BGE 147 V 2 |
1. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Swisscanto Sammelstiftung der Kantonalbanken gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_615/2019 vom 3. September 2020 |
Regeste |
Art. 25, Art. 73 Abs. 1 und 2 BVG; Art. 71ter Abs. 3 AHVV; Invalidenkinderrente; Aktivlegitimation; Drittauszahlung. |
Die Invalidenkinderrente der beruflichen Vorsorge kann nicht direkt dem volljährigen Kind ausbezahlt werden. Für eine analoge Anwendung von Art. 71ter Abs. 3 AHVV ist in der beruflichen Vorsorge keine rechtliche Grundlage vorhanden (qualifiziertes Schweigen von Gesetz- und Verordnungsgeber; E. 4). |
Sachverhalt |
A.a Mit Beschluss vom 2. August 2007 entzog die Sozialbehörde der Gemeinde C. B. die Obhut über ihre 1993 geborene Tochter A.
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A.b Die zuständige Berufsvorsorgeversicherung Swisscanto Sammelstiftung der Kantonalbanken (nachfolgend: Swisscanto) richtete B. ab November 2006 eine Invalidenrente sowie eine Invalidenkinderrente aus. Die Swisscanto überwies die Renten zunächst an den Sozialdienst der Gemeinde C. Ab 1. Januar 2013 richtete sie die Invalidenrente an B. und die Invalidenkinderrente mit Zustimmung der Mutter direkt an die Tochter aus. Nachdem B. ihre Zustimmung zur Direktauszahlung an die Tochter ab 1. Juli 2013 widerrufen hatte, zahlte die Swisscanto die Invalidenkinderrente zusammen mit der Invalidenrente an B. aus.
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In der Folge verlangte A. von der Swisscanto am 18. April 2013 die Direktauszahlung der Kinderrente ab Januar 2013 an sich selber zur Sicherstellung ihres Lebensunterhaltes. Die Swisscanto verweigerte dies und teilte A. mit, dass sie dafür die schriftliche Einwilligung ihrer Mutter oder eine Feststellungsverfügung des Gerichts benötige. Auf den 1. April 2015 hin stellte die Swisscanto die Auszahlung der Invalidenkinderrente an B. ein und gab bekannt, dass B. für die weitere Ausrichtung der Kinderrente eine neue Ausbildungsbescheinigung oder eine aktuelle Bestätigung der Ausgleichskasse zuzustellen habe. In der Zwischenzeit hatte sich A. mit Gesuch vom 19. August 2014 mit Hinweis auf ein psychisches Leiden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet.
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B. Am 28. Dezember 2017 erhob A. Klage gegen die Swisscanto. Sie beantragte Folgendes:
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"Die Beklagte sei zu verpflichten, der Klägerin mit Wirkung ab 1.1.2013
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die gesetzlichen und reglementarischen BVG-Invalidenkinderrenten, insbesondere
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eine jährliche Invalidenkinderrente in Höhe von mindestens
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CHF 7'601.20, zu entrichten, nebst Zins zu 5% p.a. auf den ausstehenden
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Leistungen ab jeweiligem Fälligkeitstag, frühestens ab Datum der Klageerhebung. ..."
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Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die Klage mit Entscheid vom 11. Juli 2019 teilweise gut. Es verpflichtete die Swisscanto, A. ab 1. Juli 2013 basierend auf einem Invaliditätsgrad von 100 % die reglementarische Invalidenkinderrente auszurichten, unter Vorbehalt einer Kürzung wegen Überentschädigung, zuzüglich Verzugszins zu 1 % ab 28. Dezember 2017 für die bis zu diesem Zeitpunkt fällig gewordenen Rentenbetreffnisse und für die Weiteren ab dem jeweiligen Fälligkeitsdatum. Im Übrigen wies es die Klage ab. |
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Swisscanto, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass sie vom 1. Juli 2013 bis 31. März 2015 die Invalidenkinderrente befreiend an die Mutter von A. bezahlt habe. Eventualiter sei festzustellen, dass die im Zeitraum vom 1. Juli 2013 bis 31. März 2015 fälschlicherweise an die Mutter ausbezahlte Invalidenkinderrente von der Mutter zurückgefordert resp. mit der Invalidenrente aus beruflicher Vorsorge (Hauptrente) verrechnet werden könne. Eventualiter sei die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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A. verlangt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es darauf eintritt.
