BGE 134 V 145 |
18. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Schweizerische National-Versicherungs-Gesellschaft gegen V. Erben (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
8C_23/2007 vom 12. März 2008 |
Regeste |
Art. 49 Abs. 1 und 3, Art. 51 Abs. 1 und 2 ATSG; Art. 124 lit. a und b UVV; Frist für die Infragestellung eines zu Unrecht formlos mitgeteilten Fallabschlusses. |
Sachverhalt |
Am 13. September 2001 nahm sich V. das Leben.
|
Mit Schreiben vom 28. Januar 2002 liessen die Erben des V. einen Anspruch auf Hinterlassenenleistungen der National geltend machen. Der Versicherer verneinte nach einem kurzen Briefwechsel mit Schreiben vom 8. Mai 2002 seine Leistungspflicht.
|
Am 14. Juni 2005 erneuerten die Erben des V. ihr Gesuch um Ausrichtung von Hinterlassenenleistungen. Die National erklärte mit Brief vom 4. August 2005, sie betrachte den Fall als erledigt, da die Mitteilung vom 8. Mai 2002 als faktische Verfügung rechtskräftig geworden sei. Diesen Standpunkt bestätigte der Versicherer in weiteren Stellungnahmen vom 30. September 2005 und 16. Juni 2006.
|
B. Die Erben des V. erhoben am 12. September 2006 Beschwerde wegen Rechtsverweigerung. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess diese gut und verpflichtete die National, betreffend Hinterlassenenleistungen eine schriftliche und begründete Verfügung mit Rechtsmittelbelehrung zu erlassen (Entscheid vom 4. Januar 2007).
|
C. Die National führt Beschwerde mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
|
Die Erben des V. schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
|
Aus den Erwägungen: |
Erwägung 2 |
2.1 Über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist, hat der Versicherungsträger schriftlich Verfügungen zu erlassen (Art. 49 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG; SR 830.1]). Im gleichen Sinn bestimmte Art. 99 Abs. 1 des Bundesgesetzes vom 20. März 1981 über die Unfallversicherung (UVG; SR 832.20) in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung, der Versicherer habe über erhebliche Leistungen und Forderungen und über solche, mit denen der Betroffene nicht einverstanden ist, schriftliche Verfügungen zu erlassen. |
Erwägung 3 |
3.2 Im von der Vorinstanz zitierten, in BGE 132 V 412 ff. auszugsweise veröffentlichten Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts U 62/06 vom 7. September 2006 hatte der Unfallversicherer in einem Schreiben an die versicherte Person erklärt, die bisher erbrachten Leistungen (Heilbehandlung und Taggeld) würden eingestellt, nachdem keine objektivierbaren pathologischen Befunde hätten erhoben werden können, welche als wahrscheinliche Folgen des Unfallereignisses zu werten seien. Der Brief enthielt keine Rechtsmittelbelehrung und war auch nicht als Verfügung bezeichnet. Das Eidg. Versicherungsgericht qualifizierte das Schreiben nicht als Verfügung, sondern ordnete es dem formlosen Verfahren zu. Die Abgrenzung zwischen diesen beiden Erledigungsformen hat somit in der Weise zu erfolgen, dass eine Verfügung - unter Umständen abweichend von der allgemeinen, an inhaltlichen Kriterien orientierten Definition gemäss Art. 5 VwVG - nur dann vorliegt, wenn das fragliche Schriftstück als solche bezeichnet ist oder zumindest eine Rechtsmittelbelehrung enthält. Weist eine in diesem Sinn verstandene Verfügung einen Mangel auf, bestimmen sich die Konsequenzen nach Art. 49 Abs. 3 Satz 3 ATSG, wonach der versicherten Person aus einer mangelhaften Eröffnung kein Nachteil entstehen darf. Die konkreten Rechtsfolgen ergeben sich aus der Art des Mangels (ausführlich zu den Auswirkungen verschiedener Eröffnungsmängel MICHELE ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 