BGE 137 V 314
 
32. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. B. gegen IV-Stelle des Kantons Aargau (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
9C_310/2011 vom 18. Juli 2011
 
Regeste
Art. 61 lit. d ATSG; Art. 28 IVG; reformatio in peius bei Rückweisungsentscheiden in IV-Rentenstreitigkeiten.
 
Sachverhalt


BGE 137 V 314 (314):

A. Mit Verfügungen vom 7. Juli 2010 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau (nachfolgend: IV-Stelle) dem 1964 geborenen B. eine halbe Rente der Invalidenversicherung für die Zeit vom 1. September 2007 bis 31. Mai 2008 sowie ab 1. Oktober 2008 zu.
B. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde des B. hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 16. Februar 2011 die Verfügungen vom 7. Juli 2010 auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung und zur Neuverfügung im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück.
C. B. lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und subsidiäre Verfassungsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,

BGE 137 V 314 (315):

der Entscheid vom 16. Februar 2011 sei aufzuheben, die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen und diese anzuweisen, ihm "vor Aufhebung der Verfügungen (...) vom 7. Juli 2010 zur weiteren Abklärung und zur Neuverfügung" das rechtliche Gehör mit Hinweis auf die Rückzugsmöglichkeit zu gewähren.
Die IV-Stelle beantragt, auf die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht einzutreten, eventualiter diese abzuweisen. Das kantonale Versicherungsgericht verzichtet unter Hinweis auf die Begründung im angefochtenen Entscheid auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat sich nicht vernehmen lassen.
D. Mit Verfügung vom 3. Juni 2011 ist das Gesuch von B. um aufschiebende Wirkung der Beschwerden abgewiesen worden.
Das Bundesgericht tritt auf die subsidiäre Verfassungsbeschwerde nicht ein, heisst aber die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten gut.
 
Aus den Erwägungen:
1. Der vorinstanzliche Entscheid hebt die Verfügungen vom 7. Juli 2010, mit welchen die IV-Stelle dem Beschwerdeführer eine halbe Rente für die Zeit vom 1. September 2007 bis 31. Mai 2008 sowie ab 1. Oktober 2008 zugesprochen hat, auf und weist die Sache an die Verwaltung zu weiterer Abklärung (psychiatrische Begutachtung) und neuer Entscheidung zurück. Dabei handelt es sich um einen - selbständig eröffneten - Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 482). Die Zulässigkeit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten setzt somit gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
Die Eintretensvoraussetzungen nach Art. 93 Abs. 1 BGG gelten auch in Bezug auf die gleichzeitig erhobene subsidiäre Verfassungsbeschwerde (Art. 117 BGG; Urteile 8C_473/2009 vom 3. August 2009 E. 4.2 und 2D_144/2008 vom 23. März 2009 E. 4.1). Da mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten auch eine willkürliche Rechtsanwendung oder Sachverhaltsfeststellung oder andere Verfassungsverletzungen gerügt werden können, bleibt für die

BGE 137 V 314 (316):

subsidiäre Verfassungsbeschwerde indessen kein Raum und ist darauf nicht einzutreten (Art. 95 lit. a BGG; Urteil 9C_42/2011 vom 27. April 2011 E. 1).
 
