BGE 134 V 15 |
3. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. S. gegen P. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_272/2007 vom 27. Dezember 2007 |
Regeste |
Art. 35 Abs. 4 IVG; Art. 82 IVV in Verbindung mit Art. 71ter Abs. 1 AHVV; Drittauszahlung der Invaliden-Kinderrente. |
Aus den Erwägungen: |
Gemäss Art. 35 Abs. 4 Satz 1 IVG wird die Kinderrente wie die Rente ausbezahlt, zu der sie gehört, mithin grundsätzlich an den rentenberechtigten Elternteil. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die zweckmässige Verwendung (Art. 20 ATSG) und abweichende zivilrichterliche Anordnungen (Art. 35 Abs. 4 Satz 2 IVG). Der Bundesrat kann die Auszahlung für Sonderfälle in Abweichung von Art. 20 ATSG regeln, namentlich für Kinder aus getrennter oder geschiedener Ehe (Art. 35 Abs. 4 Satz 3 IVG). Gestützt auf diese Delegation hat der Bundesrat in Art. 82 IVV festgelegt, dass für die Auszahlung der Renten sowie der Hilflosenentschädigung für Volljährige unter anderem Art. 71ter AHVV sinngemäss gilt. Dessen Abs. 1 lautet: "Sind die Eltern des Kindes nicht oder nicht mehr miteinander verheiratet oder leben sie getrennt, ist die Kinderrente auf Antrag dem nicht rentenberechtigten Elternteil auszuzahlen, wenn diesem die elterliche Sorge über das Kind zusteht und es bei ihm wohnt. Abweichende vormundschaftliche oder zivilrichterliche Anordnungen bleiben vorbehalten." |
2.3.3 Zur Stützung seines Standpunktes lässt der Beschwerdeführer anführen, es sei nicht möglich, dass nur die Waisenrente und nicht auch die Kinderrente einem noch in Ausbildung stehenden mündigen Kind ausbezahlt werden könne. Anders als der Beschwerdeführer annimmt, stimmen indessen die Auszahlungsmodalitäten der Kinderrente nicht zwingend mit denjenigen der Waisenrente überein. Die beiden sozialversicherungsrechtlichen Rentenarten sind im Zusammenhang mit der zivilrechtlichen Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber dem Kind zu sehen (Art. 276 ff. ZGB): Die Waisenrente ist definitionsgemäss dann geschuldet, wenn der (unterhaltspflichtige) Vater oder die (unterhaltspflichtige) Mutter gestorben ist (vgl. Art. 25 Abs. 1 AHVG); sie ersetzt dem Kind den Wegfall des Elternteils. Der Anspruch steht zwangsläufig dem originär waisenrentenberechtigten Kind selber zu, dies im Gegensatz zur Person, welche - abgeleitet aus dem Stammrecht des Hauptrentners - eine derivative Zusatzrente bezieht (ZAK 1989 S. 224, insbes. E. 2b, P 39/86, bestätigt in BGE 122 V 300 E. 4b S. 304). Die Kinderrente hingegen ist dann geschuldet, wenn der (unterhaltspflichtige) Vater oder die (unterhaltspflichtige) Mutter noch lebt (vgl. Art. 35 Abs. 1 IVG; Art. 22ter Abs. 1 AHVG); sie ersetzt dem Kind nicht den Wegfall des Elternteils, sondern dient der Erleichterung der Unterhaltspflicht des invalid gewordenen oder im AHV- Alter stehenden Unterhaltsschuldners und soll dessen (durch Alter oder Invalidität bedingte) Einkommenseinbusse ausgleichen. Mit anderen Worten soll sie dem invaliden oder im AHV-Alter stehenden Elternteil ermöglichen, seiner Unterhaltspflicht nachzukommen, aber nicht der Bereicherung des Unterhaltsempfängers dienen (BGE 128 III 305 E. 3 S. 308; BGE 114 II 123 E. 2b S. 125). Der Anspruch steht daher dem Rentenempfänger zu, nicht direkt dem Kind (BGE 114 II 123 E. 2b S. 124). Entgegen der in der Beschwerde vertretenen Auffassung ist der unterschiedliche Auszahlungsmodus bei Kinder- und Waisenrenten mithin systemkonform. |
2.3.4 Um den Zweck der Kinderrente - dem Unterhalt des Kindes zu dienen (BGE 103 V 131 E. 3 S. 134; SVR 2001 IV Nr. 39 S. 117, E. 4d, I 12/00; Urteil 5P.346/2006 vom 12. Oktober 2006, E. 3.3) - sicherzustellen, hat die Rechtsprechung vor dem Inkrafttreten der Drittauszahlungsregelung in Art. 35 Abs. 4 IVG auf den 1. Januar 1997 (vgl. auch Art. 82 IVV in Verbindung mit Art. 71ter AHVV) unter bestimmten Voraussetzungen auch ohne ausdrückliche gesetzliche Grundlage eine Drittauszahlung der Kinderrente an den nicht rentenberechtigten anderen Elternteil, unter dessen Sorge das Kind stand, zugelassen (BGE 103 V 131 E. 3 S. 134 f.; BGE 101 V 208 E. 2 S. 210 f.; SVR 1999 IV Nr. 2 S. 5, E. 2a, I 237/97). Aus denselben Überlegungen wurde des Weitern erkannt, dass die Rente direkt dem mündigen Kind ausbezahlt werden kann, wenn der rentenberechtigte Elternteil die zweckkonforme Verwendung der Rente nicht gewährleistet, auch wenn die Voraussetzungen des (damaligen) Art. 76 AHVV, dem der heutige Art. 20 Abs. 1 ATSG entspricht, nicht erfüllt waren (SVR 1999 IV Nr. 2 S. 5, E. 2b, I 237/97; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts H 213/86 vom 15. Mai 1987, E. 2b). Diese Rechtsprechung blieb auch nach Inkrafttreten des neuen Art. 35 Abs. 4 IVG (am 1. Januar 2003) anwendbar, solange der Bundesrat von der ihm zustehenden Delegation (Art. 35 Abs. 4 Satz 3 IVG) keinen Gebrauch gemacht hatte (SVR 2002 IV Nr. 5 S. 11, E. 3c/aa, I 245/01; 2000 IV Nr. 22 S. 65, E. 1a, I 171/99). |