1999, S. 440 ff.). Eine falsche oder fehlende Rechtsmittelbelehrung führt regelmässig zur Verlängerung der Einsprachefrist (zum Ganzen ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 130 ff., Rz. 362 ff., sowie UELI KIESER, Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts [ATSG], in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Aufl., Basel 2007, S. 217 ff., 289, Rz. 164). Erfüllt dagegen der Brief, in welchem der Versicherer seinen Standpunkt äussert, die erwähnten Anforderungen nicht und hat er somit nicht als Verfügung zu gelten, kann das Verfahren nicht durch einen Einspracheentscheid fortgesetzt werden, sondern muss sich zunächst auf den Erlass einer Verfügung richten. |
4. Art. 51 Abs. 1 ATSG sieht die Behandlung eines Anspruchs im formlosen Verfahren ausdrücklich vor in Bezug auf Gegenstände, welche nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fallen. Diese bereits zitierte Bestimmung schreibt für erhebliche Leistungen sowie bei Nichteinverständnis der versicherten Person die Verfügungsform vor. Die formlose Erledigung ist diesfalls unzulässig. Der bereits vor dem Inkrafttreten des ATSG gültig gewesene, unverändert gebliebene Art. 124 der Verordnung vom 20. Dezember 1982 über die Unfallversicherung (UVV; SR 832.202) hält in lit. b fest, eine schriftliche Verfügung sei unter anderem zu erlassen über die Verweigerung von Versicherungsleistungen. Mit dem Inkrafttreten des ATSG hat sich in diesem Punkt gegenüber der Rechtslage nach Art. 99 Abs. 1 UVG (in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung) nichts geändert (vgl. BGE 132 V 412 E. 4 S. 417). Auch mit Bezug auf den hier zu beurteilenden Sachverhalt, in welchem das einen Anspruch verneinende Schreiben aus dem Jahr 2002 datiert, ist demzufolge von einer Verfügungspflicht des Unfallversicherers auszugehen. Der Entscheid hätte in Form einer Verfügung ergehen müssen. |
Erwägung 5 |
5.2 Wie das Eidg. Versicherungsgericht in der in BGE 132 V 412 nicht veröffentlichten E. 6 des bereits erwähnten Urteils U 62/06 vom 7. September 2006 erkannt hat, verhält sich die versicherte Person nicht rechtsmissbräuchlich im Sinne der zweckwidrigen Verwendung eines Rechtsinstituts (vgl. zu dieser Form des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens THOMAS GÄCHTER, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, unter besonderer Berücksichtigung des Bundessozialversicherungsrechts, Zürich 2005, S. 312, mit weiteren Hinweisen), wenn sie erst mehrere Monate nach einem unzulässigerweise im formlosen Verfahren erfolgten Fallabschluss den Erlass einer formellen Verfügung verlangt. Im konkreten Fall wurde ein entsprechendes, 8 1/2 Monate nach dem als formlos qualifizierten Schreiben gestelltes Gesuch als nicht rechtsmissbräuchlich betrachtet und der Versicherer verpflichtet, die verlangte Verfügung zu erlassen. Es ginge nun allerdings zu weit anzunehmen, die versicherte Person könne in dieser Konstellation ohne jede zeitliche Beschränkung auf dem Erlass einer Verfügung bestehen. Ebenso wie sich die Umschreibung der Rechtsfolgen der mangelhaften Eröffnung einer Verfügung an einer Abwägung zu orientieren hat, welche einerseits dem Rechtsschutzinteresse der betroffenen Person und andererseits dem Gebot der Rechtssicherheit Rechnung trägt, wobei der Grundsatz von Treu und Glauben als Richtschnur dient (BGE 119 Ib 68 E. 3b S. 72; ALFRED KÖLZ/ISABELLE HÄNER, Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich 1998, S. 130 f., Rz. 364; MICHELE ALBERTINI, Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör im Verwaltungsverfahren des modernen Staates, Diss. Bern 1999, S. 442), rechtfertigt es sich auch im hier zu