BGE 137 V 314 |
32. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_310/2011 vom 18. Juli 2011 |
Regeste |
Art. 61 lit. d ATSG; Art. 28 IVG; reformatio in peius bei Rückweisungsentscheiden in IV-Rentenstreitigkeiten. |
Sachverhalt |
B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde des B. hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 16. Februar 2011 die Verfügungen vom 7. Juli 2010 auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung und zur Neuverfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
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C. B. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 16. Februar 2011 sei aufzuheben, die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese anzuweisen, ihm "vor Aufhebung der Verfügungen (...) vom 7. Juli 2010 zur weiteren Abklärung und zur Neuverfügung" das rechtliche Gehör mit Hinweis auf die Rückzugsmöglichkeit zu gewähren. |
Die IV-Stelle beantragt, auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht einzutreten, eventualiter diese abzuweisen. Das kantonale Versicherungsgericht verzichtet unter Hinweis auf die Begründung im angefochtenen Entscheid auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.
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D. Mit Verfügung vom 3. Juni 2011 ist das Gesuch von B. um aufschiebende Wirkung der Beschwerden abgewiesen worden.
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Das Bundesgericht tritt auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht ein, heisst aber die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut.
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Aus den Erwägungen: |
Die Eintretensvoraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 BGG gelten auch in Bezug auf die gleichzeitig erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 117 BGG; Urteile 8C_473/2009 vom 3. August 2009 E. 4.2 und 2D_144/2008 vom 23. März 2009 E. 4.1). Da mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auch eine willkürliche Rechtsanwendung oder Sachverhaltsfeststellung oder andere Verfassungsverletzungen gerügt werden können, bleibt für die subsidiäre Verfassungsbeschwerde indessen kein Raum und ist darauf nicht einzutreten (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 9C_42/2011 vom 27. April 2011 E. 1). |
Erwägung 2 |
Der Beschwerdeführer stellt diese Rechtsprechung in Frage. Sie stehe im Widerspruch zum Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Danach sei ein Zwischenentscheid nicht nur anfechtbar, wenn er mit Sicherheit einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirke, sondern es reiche, wenn er einen solchen bewirken könnte. Dies treffe in Konstellationen wie der vorliegenden zu. Der Chance auf die erneute Zusprechung mindestens einer halben Rente stehe das Risiko eines Wegfalls der Rente gegenüber. Der Gesetzeswortlaut führe zu einem Ergebnis, das der ratio legis, dass das Bundesgericht über eine bestimmte Sache nur einmal entscheiden müsse, entspreche. Er sei gewillt, die Beschwerde gegen die Rentenverfügung zurückzuziehen, wenn ihm die Vorinstanz gestützt auf Art. 61 lit. d ATSG (SR 830.1) die Gelegenheit dazu gebe.
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2.2 Die Änderung einer Rechtsprechung muss sich auf ernsthafte sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht (BGE 136 III 6 E. 3 S. 8; BGE 135 I 79 E. 3 S. 82; BGE 134 V 72 E. 3.3 S. 76). |
3. Unter dem Blickwinkel von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG zu prüfen ist, ob die Vorinstanz gestützt auf Art. 61 lit. d ATSG dem Beschwerdeführer unter Hinweis darauf, dass der rechtserhebliche Sachverhalt ungenügend abgeklärt sei und die Sache daher in Aufhebung der Rentenverfügung an die IV-Stelle zurückgewiesen werden könnte, Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde hätte geben müssen. Ist die Frage zu bejahen, kann aufgrund entsprechender Willensäusserung in diesem Verfahren sofort ein Endentscheid herbeigeführt werden in dem Sinne, dass in Gutheissung der Beschwerde der vorinstanzliche Entscheid aufgehoben und die Verfügung bestätigt werden kann (Urteil 9C_613/2007 vom 23. Oktober 2007 E. 3.3.1). |