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Aus den Erwägungen: |
Erwägung 3 |
Das kantonale Gericht ist zum Schluss gelangt, in Anlehnung an die Ziffern 18.1 und 18.2.2 in Verbindung mit 13.2.3 und 13.3 des Personalvorsorgereglements (gültig ab 1. Januar 2002) hätten Kinder, solange sie selbst erwerbsunfähig seien, über das 18. Altersjahr hinaus Anspruch auf eine Invalidenkinderrente, sofern ihre Erwerbsunfähigkeit schon vor dem 25. Altersjahr bestanden habe und sofern sie keine Invalidenrente aus der beruflichen Vorsorge, der Unfall- oder der Militärversicherung beziehen würden. Die Beschwerdegegnerin leide seit ihrem Jugendalter an gesundheitlichen Einschränkungen und sei spätestens seit ihrem Lehrabbruch im Jahr 2013 in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt. Die Erwerbsunfähigkeit von derzeit 100 % sei damit vor dem 25. Altersjahr eingetreten. Es bestehe demnach auch über den 31. März 2015 hinaus Anspruch auf Ausrichtung einer Invalidenkinderrente. Zur Aktivlegitimation der Beschwerdegegnerin finden sich im angefochtenen Entscheid keine Ausführungen. Dazu ist Folgendes festzuhalten: |
Erwägung 3.2 |
Ob die Beschwerdegegnerin in Bezug auf den Kinderrentenanspruch ab dem 1. April 2015 im Rahmen von Art. 73 BVG als Klägerin aufzutreten berechtigt ist (Aktivlegitimation), bestimmt sich mit Blick auf das Gesagte nach dem materiellen Recht.
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Nichts anderes ergibt sich in Bezug auf die gesetzlich relevante Bestimmung. Gemäss Art. 25 Abs. 1 BVG haben Versicherte, denen eine Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente in der Höhe der Waisenrente. Für die Kinderrente gelten die gleichen Berechnungsregeln wie für die Invalidenrente. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung (BGE 144 V 327 E. 3 S. 331) kommt der Kinderrente akzessorischer Charakter zu. Sie gelangt folglich nur zur Ausrichtung, wenn ein Anspruch auf eine Invalidenrente besteht. Die Anspruchsberechtigung für die Kinderrente liegt somit grundsätzlich bei der versicherten Person und nicht beim Kind (vgl. MARC HÜRZELER, in: BVG und FZG, Kommentar zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl. 2019, N. 5 zu Art. 25 BVG). Entsprechend hat das Eidg. Versicherungsgericht mit BGE 121 V 104 E. 4c S. 107 entschieden, dass dem Kind in Anlehnung an Art. 25 BVG kein eigenes Forderungsrecht in Bezug auf die Kinderrente zukommt (vgl. auch Urteil B 25/00 vom 24. September 2001 E. 5b, in: SZS 2003 S. 432 betreffend Art. 17 BVG). Das gilt auch für das erwachsene Kind, für das aufgrund von Art. 25 Abs. 1 BVG in Verbindung mit Art. 20 und 22 Abs. 3 BVG weiter ein Kinderrentenanspruch vorliegt (HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche Vorsorge, 3. Aufl. 2019, Rz. 1115). |
Das kantonale Gericht stellte sich auf den Standpunkt, dass nun nach Inkrafttreten des Art. 71ter Abs. 3 AHVV die Prinzipien der AHV und der IV im Berufsvorsorgerecht ebenfalls analog heranzuziehen seien und die BVG-Kinderrente auf entsprechenden Antrag des volljährigen Kindes hin an dieses selber ausbezahlt werden müsse. Die Swisscanto habe folglich die Kinderrente ab Juli 2013 direkt der Beschwerdegegnerin auszurichten. Dass es dabei von Juli 2013 bis März 2015 zu einer Doppelzahlung komme, sei nicht der Beschwerdegegnerin anzulasten.
