BGE 139 V 99
 
14. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle des Kantons St. Gallen gegen B. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
9C_971/2012 vom 13. Februar 2013
 
Regeste
Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG; Art. 6 Ziff. 1 EMRK; Art. 29 Abs. 1 BV; nicht wieder gutzumachender Nachteil durch eine nach BGE 137 V 210 E. 4 S. 258 nicht gerechtfertigte Rückweisung?
 
Sachverhalt


BGE 139 V 99 (99):

B. erhob gegen einen abschlägigen Rentenentscheid der IV-Stelle des Kantons St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) vom 16. September 2010 Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Dieses hob die angefochtene Verfügung auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung der Arbeitsfähigkeit und zur neuen Verfügung an die Verwaltung zurück; die bei den Akten liegenden MEDAS-Gutachten aus den Jahren 2004 und 2010 seien nicht

BGE 139 V 99 (100):

schlüssig, der medizinische Sachverhalt sei mithin unzureichend abgeklärt (Entscheid vom 20. November 2012).
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses ein Gerichtsgutachten einhole.
Die I. und die II. sozialrechtliche Abteilung haben zur folgenden Rechtsfrage ein Verfahren nach Art. 23 Abs. 2 BGG durchgeführt:
    "Nicht wieder gutzumachender Nachteil durch eine nach BGE 137 V 210 E. 4 S. 258 nicht gerechtfertigte Rückweisung?: Der Entscheid der Beschwerdeinstanz, die Sache zur weiteren medizinischen Abklärung an die IV-Stelle zurückzuweisen, ist vor Bundesgericht regelmässig nicht anfechtbar.
    Stimmen die betroffenen Abteilungen dieser Schliessung der in BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 in fine S. 265 offen gelassenen Frage zu?"
Die beiden sozialrechtlichen Abteilungen haben die Rechtsfrage einstimmig bejaht.
Das Bundesgericht tritt auf die Beschwerde nicht ein.
 
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 1


BGE 139 V 99 (101):

1.3 Die Beschwerde an das Bundesgericht ist zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Endentscheide; Art. 90 BGG). Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen Zwischenentscheid (BGE 133 V 477 S. 481 f. E. 4.2 und 5.1), gegen den die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nur zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG), oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit und Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b). Ein Zwischenentscheid bleibt im Rahmen einer Beschwerde gegen den Endentscheid anfechtbar, sofern er sich auf dessen Inhalt auswirkt (Art. 93 Abs. 3 BGG).
1.4 Der Eintretensgrund von Art. 93 Abs. 1 lit. b BGG fällt hier ohne weiteres ausser Betracht. Derweil kann ein Rückweisungsentscheid der beschwerdeführenden IV-Stelle einmal dann einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken (Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG), wenn er materiellrechtliche Anordnungen enthält, welche ihren Beurteilungsspielraum wesentlich einschränken, ohne dass sie die ihres Erachtens rechtswidrige neue Verfügung selber anfechten könnte (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483; SVR 2012 AHV Nr. 15 S. 55, 9C_171/2012 E. 3.3.1). Dies trifft hier aber nicht zu. Zu prüfen bleibt somit, ob eine ungerechtfertigte Rückweisung aus Sicht der IV-Stelle andere nachteilige Konsequenzen haben kann, die sich im Rahmen einer Anfechtung des Endentscheids (Art. 93 Abs. 3 BGG) letztinstanzlich nicht gänzlich beseitigen lassen (vgl. BGE 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382).
 
Erwägung 2
2.1 Die (im durch BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 [oben E. 1.1] definierten Umfang bestehende) Verpflichtung der Beschwerdeinstanzen, Gerichtsgutachten einzuholen, dient aus Sicht der versicherten Person zunächst der Fairness des Verfahrens (vgl. BGE 137 V 210 E. 4.2 S. 259); diese wiederum ist wesentliche Voraussetzung einer tragfähigen medizinischen Entscheidungsgrundlage (vgl. BGE 138 V 271 E. 1.2.1 und 1.2.2 S. 275 f.; BGE 137 V 210 E. 2.5 S. 241 mit Hinweisen). An einer solchen müssen versicherte Person und IV-Stelle gleichermassen ein Interesse haben. Zu bedenken ist dabei, dass die IV-Stelle nicht als Partei handelt, sondern als zur Neutralität und Objektivität verpflichtetes Organ des Gesetzesvollzuges, solange in der Sache kein Beschwerdeverfahren angehoben ist. Selbst nach

BGE 139 V 99 (102):

