BGE 139 V 115
 
17. Auszug aus dem Urteil der I. sozialrechtlichen Abteilung i.S. D. gegen IV-Stelle Zug (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
 
8C_813/2012 vom 5. März 2013
 
Regeste
Art. 21 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 2 HVI; Ziff. 15.02 HVI-Anhang.
 


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Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 2


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2.2 Zu beurteilen ist, ob Anspruch auf die Abgabe eines ProxTalker durch die Invalidenversicherung besteht. Anhand von Symbolkärtchen, die auf das Gerät gelegt und gedrückt werden, erkennt der ProxTalker codierte Nachrichten und macht diese mittels Sprachausgabe hörbar. Laut Benutzerhandbuch soll die Kommunikationshilfe Menschen eine (neue) Stimme geben und ihnen eine einfachere Möglichkeit zum Gespräch mit anderen bieten.
 
Erwägung 3
3.3 In Ausführung dieser Grundsatznorm und gestützt auf eine Subdelegation (Art. 14 IVV; SR 831.201) erliess das Eidgenössische Departement des Innern die Verordnung vom 29. November 1976 über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (HVI; SR 831.232.51). Die dort angefügte Liste sieht die Abgabe von elektrischen und elektronischen Kommunikationsgeräten für schwer sprech- und schreibbehinderte Versicherte vor, die zur Pflege des täglichen Kontakts mit der Umwelt auf ein solches Gerät angewiesen sind und über die notwendigen intellektuellen und motorischen Fähigkeiten zur Bedienung eines solchen Geräts verfügen; die Abgabe erfolgt leihweise (Ziff. 15.02 HVI-Anhang). Diese Bestimmung hat die Verwaltung in ihren Weisungen konkretisiert. Nach Rz. 15.02.1 des Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) über die Abgabe von Hilfsmitteln durch die Invalidenversicherung (KHMI; http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:34) fallen unter den Begriff der elektrischen und elektronischen Kommunikationsgeräte elektrische und elektronische Schreibgeräte sowie Geräte mit synthetischer Sprachausgabe. Diese enge Definition der (elektrischen und elektronischen)

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Kommunikationsgeräte hat das Bundesgericht mit Blick auf den Wortlaut von Ziff. 15.02 HVI-Anhang dahin gehend präzisiert, dass unter Kommunikation - entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch - nicht bloss die Verständigung mittels (geschriebener oder gesprochener) Sprache zu verstehen ist, sondern auch die Verständigung durch Zeichen und andere Mittel (Urteil 9C_214/2008 vom 31. Juli 2008 E. 2.3).
 
Erwägung 4
4.2 Die Möglichkeiten der Versicherten, den Kontakt mit der Umwelt herzustellen, sind aufgrund ihrer Behinderung (Angelman-Syndrom) stark eingeschränkt. Es besteht eine schwere Sprechbehinderung mit fehlender Sprachentwicklung. Gemäss den fachärztlichen Angaben ist syndrombedingt auch nicht mit dem Erwerb einer aktiven Lautsprache zu rechnen. Im Gegensatz zu anderen von einem Angelman-Syndrom betroffenen Kindern verfügt die Versicherte aber über ein sehr gutes Sprachverständnis, einen ausgeprägten Kommunikationswunsch und eine soziale Interaktionsfähigkeit. Als Folge ihrer Grunderkrankung konnte sie auch keine Gebärden erlernen und aktiv anwenden. Die Mittel, um auf sich aufmerksam zu machen oder von sich aus etwas mitzuteilen, sind daher sehr begrenzt und beschränken sich auf das Zeigen auf Kärtchen, Fotos und Symbole. Das Kommunikationsgerät bringt diesbezüglich insofern eine Verbesserung, als es die Versicherte in die Lage versetzt, einfache Sprachinhalte zu vermitteln. Nach Angaben der mit ihr befassten Ärzte und Therapeuten kann der ProxTalker aufgrund seiner variablen Funktionsweise an die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes angepasst werden und ihm so die Möglichkeit geben, sich selbst verbal kommunikativ auszudrücken. Das modulare System gewährleistet eine dauernde Adaption an den vorhandenen Wort- und Begriffsschatz. Da der ProxTalker eine verbale Kommunikation im Sinne der

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Vermittlung einfacher Sprachinhalte im Fall der Versicherten überhaupt erst möglich macht, ging die Vorinstanz davon aus, dass dem Gerät Hilfsmittelcharakter zuerkannt werden kann, sofern die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind.
 
