135 V 287
Urteilskopf
135 V 287
35. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Allianz Suisse Versicherungen gegen R. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
8C_17/2009 vom 25. Juni 2009
Regeste
Art. 16 Abs. 1 UVG; Taggeldberechnung bei Teilzeitarbeit.
Der Grad der Arbeitsunfähigkeit einer versicherten Person wird aufgrund des vor dem Unfall zuletzt ausgeübten Pensums berechnet; es erfolgt keine Umrechnung auf ein 100%-Pensum (E. 4).
A. Die 1964 geborene R. war als Teilzeit-Pharma-Assistentin der Firma Y. bei der Allianz Suisse Versicherungsgesellschaft (nachstehend: Allianz) gegen die Folgen von Unfällen versichert, als sie am 17. Februar 2001 aus einem Sessellift stürzte und sich einen Oberschenkelhalsbruch zuzog. Die Allianz anerkannte ihre Leistungspflicht für die Folgen dieses Ereignisses und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Nachdem Dr. med. G. in seinem Gutachten vom 8. November 2006 der Versicherten eine Arbeitsfähigkeit von 12 bis 15 Stunden pro Woche in ihrer angestammten Tätigkeit attestierte, setzte die Allianz mit Verfügung vom 9. Mai 2007 und Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2007 die zur Berechnung der Taggelder massgebende Arbeitsunfähigkeit der Versicherten für die Zeit ab 1. April 2007 auf 40 % fest.
B. Die von R. hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 22. Oktober 2008, soweit es auf sie eintrat, im Sinne der Erwägungen gut und stellte fest, dass der Taggeldanspruch ab dem 1. April 2007 auf der Basis einer Arbeitsunfähigkeit von 70 % zu berechnen sei. Die Leistungsausstände seien mit 5 % zu verzinsen.
C. Mit Beschwerde beantragt die Allianz, es sei in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides ihr Einspracheentscheid vom 11. Dezember 2007 zu bestätigen.
Während R. beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
3.1 Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, hat die versicherte Person, wenn sie infolge des Unfalles voll oder teilweise arbeitsunfähig ist, Anspruch auf ein Taggeld (Art. 16 Abs. 1 UVG; SR 832.20). Das Taggeld beträgt bei voller Arbeitsunfähigkeit 80 % des versicherten Verdienstes. Bei teilweiser Arbeitsunfähigkeit wird es entsprechend gekürzt (Art. 17 Abs. 1 UVG). Arbeitsunfähigkeit ist gemäss Art. 6 ATSG (SR 830.1) die durch eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit bedingte, volle oder teilweise Unfähigkeit, im bisherigen Beruf oder Aufgabenbereich zumutbare Arbeit zu leisten. Bei langer Dauer wird auch die
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zumutbare Tätigkeit in einem anderen Beruf oder Aufgabenbereich berücksichtigt.
3.2 Ist eine versicherte Person infolge des Unfalles mindestens zu 10 Prozent invalid, so hat sie gemäss Art. 18 Abs. 1 UVG Anspruch auf eine Invalidenrente. Zur Bestimmung des Invaliditätsgrades wird gemäss aArt. 18 Abs. 2 UVG (heute: Art. 16 ATSG) das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person nach Eintritt der unfallbedingten Invalidität und nach Durchführung allfälliger Eingliederungsmassnahmen durch eine zumutbare Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage erzielen könnte (sog. Invalideneinkommen), in Beziehung gesetzt zum Erwerbseinkommen, das sie erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre (sog. Valideneinkommen).
Gemäss Rechtsprechung ist das Valideneinkommen in der Unfallversicherung unabhängig davon zu bestimmen, ob die versicherte Person vor dem Unfall ihre Arbeitskraft ganz oder nur teilweise eingesetzt hat (BGE 119 V 475 E. 2b S. 481). Diesem Faktor wird nämlich bereits dadurch Rechnung getragen, dass aufgrund des geringeren versicherten Verdienstes eine bloss teilzeitlich tätige Person eine kleinere Rente erhalten wird, als eine vollzeitlich erwerbstätige (FRÉSARD/MOSER-SZELESS, L'assurance-accidents obligatoire, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 2007, S. 901 Rz. 177). Bei der Festlegung des hypothetischen Valideneinkommens ist somit von einer vollzeitlich erwerbstätigen Person auszugehen, die hinsichtlich Fähigkeiten, Ausbildung, Alter und örtlicher Verhältnisse mit der versicherten Person vergleichbar ist (ALEXANDRA RUMO-JUNGO, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 3. Aufl. 2003, S. 124).
