778). Art. 21 Abs. 4 ATSG umfasst auch Sachleistungen, wozu an sich auch die Hilfsmittel zu zählen sind (Art. 14 ATSG; vgl. auch KIESER, a.a.O., N. 73 zu Art. 21 ATSG); dies ändert nichts daran, dass der in dieser Bestimmung umschriebene Sachverhalt (Widersetzlichkeit und mangelnde Selbsteingliederung) sich nicht mit dem hier zu beurteilenden (Beteiligung an den Ersatzkosten von Hilfsmitteln infolge schwerer Verletzung der Sorgfaltspflichten) vergleichen lässt. Die Vorinstanz hält denn auch selbst fest, dass das in Art. 21 Abs. 4 ATSG vorgesehene Mahn- und Bedenkverfahren im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 HVI (Ersatz eines bereits zerstörten oder verlorenen Hilfsmittels) keinen Sinn macht. Insofern ist der Titel (Kürzung und Verweigerung von Leistungen) zu weit gefasst, da es nebst den beiden in Art. 21 ATSG geregelten Tatbeständen (vorsätzliches Herbeiführen des Versicherungsfalles; Weigerung zur Behandlung oder Eingliederung) noch weitere gesetzlich vorgesehene Gründe zur Leistungskürzung oder -verweigerung gibt (z.B. Überentschädigung; vgl. KIESER, a.a.O., N. 2 zu Art. 21 ATSG).
4.3 Entgegen der Ansicht der Vorinstanz, welche sich nicht näher mit Art. 21 Abs. 4 IVG auseinandergesetzt hat, ist diese Norm eine Art. 21 Abs. 1 und 4 IVG dem Bundesrat bzw. Art. 14 IVV dem zuständigen Departement einen weiten Spielraum der Gestaltungsfreiheit einräumen (BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 9 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 566/03 vom 1. Juni 2004, E. 4.3). Dieser Spielraum bezieht sich nicht nur auf die Auswahl des Hilfsmittels als solches. Denn wenn es dem Verordnungsgeber grundsätzlich freisteht, ob er einen Gegenstand, dem Hilfsmittelcharakter zukommt, in die Liste im Anhang überhaupt aufnehmen will, kann er umso mehr im Rahmen des Gesetzes die Abgabe an weitere Bedingungen und Auflagen knüpfen (BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 10 mit Hinweisen). Art. 6 Abs. 2 HVI ist ohne Weiteres als "nähere Vorschrift" über die Hilfsmittelabgabe im Sinne von Art. 21 Abs. 4 IVG zu verstehen. Angesichts der im ganzen Bereich der Sozialversicherung geltenden Schadenminderungspflicht hält sich die Regelung von Art. 6 Abs. 2 HVI zudem "im Rahmen des Gesetzes" (vgl. BGE 124 V 7 E. 5b/aa S. 10 in fine). Die Schadenminderungspflicht wird etwa verletzt, wenn ein Hilfsmittel durch Fehlverhalten der versicherten Person seinen Eingliederungszweck nicht mehr erfüllen kann, indem es vorzeitig gebrauchsuntauglich wird, sei dies durch Zerstörung oder durch Verlust.
BGE 133 V 511 S. 513
genügende gesetzliche Grundlage für Art. 6 Abs. 2 HVI. Das Eidg. Versicherungsgericht hat wiederholt festgestellt, dass