Erwägung 5
5.1 Der Anspruch auf Hilfsmittel im Rahmen der im HVI-Anhang aufgeführten Liste erstreckt sich auf Vorkehren, die für den Kontakt mit der Umwelt notwendig sind (Art. 2 Abs. 1 HVI). Das Erfordernis ergibt sich aus dem allgemein für Eingliederungsmassnahmen geltenden Grundsatz, dass die versicherte Person in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen hat, nicht aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG). Das Gesetz will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als dies im Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist (BGE 134 I 105 E. 3 S. 107; BGE 131 V 9 E. 3.6.1 S. 19). Nach der Rechtsprechung bezieht sich die Notwendigkeit des Hilfsmittels auf die konkrete Situation, in welcher die versicherte Person lebt (BGE 135 I 161 E. 5.1 S. 166). Zudem besteht nur Anspruch auf Hilfsmittel in einfacher und zweckmässiger Ausführung (Art. 21 Abs. 3 IVG und Art. 2 Abs. 4 HVI). Die einfache und zweckmässige Hilfsmittelversorgung muss zeitgemäss sein (BGE 132 V 215 E. 4.3.3 S. 227; SVR 2011 IV Nr. 64 S. 191, 9C_807/2010 E. 31; vgl. für den Bereich der Kommunikationsgeräte auch: SVR 2005 IV Nr. 23 S. 89, I 722/03 E. 4.1).
5.2 Die Vorinstanz hat einen Anspruch auf Abgabe des ProxTalker verneint, weil die Versicherte für die Herstellung und Pflege des täglichen Kontaktes mit der Umwelt nicht auf ein solches Kommunikationsgerät angewiesen sei. Die gesprochene Sprache stellt nach Ansicht des kantonalen Gerichts keine zwingende Voraussetzung für die Kommunikation dar, sondern könne, gerade bei kleinen Kindern, bei denen die Auseinandersetzung mit der Umwelt nicht auf die verbale Ebene beschränkt sei, auch durch Zeichen oder andere Mittel erfolgen. Da die Versicherte in der Lage sei, auf die gesprochene Sprache nonverbal zu reagieren, könne sie ihr Mitteilungsbedürfnis auch ohne das beantragte Gerät befriedigen, indem sie beispielsweise auf ein Bild oder Foto zeige. Für die Herstellung des Kontaktes mit der Umwelt sei der ProxTalker nicht notwendig, denn er ermögliche keine spontane und situationsbezogene Kommunikation, sondern lediglich die Wiedergabe vordefinierter und eigens

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programmierter Wörter, Geräusche und Sätze. Daraus schloss die Vorinstanz, dass - soweit bei der Versicherten überhaupt möglich - die Verfestigung logopädisch vermittelter (Wort-)Kenntnisse und Fähigkeiten und damit therapeutische Anstrengungen im Vordergrund stünden.
5.3 In der Beschwerde wird geltend gemacht, entgegen dem angefochtenen Entscheid trage der ProxTalker durchaus zur spontanen, situationsbezogenen Kommunikation bei. In diesem Sinne sei er zur Pflege des Kontakts mit der Umwelt und aktiven Teilnahme am Familien- und Gesellschaftsleben notwendig. Der Vorinstanz wird vorgeworfen, den Angaben in den medizinischen Unterlagen und den Fachberichten der Ergotherapeutin und der Berufsberaterin der IV-Stelle hinsichtlich der beschränkten Möglichkeiten einer nonverbalen Reaktion und Kommunikation der Versicherten nicht genügend Rechnung zu tragen. Kritisiert wird auch, dass eine Verständigung mittels Zeichen oder anderer Mittel keine ausreichende Kommunikationsform darstelle und zunehmend an Grenzen stosse. Bildkarten und Fotos würden dem Kommunikationsbedürfnis der Versicherten nicht mehr gerecht und könnten keinen Beitrag zur Weiterentwicklung eines Kindes im Grundschulalter leisten. Die von der Vorinstanz geäusserte Befürchtung einer Vernachlässigung der zwischenmenschlichen Zuwendung wegen des Einsatzes des ProxTalker ist nach Ansicht der Eltern unbegründet, da das Kind aufgrund seiner schweren Hilflosigkeit intensive Pflege und Aufmerksamkeit erhalte.
 