4. Streitig und zu prüfen ist, wie hoch der Grad der für die Berechnung des Taggeldes massgebenden Arbeitsunfähigkeit in der Zeit nach dem 1. April 2007 war.
4.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass die Versicherte vor dem Unfall vom 17. Februar 2001 mit einem Wochenpensum zwischen etwa 17 und 20 Stunden (Durchschnittswert somit 18,5 Stunden) als Teilzeit-Pharma-Assistentin in einer Apotheke erwerbstätig war. Die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit in jener Apotheke betrug gemäss Angaben der Arbeitgeberin 41 Stunden. Weiter ist ebenfalls unbestritten, dass aus medizinischer Sicht der Beschwerdegegnerin in der Zeit ab dem 1. April 2007 zuzumuten war, ihre bisherige Tätigkeit mit einem Wochenpensum von etwa 12 bis 15 Stunden
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(Durchschnittswert somit 13,5 Stunden) auszuüben. Die Beschwerdeführerin interpretiert die bundesgerichtliche Rechtsprechung (Urteil U 604/06 vom 16. Januar 2008 E. 3; vgl. auch Urteil 8C_530/2007 vom 10. Juni 2008 E. 5.2.3) dahingehend, dass zur Ermittlung des Grades der Arbeitsfähigkeit - und damit mittelbar des mit diesem korrelierenden, für die Bemessung der Taggelder massgebenden Grads der Arbeitsunfähigkeit - das zumutbare Wochenpensum ins Verhältnis zum Pensum der versicherten Person unmittelbar vor dem Unfall zu setzen ist. Gemäss der vorinstanzlichen Interpretation der höchstrichterlichen Rechtsprechung ist demgegenüber - bei grundsätzlich gegebener Verdiensteinbusse - der Grad der Arbeitsfähigkeit aus dem Verhältnis des zumutbaren Wochenpensums zur betriebsüblichen Arbeitszeit zu errechnen.
4.2 Auch wenn Taggelder, wie im vorliegenden Fall, zuweilen über Jahre ausbezahlt werden, handelt es sich doch nach der Konzeption des Gesetzgebers um kurzfristige Leistungen (so ausdrücklich Art. 90 Abs. 1 UVG). Sie sind in dem Sinne bloss vorübergehende Leistungen, als sie nur geschuldet sind, so lange eine Arbeitsunfähigkeit besteht und von der Fortsetzung der ärztlichen Behandlung noch eine namhafte Besserung des Gesundheitszustandes erwartet werden kann (Art. 19 Abs. 1 UVG). Durch die Taggelder soll der konkrete Erwerbsausfall, welchen die versicherte Person durch den Unfall in der Heilungsphase erleidet, ausgeglichen werden. Es trifft zwar zu, dass die Taggelder insofern "abstrakt" berechnet werden, als bei der Berechnung des versicherten Verdienstes grundsätzlich jenes Einkommen massgeblich ist, welches die versicherte Person unmittelbar vor dem Unfall erzielte (Art. 15 Abs. 2 UVG); das System des früheren KUVG, zur Bemessung des versicherten Verdienstes jeweils vom tatsächlichen Erwerbsausfall auszugehen, wurde bei der Einführung des UVG preisgegeben. Damit war indessen nicht eine Änderung in der Zwecksetzung der Taggelder angestrebt; vielmehr sollten die Versicherungsträger vom unverhältnismässigen administrativen Aufwand, für jede versicherte Person und für jeden einzelnen Tag abzuklären, wie hoch der tatsächliche Erwerbsausfall ist, entlastet werden (Botschaft vom 18. August 1976 zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung, BBl 1976 III 141 Ziff. 342).