5. Zu prüfen bleibt, ob dem Versicherten grobfahrlässiges Verhalten im Sinne von Art. 6 Abs. 2 HVI vorzuwerfen ist.
5.1 Gemäss Art. 6 Abs. 2 HVI hat die versicherte Person eine angemessene Entschädigung zu leisten, wenn ein Hilfsmittel wegen schwerer Verletzung der Sorgfaltspflichten oder Nichtbeachtung besonderer Auflagen vorzeitig gebrauchsuntauglich wird. Entgegen der Vorinstanz genügt ein grobfahrlässiges Verhalten zur Mitbeteiligung an den Ersatzkosten. Denn eine "schwere Verletzung der Sorgfaltspflicht" kann nicht nur durch absichtliches Verhalten begangen werden. Grobfahrlässig handelt nach ständiger Rechtsprechung, wer jene elementaren Vorsichtsgebote unbeachtet lässt, die jeder verständige Mensch in der gleichen Lage und unter den gleichen Umständen befolgt hätte, um eine nach dem natürlichen Lauf der Dinge voraussehbare Schädigung zu vermeiden (vgl. für die Invalidenversicherung BGE 111 V 186 E. 2c S. 189 mit Hinweisen). In seinem Urteil I 250/05 vom 30. September 2005 ist das Eidg. Versicherungsgericht zum Schluss gekommen, dass bei der Beurteilung der Grobfahrlässigkeit bei vorzeitiger
BGE 133 V 511 S. 514
Gebrauchsuntauglichkeit eines leihweise abgegebenen Hilfsmittels wie bei der privatrechtlichen Gebrauchsleihe (Art. 305 ff. in Verbindung mit Art. 97 ff. OR) ein strenger Massstab zu gelten hat, da der versicherten Person zugemutet werden kann, einen von der Invalidenversicherung leihweise erhaltenen Gegenstand so sorgfältig zu behandeln, wie wenn sie bei dessen Ersatz infolge Verlust oder Beschädigung selbst für die (Ersatz-)Kosten aufzukommen hätte. In diesem Zusammenhang hat das Eidg. Versicherungsgericht das offene Herumliegenlassen eines Hörgerätes als massgebliche Verletzung der Sorgfaltspflicht gewertet.
5.2 Ebenfalls zu bestätigen sind die im bereits erwähnten Urteil I 250/05 gemachten Ausführungen über die Angemessenheit der Entschädigung. Die unter Berücksichtigung der üblichen Lebensdauer des abgegebenen Hörgeräts von sechs Jahren abgestufte Beteiligung gemäss Tarifvertrag (Amortisation) steht in Einklang mit der Rechtsprechung zur vorzeitigen Neuabgabe von Hilfsmitteln (BGE 119 V 255). Da die Kostenbeteiligung keinen pönalen Charakter aufweist, sondern lediglich dem finanziellen Ausgleich dient, spielt es keine Rolle für die Höhe der Mitbeteiligung, ob die versicherte Person vorsätzlich oder nur grobfahrlässig gehandelt hat. Die Ausführungen der Vorinstanz vermögen diese Rechtsprechung somit nicht in Zweifel zu ziehen.
5.3 Wie das Eidg. Versicherungsgericht im erwähnten Urteil I 250/ 05 ausgeführt hat, stellt das offene Herumliegenlassen eines Hörgerätes eine schwere Verletzung der Sorgfaltspflichten nach Art. 6 Abs. 2 HVI dar. Dies hat auch hier zu gelten, zumal sich der Versicherte zu Hause aufhielt und das Hörgerät ohne Weiteres am üblichen Aufbewahrungsort hätte deponieren können. Daran ändern auch die Darlegungen des Versicherten nichts: Abgesehen davon, dass ein Zusammenhang zwischen der in letzter Instanz erstmals geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit und der Fähigkeit zu sorgfältigem Umgang mit dem Hörgerät nicht ersichtlich ist, stellt der Einwand der Arbeitsunfähigkeit eine Schutzbehauptung dar, zumal der Versicherte trotz der geltend gemachten gesundheitlichen Einschränkung in der Lage war, abends um zehn Uhr noch mit seinem Besuch Gespräche zu führen, anlässlich derer ihn das Hörgerät gestört und er dieses aus dem Ohr genommen und irgendwo abgelegt hatte. Die IV-Stelle hat somit den Versicherten zu Recht zur Mitbeteiligung an den Ersatzkosten für das verlorene Hörgerät verpflichtet.