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4.2 Die Swisscanto macht dagegen geltend, während im Rahmen der 1. Säule der Weg für eine Direktzahlung der Kinderrente an das mündige Kind geebnet und entsprechende gesetzliche Bestimmungen erlassen worden seien (Einführung von Art. 71ter AHVV; ebenso Art. 35 Abs. 4 IVG i.V.m. Art. 20 ATSG), fehle es im Bereich der beruflichen Vorsorge nach wie vor an einer gesetzlichen Grundlage. Sie habe sich mit Blick auf Art. 25 BVG gezwungen gesehen, die zur Hauptrente (Invalidenrente) akzessorische Kinderrente an die bei ihr versicherte Person auszurichten. Ausserdem sei anzumerken, dass die Mutter der Beschwerdegegnerin gegenüber der Swisscanto mehrfach kundgetan habe, dass sie anspruchsberechtigt sei und die Auszahlung daher an sie zu erfolgen habe. Die Swisscanto geht im Weiteren davon aus, dass auch die Mutter das Gericht angerufen hätte, wenn die Auszahlung der Kinderrente plötzlich an die Tochter erfolgt wäre. |
4.3.3 Der vom Bundesrat vorgelegte Gesetzesentwurf betreffend die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung sah noch keine Ausrichtung einer Kinderrente vor. Erst im Rahmen der parlamentarischen Arbeiten schlug die Kommission des Nationalrates im Hinblick auf eine Koordination mit der ersten Säule vor, in der beruflichen Vorsorge die Alters- und Invalidenrenten durch eine Kinderrente zu ergänzen (Protokolle vom 13. und 14. Mai 1976, S. 89 ff., vom 8. und 9. Juli 1976, S. 33 ff. und S. 64 f. sowie vom 27. und 28. Januar 1977, S. 40 f.). Den Vorschlag der Kommission verabschiedeten die eidgenössischen Räte diskussionslos (vgl. AB 1977 N 1327; AB 1980 S 275; BGE 136 V 313 E. 5.3.3.2 S. 319). Es ist somit festzuhalten, dass der Gesetzgeber die Kinderrente in der beruflichen Vorsorge zwar zur Koordination mit der ersten Säule einführte. Eine analoge Anwendung von Art. 71ter Abs. 3 AHVV betreffend die Auszahlungsmodalität ergibt sich daraus jedoch nicht. |
Erwägung 4.4 |
4.4.2 Mit Blick auf das Gesagte ist eine Drittauszahlung der Kinderrente an das volljährige Kind in der beruflichen Vorsorge auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe nicht vorgesehen. Indes verbietet sich die Annahme einer echten Lücke, deren Schliessung durch die Rechtsprechung an sich zulässig wäre (E. 4.4.1): Mit der Formulierung von Art. 25 BVG ist sich der Gesetzgeber bewusst gewesen, dass die Anspruchsberechtigung der Kinderrente bei der versicherten Person liegt und die Kinderrente demnach grundsätzlich auch an die rentenbeziehende Person ausbezahlt wird. Hinsichtlich des Fehlens einer Regelung der Auszahlungsmodalitäten auf Gesetzes- oder Verordnungsstufe ist von einem qualifizierten Schweigen auszugehen (so auch: THOMAS FLÜCKIGER, in: BVG und FZG, Kommentar zum schweizerischen Sozialversicherungsrecht, 2. Aufl. 2019, N. 6 zu Art. 17 BVG, Fn. 14 mit weiterem Hinweis). Eine Ergänzung der normativen Ordnung, wie sie in Art. 71ter Abs. 3 AHVV verwirklicht worden ist, liegt folglich nicht im Zuständigkeitsbereich des Gerichts. |