beurteilenden Kontext nicht, den Interessen der versicherten Person uneingeschränkt den Vorrang einzuräumen. Vielmehr ist ihre Befugnis, einen formell korrekten Entscheid des Versicherers zu verlangen, insbesondere mit Blick auf das Gebot der Rechtssicherheit sowie den Verfassungsgrundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 der Bundesverfassung vom 18. April 1999 [BV; SR 101]), der auch Private in ihrem Verhältnis zu staatlichen Organen bindet (BEATRICE WEBER-DÜRLER, Neuere Entwicklungen des Vertrauensschutzes, ZBl 103/2002 S. 281 ff., 282 f.; YVO HANGARTNER, in: Ehrenzeller/Mastronardi/Schweizer/ Vallender [Hrsg.], Die schweizerische Bundesverfassung, Kommentar, Zürich 2002, N. 39 zu Art. 5 BV; SUSANNE LEUZINGER-NAEF, Der Wegfall der Unfallkausalität, in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Sozialversicherungsrechtstagung 2007, St. Gallen 2007, S. 9 ff., 28), zeitlich zu beschränken. Die vom kantonalen Gericht herangezogene und als massgeblich betrachtete Aussage im Urteil U 62/06 vom 7. September 2006, E. 6 (nicht publ. in BGE 132 V 412), ist deshalb insofern zu präzisieren, als die versicherte Person einen unzulässigerweise im formlosen Verfahren erlassenen Entscheid des Unfallversicherers, den Fall abzuschliessen, nicht zeitlich unbeschränkt in Frage stellen kann, sondern nur innerhalb einer Frist, deren Dauer nachfolgend zu definieren ist. Unterbleibt eine fristgerechte Intervention, entfaltet der im formlosen Verfahren ergangene Entscheid in gleicher Weise Rechtswirkungen, wie wenn er im durch Art. 51 Abs. 1 ATSG umschriebenen Rahmen erlassen worden wäre. |
5.3.1 Mit Bezug auf das zulässige formlose Verfahren nach Art. 51 ATSG, also den Bereich der nicht erheblichen Leistungen, Forderungen und Anordnungen, deren Beurteilung die versicherte Person nicht bereits vorgängig widersprochen hat, wurde im Verlauf der Gesetzgebungsarbeiten diskutiert, innerhalb welcher Frist die versicherte Person ihr Gesuch um Erlass einer Verfügung stellen müsse (zur Entstehungsgeschichte der Norm vgl. BGE 132 V 412 E. 2.2 S. 415 f. sowie BARBARA KUPFER BUCHER, Das nichtstreitige Verwaltungsverfahren nach dem ATSG und seine Auswirkungen auf das AVIG, Diss. Freiburg 2006, S. 207 f.). Der Bundesrat schlug in seiner vertieften Stellungnahme vom 17. August 1994 "Parlamentarische Initiative Sozialversicherungsrecht" (BBl 1994 V 921 ff.) eine Frist von einem Jahr seit Entstehen des Anspruchs vor. Zur Begründung wurde erklärt, die Aufnahme einer Frist sei im Interesse der Rechtssicherheit angezeigt (BBl 1994 V 949). Im weiteren Verlauf stand auch eine Frist von lediglich einem Monat zur Diskussion (FRANZ SCHLAURI, Grundstrukturen des nichtstreitigen Verwaltungsverfahrens in der Sozialversicherung, in: Schaffhauser/Schlauri [Hrsg.], Verfahrensfragen in der Sozialversicherung, St. Gallen 1996, S. 9 ff., 57 mit Fn. 87). Die Kommission des Nationalrates für soziale Sicherheit und Gesundheit lehnte in ihrem Bericht vom 26. März 1999 (BBl 1999 S. 4523 ff.) die Aufnahme einer Frist in das Gesetz ab. Sie argumentierte, das formlose Verfahren beschlage sehr unterschiedliche Abläufe in der Sozialversicherung. Es sei daher falsch, eine Frist zu fixieren. Zwar gingen Praxis und Rechtsprechung in der Krankenversicherung davon aus, dass eine Verfügung während ca. eines Jahres verlangt werden könne. Es sei aber wohl unzweckmässig, dies einheitlich für alle möglichen Fälle vorzusehen (BBl 1999 S. 4610). Dementsprechend regelt der nunmehrige Art. 51 Abs. 2 ATSG diesen Punkt nicht. In der Lehre wird davon ausgegangen, die Frist müsse auf jeden Fall länger sein als die 30-tägige Rechtsmittelfrist, könne aber wohl mehrere Monate nicht übersteigen, wobei die sachgerechte Dauer vom Einzelfall abhänge (THOMAS LOCHER, Grundriss des Sozialversicherungsrechts, 3. Aufl., Bern 2003, S. 433, § 65 Rz. 26; zu den zu berücksichtigenden Kriterien äussert sich UELI KIESER, ATSG-Kommentar, Zürich 2003, N. 13 zu Art. 51 ATSG). In der Militärversicherung nimmt die Verwaltung im Regelfall eine sechsmonatige Frist an (JÜRG MAESCHI, Kommentar zum Bundesgesetz über die Militärversicherung, Bern 2000, N. 10 zu Art. 96 MVG; SCHLAURI, a.a.O., S. 57 Fn. 87). |