Erwägung 2
2.1 Die Rückweisung der Sache an die Verwaltung zu ergänzender oder weiterer Abklärung und neuer Entscheidung bewirkt in der Regel keinen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG (BGE 133 V 645 E. 2.1 S. 647; Urteile 8C_1012/2010 vom 31. März 2011 E. 2 und 9C_567/2008 vom 30. Oktober 2008 E. 2.1; HANSJÖRG SEILER, Rückweisungsentscheide in der neueren Sozialversicherungspraxis des Bundesgerichts, in: Sozialversicherungsrechtstagung 2008, S. 32 ff.). Dies gilt auch, wenn die vorinstanzlich angefochtene Verfügung eine Rente zuspricht oder revisionsweise bestätigt (Urteile 9C_710/2010 vom 30. September 2010; 9C_614/2010 vom 27. August 2010; 9C_728/2008 vom 6. April 2009 E. 2, nicht publ. in: BGE 135 V 141, aber in: SVR 2009 IV Nr. 38 S. 109; 9C_446/2007 vom 5. Dezember 2007 und 9C_613/2007 vom 23. Oktober 2007; vgl. auch SVR 2011 IV Nr. 12 S. 32, 9C_45/2010 E. 1.2).
Der Beschwerdeführer stellt diese Rechtsprechung in Frage. Sie stehe im Widerspruch zum Wortlaut von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG. Danach sei ein Zwischenentscheid nicht nur anfechtbar, wenn er mit Sicherheit einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirke, sondern es reiche, wenn er einen solchen bewirken könnte. Dies treffe in Konstellationen wie der vorliegenden zu. Der Chance auf die erneute Zusprechung mindestens einer halben Rente stehe das Risiko eines Wegfalls der Rente gegenüber. Der Gesetzeswortlaut führe zu einem Ergebnis, das der ratio legis, dass das Bundesgericht über eine bestimmte Sache nur einmal entscheiden müsse, entspreche. Er sei gewillt, die Beschwerde gegen die Rentenverfügung zurückzuziehen, wenn ihm die Vorinstanz gestützt auf Art. 61 lit. d ATSG (SR 830.1) die Gelegenheit dazu gebe.
2.2.2 Ein solcher rechtlicher Nachteil ist bei Aufhebung einer Rentenverfügung und Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle insofern nicht gegeben, als der Anspruch nicht resp. erst mit Eintritt der Rechtskraft als erworben gelten kann (Urteil 9C_875/2010 vom 28. März 2011 E. 4.2.2; vgl. auch BGE 136 V 45 E. 6.2 S. 46). Dementsprechend bildet die Rente insgesamt (Umfang des Anspruchs, Beginn, Dauer und Höhe der Leistung) Streitgegenstand des erstinstanzlichen Beschwerdeverfahrens (BGE 125 V 413 E. 2d S. 417 f.; ZAK 1988 S. 613, I 449/86 E. 2b). Dies verkennt der Beschwerdeführer, wenn er vorbringt, er habe mit der vorinstanzlichen Beschwerde (lediglich) eine Erhöhung der halben Rente beabsichtigt und der angefochtene Entscheid greife in seinen Besitzstand ein, weil er damit seinen bestehenden Anspruch auf eine halbe Rente verliere.
3.1 Art. 61 lit. d ATSG lautet wie folgt: "Das Versicherungsgericht ist an die Begehren der Parteien nicht gebunden. Es kann eine Verfügung oder einen Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person ändern oder dieser mehr zusprechen, als sie verlangt hat, wobei den Parteien vorher Gelegenheit zur Stellungnahme sowie zum Rückzug der Beschwerde zu geben ist." Nach der Rechtsprechung bedeutet die blosse Möglichkeit einer Schlechterstellung infolge Aufhebung der Verfügung über eine Rente und Rückweisung der Sache zu ergänzender Sachverhaltsabklärung sowie neuer Entscheidung an die IV-Stelle keine reformatio in peius im Sinne dieser Bestimmung (Urteil 9C_990/2009 vom 4. Juni 2010 E. 2). Das Verfahren wird dadurch lediglich in den Zustand vor Erlass der Verfügung zurückversetzt. Der Ausgang des weiteren Verfahrens ist völlig offen, und die zu erlassende neue Verfügung ist in gleicher Weise anfechtbar, wie es die erste war (ARV 1995 S. 138, C 30/94 E. 3a mit Hinweisen; ZBJV 140/2004 S. 752, C 259/03 E. 2; Urteil 9C_613/2007 vom 23. Oktober 2007 E. 3.3.2; vgl. auch SVR 2011 IV Nr. 19 S. 51, 9C_6/2010; ferner UELI KIESER, ATSG-Kommentar, 2. Aufl. 2008, N. 93 ff. zu Art. 61 ATSG). Ein in diesem Sinne kasatorischer Entscheid stellt selbst dann keine reformatio in peius dar, wenn die angeordneten Abklärungen im Rechtsmittelverfahren nicht beanstandete, aber von Amtes wegen zu prüfende Belange betreffen. Dies ergibt sich im Übrigen auch aus der Begriffsumschreibung der "reformatio in peius (vel melius)", welche erkennen lässt, dass eine solche nur vorliegen kann, wenn die angefochtene Verfügung "reformiert" wird, d.h. wenn die Rechtsmittelinstanz in der Sache selbst abschliessend entscheidet (ZAK 1988 S. 613, I 449/86 E. 2; vgl. auch Urteil 9C_992/2008 vom 6. Januar 2009 E. 2).
3.2.1 Soweit er zur Begründung vorbringt, die Aufhebung einer Rentenverfügung und die Rückweisung der Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle führe durchaus zu einer Schlechterstellung, wenn damit der mit dem angefochtenen Verwaltungsakt erworbene Besitzstand gefährdet werde, kann auf das in E. 2.2.2 hievor Gesagte verwiesen werden. Nichts ergibt sich sodann aus dem Wortlaut von Art. 61 lit. d ATSG. Immerhin trifft