4.3 Die vorinstanzliche Vorgehensweise, den zur Bemessung der Taggelder massgebenden Grad der Arbeitsunfähigkeit durch den Vergleich der medizinisch-theoretischen Arbeitsfähigkeit mit der betriebsüblichen Arbeitszeit zu bestimmen, führt bei versicherten
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Personen, die vor dem Unfall nur teilzeitlich erwerbstätig waren und nach dem Unfall in einem geringeren Umfang weiterhin eine Arbeitsleistung erbringen können, dazu, dass die Taggelder - zusammen mit dem erzielbaren Lohn - den Betrag übersteigen würden, welchen sie vor dem Unfall als Einkommen erzielten. Aufgrund der strengen Orientierung der Taggelder am tatsächlichen Erwerbsausfall ist ein solches Resultat abzulehnen. Die Beschwerdeführerin macht somit zu Recht geltend, als Referenzpensum zur Ermittlung des Grades der Arbeitsunfähigkeit sei das Arbeitspensum unmittelbar vor dem Unfall einzusetzen.
4.4 Wie die Vorinstanz zutreffend erwogen hat, vermag diese unterschiedliche Berechnungsmethode der Arbeits- bzw. der Erwerbsunfähigkeit bei den Taggeldern und bei den Renten im Einzelfall zu bewirken, dass die nach Fallabschluss zugesprochene Rente betragsmässig höher als das unmittelbar vor Fallabschluss ausbezahlte Taggeld liegt oder dass gar ein Rentenanspruch bestehen kann, obwohl ein Taggeld mangels Arbeitsunfähigkeit verweigert werden musste. Eine betragsmässig höhere Rente als das vorangegangene Taggeld kann indessen bereits aus der gesetzlichen Konzeption resultieren, den versicherten Verdienst für die Taggelder und für die Renten je nach anderen Grundsätzen zu berechnen (vgl. Art. 15 Abs. 2 UVG). Die Berechnung der Taggelder beruht im Weiteren auf der Vermutung, dass die Arbeitssituation und damit das Pensum der versicherten Person ohne Unfall unverändert geblieben wäre (vgl. jedoch Art. 23 Abs. 7 UVV [SR 832.202]; zur Tragweite dieser Norm bei Pensumsänderung: RKUV 1994 S. 271, U 36/93 E. 3a). Eine solche Vermutung rechtfertigt sich bei kurzfristigen Leistungen, nicht jedoch bei den Dauerleistungen, mithin bei den Renten. Dem Umstand, dass ein Rentenanspruch bestehen kann, obwohl vor dem Fallabschluss ein Taggeld mangels Arbeitsunfähigkeit verweigert werden musste, könnte theoretisch dadurch Abhilfe geschaffen werden, dass in Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung auch die Erwerbsunfähigkeit bei den Renten aufgrund des mutmasslichen Pensums der versicherten Person bemessen würde. Dabei würde der versicherten Person aufgrund von Art. 17 Abs. 1 ATSG analog der Situation in der Invalidenversicherung (vgl. BGE 133 V 545 E. 6.1 S. 546) das Recht offenstehen, eine Rentenrevision zu verlangen, sobald überwiegend wahrscheinlich erstellt ist, dass sie ihren Beschäftigungsgrad ohne Unfall erhöht hätte. Im Gegensatz zu den UV-Taggeldern und den Renten der Invalidenversicherung
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werden die Renten der Unfallversicherung jedoch nicht nach dem Ausgabenumlageverfahren, sondern nach dem Rentenwertumlageverfahren finanziert (Art. 90 Abs. 2 UVG). Im Moment der Rentenzusprache wird somit der gesamte Kapitalwert der Rente der Betriebsrechnung des Versicherungsträgers belastet (vgl. Art. 109 Abs. 2 UVV), wohingegen die laufenden Renten aus dem damit gebildeten Deckungskapital ausgerichtet werden (vgl. zum Rentenwertumlageverfahren: STEFAN KELLER, Der flexible Altersrücktritt im Bauhauptgewerbe, 2008, S. 443). Die Durchführung der Versicherung würde daher durch zusätzliche Rentenrevisionsverfahren mindestens erschwert. Auch aus den unterschiedlichen Finanzierungsverfahren der Taggelder und der Renten ergibt sich somit, dass die Bemessungsgrundsätze, welche für die einen entwickelt wurden, sich nicht ohne weiteres auf die anderen übertragen lassen.