Erwägung 6
 
Erwägung 6.1
6.1.1 Der ProxTalker erlaubt es sprechbehinderten Personen, mittels indirekter verbaler Kommunikation, sich selbst verbal-kommunikativ auszudrücken. Im Gegensatz zur Verwendung von Kärtchen mit Bildern und Symbolen ist somit eine gleichzeitige "eigene" Sprachausgabe möglich. Die Lautsprache ist unter Anwesenden die üblichere Form der Kommunikation als das Zeigen auf Bilder. Etwas anderes kann auch dem von der Vorinstanz erwähnten Urteil 9C_214/2008 vom 31. Juli 2008 E. 2.3 nicht entnommen werden. Wenn dort im Zusammenhang mit einem "Big Buddy Button" ausgeführt wurde, unter Kommunikation sei auch die Verständigung durch Zeichen oder andere Mittel zu verstehen, kann daraus nicht abgeleitet werden, die Verständigung durch Zeichen, Laute und Gesten stelle bereits eine ausreichende Kommunikationsform dar und lasse ein Kommunikationsgerät mit Sprachausgabe als nicht notwendig erscheinen. Eine Verbesserung gegenüber einfachen

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Bildern bietet der ProxTalker insofern, als er der Versicherten aufgrund der Sprachausgabe eine Kontaktaufnahme aus eigenem Antrieb erlaubt, indem diese beispielsweise jemanden "rufen" kann. Anhand von Bildern und Fotos kann sie zwar etwas zu essen oder die Wasserflasche verlangen, indem sie das Bild einer Bezugsperson bringt. Dafür muss sie jedoch zuerst deren volle Aufmerksamkeit erlangen.
 
Erwägung 6.2
6.2.2 Im Unterschied zu dem in BGE 131 V 9 beurteilten Fall eines von Trisomie 21 betroffenen Kindes dient der ProxTalker nicht hauptsächlich dem Spracherwerb oder dem Aneignen der Sprechfähigkeit der Versicherten. Im Gegensatz zu einem an Trisomie 21 leidenden Kind, das im Vergleich mit nichtbehinderten Altersgenossinnen und Altersgenossen einen Entwicklungsrückstand hinsichtlich Wortschatz und Artikulationsfähigkeit aufweist und bei dem es somit nicht darum geht, mit Hilfe eines Kommunikationsgerätes ein behinderungsbedingt bleibendes Defizit auszugleichen, fehlt bei der Versicherten aufgrund ihrer Grunderkrankung die für eine Sprachentwicklung notwendige Basis. Sie wird mit

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überwiegender Wahrscheinlichkeit nie eine Lautsprache erwerben können. Anders als andere Kinder in ihrem Alter verfügt sie nicht über eine eingeschränkte, sondern über gar keine eigene verbale Kommunikation. Es geht folglich in erster Linie darum, ihr mittels bildunterstützter (verbaler) Kommunikationshilfe überhaupt die Möglichkeit zu geben, aus eigenem Antrieb Kontakt aufzunehmen und ihre (Grund-) Bedürfnisse mitzuteilen. Damit kommt dem ProxTalker bei der eigentlichen Kommunikation im Alltag eine wesentliche selbstständige Bedeutung zu.
 
Erwägung 6.3
6.3.2 Die Anerkennung des ProxTalker als Kommunikationsgerät kann entgegen dem angefochtenen Entscheid nicht mit dem Argument verneint werden, dieses erlaube keine spontane und situationsbezogene Kommunikation. Für die pflegerische Betreuung bedeutet es beispielsweise schon eine erhebliche Erleichterung, wenn das Gerät vorprogrammierte Wörter und Sätze wiedergibt. Der ProxTalker ist für die Versicherte die einzige Möglichkeit einer sprachlichen Kommunikation überhaupt. Da sie sich auch keiner über das Zeigen auf Bilder oder Gegenstände hinausgehenden Gebärdensprache bedienen kann und aufgrund der fehlenden kognitiven und motorischen Voraussetzungen nicht mit einer Schreibfähigkeit zu rechnen ist, kommt dem Gerät im Rahmen der Mitteilung elementarer Lebensbedürfnisse erhebliche Bedeutung zu, auch wenn dieses der Versicherten nicht erlaubt, sich aller Facetten der Sprache und der spontanen und situationsbezogenen Interaktion zu bedienen. Eine solche Verbesserung des täglichen Kontakts wird vom gesetzlich angestrebten Eingliederungserfolg von Art. 21 Abs. 2 IVG erfasst, dessen Ziel es ist, die Autonomie der invaliden Person aufgrund der in der Liste angeführten Hilfsmittel zu fördern.


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6.4 Da der ProxTalker der Versicherten eine über den nonverbalen Ausdruck mittels Zeigen auf Bilder hinausgehende Kommunikation erst ermöglicht und sie für die Pflege des täglichen Kontaktes mit der Umwelt auf ein ihre Kommunikationsfähigkeit unterstützendes Gerät angewiesen ist, ist der ProxTalker in ihrem Falle als notwendiges Hilfsmittel im Sinne von Art. 2 Abs. 1 HVI in Verbindung mit Ziff. 15.02 HVI-Anhang zu betrachten.
 
Erwägung 7