BGE 137 V 314 (319):

zu, dass der Begriff "reformatio in peius" (vgl. dazu auch ANNETTE GUCKELBERGER, Zur reformatio in peius vel melius in der schweizerischen Bundesverwaltungsrechtspflege nach der Justizreform, ZBl 111/2010 S. 98 ff.) nicht verwendet wird, sondern von "eine Verfügung oder einen Einspracheentscheid zu Ungunsten der Beschwerde führenden Person ändern" die Rede ist. Ob darunter auch die Aufhebung einer Rentenverfügung wegen eines unvollständig abgeklärten Sachverhalts fällt, ist fraglich, kann jedoch offenbleiben.
3.2.3 Begründet ist hingegen die Rüge der Ungleichbehandlung gegenüber Beschwerde führenden Versicherten, bei denen das kantonale Versicherungsgericht die verfügungsweise zugesprochene Rente herabsetzt oder sogar aufhebt. Diese Personen haben die Möglichkeit, die Beschwerde zurückzuziehen und so der drohenden Verschlechterung ihrer Rechtsposition zu entgehen. Lässt aber Art. 61 lit. d ATSG den Rückzug der Beschwerde gegen eine als rechtsfehlerhaft erkannte Verfügung zu, muss dies umso mehr gelten, wenn das erstinstanzliche Gericht den Sachverhalt als unvollständig abgeklärt erachtet und die Sache zu weiterer Abklärung und zu neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurückweist, weil damit die Rente nicht herabgesetzt oder aufgehoben wird, vielmehr Bestehen und Umfang des Anspruchs (weiterhin) offen sind. Die Rentenzusprechung könnte korrekt sein oder sogar zu Ungunsten der versicherten Person fehlerhaft, wie in der Beschwerde ausgeführt wird. Die Tatsache allein, dass die Herabsetzung oder Aufhebung der verfügungsweise zugesprochenen Rente in einem reformatorischen Entscheid erfolgt, stellt keinen Grund für die gerügte Ungleichbehandlung dar, und zwar umso weniger, als auch im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren der Untersuchungsgrundsatz gilt (vorne E. 3.2.2 in fine).


BGE 137 V 314 (320):

3.2.4 Wortlaut und Normzweck von Art. 61 lit. d ATSG stehen einer Anwendung dieser Bestimmung in dem Sinne, dass der Beschwerde führenden Partei auch dann die Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde zu geben ist, wenn eine rentenzusprechende (z.B. Viertelsrente) Verfügung aufgehoben und die Sache zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurückgewiesen werden soll, nicht entgegen. Dazu hat die II. sozialrechtliche Abteilung die Zustimmung der I. sozialrechtlichen Abteilung eingeholt (Art. 23 Abs. 1 BGG). Diese Lösung entspricht einer auch bei Bundesgesetzen zu beachtenden (SVR 2006 IV Nr. 47 S. 171, I 68/02 E. 3.2 mit Hinweisen) verfassungskonformen Auslegung und ist der geltenden anders lautenden Gerichtspraxis vorzuziehen. Sie steht im Einklang damit, dass in erster Linie die IV-Stelle für die richtige und vollständige Sachverhaltsabklärung zu sorgen hat (Art. 43 Abs. 1 ATSG; GUCKELBERGER, a.a.O., S. 102 und 112). Nicht betroffen sind kantonale Rückweisungsentscheide, welche auf rentenablehnende Verfügungen hin ergehen. Ferner kann sich die Hinweispflicht erübrigen, wenn das kantonale Gericht in den Erwägungen des Rückweisungsentscheides die von der IV-Stelle verfügte oder von ihm selber bejahte teilweise Rente (z.B. Viertelsrente) abschliessend als ausgewiesen und begründet erklärt. Was letztinstanzliche Rückweisungsentscheide anbelangt, die ein - eine teilweise Leistung (z.B. Viertelsrente) zusprechendes oder bestätigendes - Erkenntnis eines kantonalen Versicherungsgerichts aufheben, ist Art.107 Abs.1 BGG zu beachten, wenn nur die versicherte Person Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhoben hat (HANSJÖRG SEILER UND ANDERE, Bundesgerichtsgesetz [BGG], 2007, N. 2 zu Art. 107 BGG; ULRICH MEYER, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2008, N. 2 zu Art. 107 BGG; vgl. BGE 136 V 362 E. 3.3.1 S. 364).