5.3.2 Die hier zu beurteilende Konstellation unterscheidet sich von der durch Art. 51 Abs. 2 ATSG geregelten dadurch, dass über Leistungen zu befinden ist, für deren Beurteilung das Gesetz (Art. 49 Abs. 1 ATSG respektive Art. 99 Abs. 1 UVG [in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung] in Verbindung mit Art. 124 UVV) die Verfügungsform vorschreibt. Es ist - auch im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten - von einem relativ hohen Grad an Betroffenheit der versicherten Person auszugehen, was sich verfahrensrechtlich insofern auswirkt, als dem Anspruch auf rechtliches Gehör und namentlich dem Begründungserfordernis besonderes Gewicht zukommt (ALBERTINI, a.a.O., S. 406 mit Hinweis auf BGE 124 V 180). Dieser Aspekt spricht im Vergleich zum gesetzlich vorgesehenen formlosen Verfahren nach Art. 51 ATSG für die Annahme einer längeren Frist. Ein weiteres, in dieselbe Richtung weisendes Argument ergibt sich aus dem Umstand, dass der Versicherer das formlose Verfahren entgegen der gesetzlichen Regelung zur Anwendung gebracht und somit die für ihn resultierende vorübergehende Rechtsunsicherheit selbst zu verantworten hat. Andererseits haben auch Dritte, welche nicht direkt am Verfahren beteiligt sind, im Hinblick auf allfällige Haftpflicht- und Regressansprüche ein berechtigtes Interesse an einer Klärung der Rechtslage. In Anbetracht der einander gegenüberstehenden Interessen sowie unter Berücksichtigung des Verfassungsgrundsatzes von Treu und Glauben erscheint es für den Regelfall als gerechtfertigt, von der betroffenen Person zu erwarten, dass sie innerhalb eines Jahres seit der unzulässigerweise im formlosen Verfahren erfolgten Mitteilung des Fallabschlusses an den Unfallversicherer gelangt, wenn sich dieser seither nicht mehr gemeldet hat. Eine längere Frist kommt allenfalls dann in Frage, wenn die Person - insbesondere wenn sie rechtsunkundig und nicht anwaltlich vertreten ist - in guten Treuen annehmen durfte, der Versicherer habe noch keinen abschliessenden Entscheid fällen wollen und sei mit weiteren Abklärungen befasst. |
5.4 Aus dem Schreiben der National vom 8. Mai 2002 geht unmissverständlich hervor, dass es der Versicherer ablehnte, die beantragten Leistungen zu erbringen. Von weiteren Abklärungen war nicht die Rede. Die nach Lage der Akten bereits seit September 2001 anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner waren deshalb nach dem Gesagten gehalten, innerhalb eines Jahres seit Zugang des Schreibens zu reagieren und ihr Nichteinverständnis zu bekunden. Die erst am 14. Juni 2005, nach Ablauf von mehr als drei Jahren, erfolgte Intervention vermochte somit keine Verpflichtung des Unfallversicherers mehr auszulösen, in Verfügungsform über die streitigen Ansprüche zu entscheiden. Vielmehr hatte der im formlosen Verfahren ergangene Entscheid vom 8. Mai 2002 inzwischen Rechtswirksamkeit erlangt, wie wenn er im durch Art. 51 Abs. 1 ATSG umschriebenen Rahmen erlassen worden wäre. Die National beging demzufolge keine Rechtsverweigerung, als sie es ablehnte, eine Verfügung zu erlassen. Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und der kantonale Entscheid ist aufzuheben.
|