Eintritt der Rechtshängigkeit wird die Verwaltung zwar im prozessualen Sinne zur Partei; sie ist lite pendente indessen weiterhin der Objektivität verpflichtet und hat daher nicht auch im materiellen Sinn Parteieigenschaft (BGE 136 V 376 E. 4.1.2 S. 378 mit Hinweisen).
    "Für die Beurteilung des Merkmals des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Kontext der Gutachtenanordnung ist an die oben (...) vorgenommene verfassungsbezogene Auslegung der Garantien für das Abklärungsverfahren anzuknüpfen. Auch hier fällt ins Gewicht, dass das Sachverständigengutachten im Rechtsmittelverfahren mit Blick auf die fachfremde Materie faktisch nur beschränkt überprüfbar ist. Mithin kommt es entscheidend darauf an, dass qualitätsbezogene Rahmenbedingungen (beispielsweise hinsichtlich der gutachterlichen Fachkompetenz; [...]) von Beginn weg durchgesetzt werden können (...). Greifen die Mitwirkungsrechte erst nachträglich - bei der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Beschwerdeverfahren (...) -, so kann hieraus ein nicht wieder gutzumachender Nachteil entstehen, zumal im Anfechtungsstreitverfahren kein Anspruch auf Einholung von Gerichtsgutachten besteht. Hinzu kommt, dass die mit medizinischen Untersuchungen einhergehenden Belastungen zuweilen einen erheblichen Eingriff in die physische oder psychische Integrität bedeuten. Aus diesen Gründen sowie angesichts der geschilderten Merkmale der Vergabepraxis besteht ein gesteigertes Bedürfnis nach gerichtlichem Rechtsschutz. Daher ist im Rahmen einer verfassungs- und konventionskonformen Auslegung die Eintretensvoraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren zu bejahen, zumal die nicht sachgerechte Begutachtung in der Regel einen rechtlichen und nicht nur einen tatsächlichen Nachteil bewirken wird (...)."
Diese Überlegungen sind im Kontext einer (ungerechtfertigten) Rückweisung sinngemäss massgebend. Somit droht hier prinzipiell derselbe Nachteil. Bei Streitigkeiten um die Anordnung von Administrativgutachten steht eine Beschwerdeinstanz zur Verfügung, deren Entscheid allerdings regelmässig nicht an das Bundesgericht weitergezogen werden kann (BGE 138 V 271 E. 3 S. 278). Im hiesigen Zusammenhang stellt sich die Frage, ob eine Anfechtungsmöglichkeit vor Bundesgericht vorgesehen werden muss, zumal dieses einzige mögliche Beschwerdeinstanz ist.
 
Erwägung 2.3
2.3.1 Holt eine Beschwerdeinstanz zu Unrecht kein Gerichtsgutachten ein und weist sie die Sache stattdessen an die IV-Stelle zurück, so beeinträchtigt dieses Vorgehen nach dem Gesagten die mit

BGE 139 V 99 (103):

BGE 137 V 210 E. 4 S. 258 verfolgte Zielsetzung. Die nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ausnahmsweise gegebene Anfechtbarkeit eines Zwischenentscheids steht indessen nur zur Diskussion, wenn ein effektiver Rechtsschutz (Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 ff. BV; BGE 138 V 271 E. 3.1 S. 278) nicht auf andere Weise gewährleistet werden kann (vgl. BGE 138 V 271 E. 3.2 S. 278). Diese Anforderung ist erfüllt: Das Bundesgericht wird im Fall eines Weiterzugs des Endentscheids prüfen, ob die Rückweisung an die Verwaltung gerechtfertigt war. Verneint es diese Frage, so kann es die Sache seinerseits an die erste Beschwerdeinstanz zurückweisen, damit diese ein Gerichtsgutachten einhole. Mit dieser Begründung ist das Bundesgericht in einer unfallversicherungsrechtlichen Angelegenheit auf die entsprechende Beschwerde einer Versicherten nicht eingetreten (SVR 2012 UV Nr. 19 S. 71, 8C_760/2011 E. 3).
2.3.2 Zur Beantwortung der Frage, in welchen Fällen so verfahren werden soll, ist sinngemäss auf die Rechtsprechung zurückzugreifen, wonach (in Übergangssituationen) ein nach altem Standard (das heisst noch ohne Gewährung der in BGE 137 V 210 statuierten Beteiligungsrechte) in Auftrag gegebenes Gutachten grundsätzlich zwar eine massgebende Entscheidungsgrundlage bildet. Das Manko wird jedoch bei der Beweiswürdigung berücksichtigt; ähnlich wie bei versicherungsinternen medizinischen Entscheidungsgrundlagen (vgl. BGE 135 V 465 E. 4.4-4.7 S. 469 ff.) genügen schon relativ geringe Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der (verwaltungsexternen) ärztlichen Feststellungen, um eine (neue) Begutachtung anzuordnen (Urteile 9C_495/2012 vom 4. Oktober 2012 E. 2.2 und 2.3 sowie 9C_148/2012 vom 17. September 2012 E. 1.3 und 1.4; ferner SVR 2012 IV Nr. 32 S. 127, 9C_776/2010 E. 3.3 in fine; Urteile 9C_942/2011 vom 6. Juli 2012 E. 5.2 und 8C_360/2011 vom 13. Februar 2012 E. 4.2; vgl. auch BGE 137 V 210 E. 6 Ingress S. 266). Auf den hiesigen Kontext übertragen bedeutet dies, dass das Bundesgericht die Sache zwecks Einholung eines Gerichtsgutachtens an die erste Beschwerdeinstanz zurückweist, sobald der Beweiswert des nach einer ungerechtfertigten (vgl. oben E. 1.1) Rückweisung eingeholten Administrativgutachtens auch nur relativ geringfügig beeinträchtigt erscheint.
2.4 Die IV-Stellen tragen bei einer ungerechtfertigten Rückweisung (jedenfalls) einen zusätzlichen Abklärungsaufwand sowie (gegebenenfalls) das Risiko, dass das neu eingeholte Administrativgutachten letztlich wiederum nicht als genügende Beweisgrundlage angesehen

BGE 139 V 99 (104):

wird. Rein tatsächliche Nachteile wie eine Verlängerung und Verteuerung des Verfahrens allein reichen nach gefestigter Rechtsprechung indessen nicht aus, um einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil anzunehmen (BGE 137 III 380 E. 1.2.1 S. 382 mit Hinweisen). Darüber hinaus entsteht nach dem Gesagten kein irreversibler Nachteil. Somit entfällt die Möglichkeit einer Beschwerde an das Bundesgericht. Die bereits mit SVR 2012 UV Nr. 19 S. 71, 8C_760/2011 E. 3 in diesem Sinne gegebene Antwort auf die in BGE 137 V 210 E. 4.4.1.4 in fine S. 265 offengelassene Frage ist zu bestätigen.