3.2.1 Soweit er zur Begründung vorbringt, die Aufhebung einer Rentenverfügung und die Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle führe durchaus zu einer Schlechterstellung, wenn damit der mit dem angefochtenen Verwaltungsakt erworbene Besitzstand gefährdet werde, kann auf das in E. 2.2.2 hievor Gesagte verwiesen werden. Nichts ergibt sich sodann aus dem Wortlaut von Art. 61 lit. d ATSG. Immerhin trifft zu, dass der Begriff "reformatio in peius" (vgl. dazu auch ANNETTE GUCKELBERGER, Zur reformatio in peius vel melius in der schweizerischen Bundesverwaltungsrechtspflege nach der Justizreform, ZBl 111/2010 S. 98 ff.) nicht verwendet wird, sondern von "eine Verfügung oder einen Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person ändern" die Rede ist. Ob darunter auch die Aufhebung einer Rentenverfügung wegen eines unvollständig abgeklärten Sachverhalts fällt, ist fraglich, kann jedoch offenbleiben. |
3.2.2 Im Weitern lässt nichts den Schluss zu, mit Art. 61 lit. d ATSG sei das Interesse an der Klärung des Sachverhalts und der Gewährleistung der Durchsetzung des materiellen Rechts dem Willen der Beschwerde führenden Partei anheimgestellt worden. Gegenteils wird mit der laut Satz 1 dieser Bestimmung fehlenden Bindung an die Parteibegehren die Verwirklichung des objektiven Rechts über das subjektive Rechtsschutzinteresse gestellt (KIESER, a.a.O., mit Hinweis auf BGE 122 V 166 E. 2c in fine S. 168; vgl. auch GUCKELBERGER, a.a.O., S. 101 ff.). Dementsprechend gilt denn auch im Verfahren vor dem kantonalen Versicherungsgericht der Untersuchungsgrundsatz (Art. 61 lit. c ATSG; SVR 2010 EL Nr. 7 S. 19, 9C_724/2009 E. 3.2.3.1).
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3.2.4 Wortlaut und Normzweck von Art. 61 lit. d ATSG stehen einer Anwendung dieser Bestimmung in dem Sinne, dass der Beschwerde führenden Partei auch dann die Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde zu geben ist, wenn eine rentenzusprechende (z.B. Viertelsrente) Verfügung aufgehoben und die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurückgewiesen werden soll, nicht entgegen. Dazu hat die II. sozialrechtliche Abteilung die Zustimmung der I. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Art. 23 Abs. 1 BGG). Diese Lösung entspricht einer auch bei Bundesgesetzen zu beachtenden (SVR 2006 IV Nr. 47 S. 171, I 68/02 E. 3.2 mit Hinweisen) verfassungskonformen Auslegung und ist der geltenden anders lautenden Gerichtspraxis vorzuziehen. Sie steht im Einklang damit, dass in erster Linie die IV-Stelle für die richtige und vollständige Sachverhaltsabklärung zu sorgen hat (Art. 43 Abs. 1 ATSG; GUCKELBERGER, a.a.O., S. 102 und 112). Nicht betroffen sind kantonale Rückweisungsentscheide, welche auf rentenablehnende Verfügungen hin ergehen. Ferner kann sich die Hinweispflicht erübrigen, wenn das kantonale Gericht in den Erwägungen des Rückweisungsentscheides die von der IV-Stelle verfügte oder von ihm selber bejahte teilweise Rente (z.B. Viertelsrente) abschliessend als ausgewiesen und begründet erklärt. Was letztinstanzliche Rückweisungsentscheide anbelangt, die ein - eine teilweise Leistung (z.B. Viertelsrente) zusprechendes oder bestätigendes - Erkenntnis eines kantonalen Versicherungsgerichts aufheben, ist Art.107 Abs.1 BGG zu beachten, wenn nur die versicherte Person Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben hat (HANSJÖRG SEILER UND ANDERE, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 2 zu Art. 107 BGG; ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 2 zu Art. 107 BGG; vgl. BGE 136 V 362 E. 3.3.1 S. 364). |
3.3 Der Beschwerdeführer zieht die vorinstanzliche Beschwerde zurück, wenn er gestützt auf Art. 61 lit. d ATSG dazu Gelegenheit erhält (vorne E. 2.1 in fine). Damit kann durch Aufhebung des angefochtenen Entscheids und ohne die vorinstanzlich angeordneten Abklärungen durch die IV-Stelle sofort ein Endentscheid herbeigeführt werden. Eine Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Abschreibung des Verfahrens vom Geschäftsverzeichnis zufolge Rückzugs der Beschwerde ist nicht notwendig. Die Voraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG sind somit gegeben (vorne E. 3 Ingress) und die Beschwerde ist daher begründet.
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