Auf den 1. Januar 2002 hat der Bundesrat indessen die dargelegten Verordnungsbestimmungen (Art. 82 IVV und Art. 71ter AHVV) erlassen und damit positivrechtlich die Drittauszahlung an den nicht rentenberechtigten Elternteil, unter dessen Sorge das Kind steht, geregelt (vgl. BGE 129 V 362 E. 3.4 S. 365 f.), während er die Direktauszahlung an das mündige Kind nicht normiert hat. Aus den Erläuterungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) zu dieser Verordnungsänderung (publ. in: AHI 2002 S. 14 ff.) ergibt sich nicht ausdrücklich, ob in Bezug auf die Direktauszahlung an das mündige Kind ein qualifiziertes Schweigen vorliegt. In Rz. 10006 der Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (RWL) hat das BSV festgelegt, dass die Kinderrenten grundsätzlich zusammen mit der Hauptrente auszuzahlen sind (Satz 1), indessen die Vorschriften über die Auszahlung bei unzweckgemässer Verwendung gelten, wenn die leistungsberechtigte Person nicht für die Kinder sorgt (Satz 2), und die Kinderrenten in einem solchen Fall auch direkt an volljährige Kinder, für die sie bestimmt sind, ausbezahlt werden können, sofern die Voraussetzung der zweckgemässen Verwendung erfüllt ist (Satz 3). Demgegenüber hat das Eidg. Versicherungsgericht im Urteil I 840/04 vom 28. Dezember 2005, E. 4.1 - allerdings ohne nähere Ausführungen - erkannt, dass seit dem Inkrafttreten der neuen Verordnungsbestimmungen (1. Januar 2002) die vorher entwickelte Rechtsprechung nicht mehr anwendbar ist; für den Zeitraum bis Ende 2001 schloss es in BGE 129 V 362 E. 5.2.2 S. 368 f. eine lückenfüllende Ergänzung der damals geltenden Auszahlungsordnung aus.
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2.3.5 Nach Art. 285 Abs. 2 ZGB hat zwar der unterhaltspflichtige Elternteil die für den Unterhalt des Kindes bestimmten Sozialversicherungsleistungen zusätzlich zum Unterhaltsbeitrag zu zahlen, soweit das Gericht es nicht anders bestimmt. Es gilt insoweit von Gesetzes wegen eine Kumulation von Unterhaltspflicht und der Pflicht, die Kinderrente an das Kind zu bezahlen (BGE 128 III 305 E. 4b S. 309 f.). Mit dem am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Abs. 2bis von Art. 285 ZGB wurde die Stellung des Unterhaltspflichtigen insofern verbessert, als er eine nachträglich erhaltene Kinderrente nicht mehr kumulativ zu den Unterhaltsbeiträgen zu leisten hat, sondern diese sich von Gesetzes wegen entsprechend vermindern. Vorbehalten sind jedoch immer abweichende zivilgerichtliche Anordnungen, auf welche nicht nur in Art. 285 Abs. 2 ZGB, sondern auch in Art. 35 Abs. 4 IVG sowie Art. 71ter Abs. 1 AHVV ausdrücklich hingewiesen wird. |
Nach der in Art. 285 ZGB enthaltenen Regelung ist es mithin Sache der Zivilgerichte, aufgrund einer Gesamtwürdigung der finanziellen Verhältnisse die Unterhaltsbeiträge festzusetzen und dabei den sozialversicherungsrechtlichen Rentenansprüchen in gesamthafter Betrachtung Rechnung zu tragen. Das Zivilrecht erlaubt, eine dem Einzelfall gerecht werdende Lösung zu treffen und eine zweckentsprechende Verwendung der Kinderrente sicherzustellen. Über die Unterhaltspflicht gemäss Art. 285 Abs. 2 oder 2bis ZGB kann nicht im sozialversicherungsrechtlichen Leistungs(streit)verfahren befunden werden, da es sich dabei um eine zivilrechtliche Verpflichtung handelt (ZAK 1989 S. 224, E. 3, P 39/86). Angesichts der zivilrechtlichen Regelung besteht kein Anlass, eine Lücke in der sozialversicherungsrechtlichen Auszahlungsregelung anzunehmen, zumal eine sozialversicherungsrechtlich angeordnete Drittauszahlung der gesamtheitlichen Betrachtung, die namentlich bei Unterhaltszahlungen an das mündige Kind gesetzlich zwingend ist (Art. 277 Abs. 2 ZGB), nicht zugänglich wäre.
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