BGE 147 V 124 |
13. Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. IV-Stelle Luzern gegen A. (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten) |
9C_82/2020 vom 27. Oktober 2020 |
Regeste |
Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 28a Abs. 3 IVG; Art. 27bis Abs. 2-4 IVV (in Kraft seit 1. Januar 2018); gemischte Bemessungsmethode. |
Sachverhalt |
A.a Die 1987 geborene A. wurde am 1. Februar 1988 infolge verschiedener Geburtsgebrechen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Mit Verfügung vom 9. November 2006 erhielt sie ab 1. August 2006 eine ganze Invalidenrente zugesprochen, da eine berufliche Eingliederung nach abgeschlossener Anlehre nur im geschützten Rahmen möglich gewesen war (Invaliditätsgrad: 88 %). Im Jahre 2010 bestätigte die Verwaltung die Rente. |
A.b Mitte Mai 2017 meldete A. die Geburt ihres Sohnes B. (geboren am 8. Mai 2017). Die IV-Stelle des Kantons Luzern leitete in der Folge ein Revisionsverfahren ein. Nach Abklärungen - insbesondere einer Erhebung an Ort und Stelle - hielt sie fest, A. habe angegeben, sie würde ohne gesundheitliche Einschränkung zu 20 % einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, jedoch nicht wie bisher im geschützten Rahmen, sondern im ersten Arbeitsmarkt. Somit sei der Rentenanspruch auf der Basis von 20 % als Erwerbstätige und 80 % als Hausfrau nach der gemischten Methode neu zu beurteilen. Gestützt darauf hob die Verwaltung die bisherige Invalidenrente mit Verfügung vom 25. Juni 2018 revisionsweise per Ende des der Zustellung folgenden Monats auf (Invaliditätsgrad: 20 %).
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B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 18. Dezember 2019 gut, hob die Verfügung vom 25. Juni 2018 auf und stellte fest, A. habe weiterhin Anspruch auf eine ganze Invalidenrente.
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese die Richtigkeit der Verfügung vom 25. Juni 2018 umfassend beurteile; der Beschwerde sei ausserdem die aufschiebende Wirkung zu erteilen.
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A. lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (nachfolgend: BSV) beantragt deren Gutheissung.
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Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
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Erwägungen: |
Erwägung 1 |
1.1 Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). |
Nicht im Streit liegt demgegenüber, dass der Statuswechsel der Beschwerdegegnerin von der bisherigen vollzeitlichen Erwerbstätigkeit im geschützten Rahmen (Kündigung per 31. August 2017) hin zur gemäss eigenen Angaben im Gesundheitsfall 20%igen Erwerbstätigkeit im ersten Arbeitsmarkt rein familiär begründet ist (Geburt des Sohnes B. am 8. Mai 2017). Damit besteht grundsätzlich eine dem Urteil Di Trizio analoge Konstellation, was von keiner Seite in Abrede gestellt wird. Ebenso unbestritten ist letztinstanzlich, dass sich der Gesundheitszustand der Beschwerdegegnerin nicht verändert hat, sodass ein diesbezüglicher Revisionsgrund (vgl. Art. 17 Abs. 1 ATSG) entfällt.
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Erwägung 3 |
3.1 Dem Urteil Di Trizio lag der Fall einer Versicherten zugrunde, welche unter dem Status einer Vollerwerbstätigen eine Invalidenrente beanspruchen konnte, diesen Anspruch aber in der Folge allein aufgrund des Umstandes verlor, dass sie wegen der Geburt ihrer Kinder und der damit einhergehenden Reduktion des Erwerbspensums für die Invaliditätsbemessung neu als Teilerwerbstätige mit einem Aufgabenbereich qualifiziert wurde. Der EGMR betrachtete es als Verletzung von Art. 14 (Diskriminierungsverbot) i.V.m. Art. 8 EMRK (Recht auf Achtung des Familienlebens), dass die sich aus dem Statuswechsel ergebende Änderung in den Grundlagen der Invaliditätsbemessung - anstelle des auf Vollerwerbstätige anwendbaren Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG) gelangte nun die gemischte Methode (Art. 28a Abs. 3 IVG) zur Anwendung - zur Aufhebung der Invalidenrente führte und sich damit zu Ungunsten der Versicherten auswirkte (BGE 144 I 21 E. 4.1 S. 25 f.). |
" 1 [...]
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2 Bei Teilerwerbstätigen, die sich zusätzlich im Aufgabenbereich nachArtikel 7 Absatz 2 IVG betätigen, werden für die Bestimmung des Invaliditätsgrads folgende Invaliditätsgrade summiert:
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a) der Invaliditätsgrad in Bezug auf die Erwerbstätigkeit;
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b) der Invaliditätsgrad in Bezug auf die Betätigung im Aufgabenbereich.
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3 Die Berechnung des Invaliditätsgrads in Bezug auf die Erwerbstätigkeit richtet sich nach Artikel 16 ATSG, wobei:
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a) das Erwerbseinkommen, das die versicherte Person durch die Teilerwerbstätigkeit erzielen könnte, wenn sie nicht invalid geworden wäre, auf eine Vollerwerbstätigkeit hochgerechnet wird;
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b) die prozentuale Erwerbseinbusse anhand des Beschäftigungsgrads, den die Person hätte, wenn sie nicht invalid geworden wäre, gewichtet wird.
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4 Für die Berechnung des Invaliditätsgrades in Bezug auf die Betätigung
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bei der Betätigung im Aufgabenbereich im Vergleich zur Situation, wenn
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die versicherte Person nicht invalid geworden wäre, ermittelt. Der Anteil
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wird anhand der Differenz zwischen dem Beschäftigungsgrad nach Ab
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satz 3 Buchstabe b und einer Vollerwerbstätigkeit gewichtet."
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Erwägung 4 |
wieder zulässig, weil zwischenzeitlich in Art. 27bis IVV ein neues Berechnungsmodell der gemischten Methode zur Verfügung stehe. Dieses habe die vom EGMR beanstandeten negativen Folgen eines Statuswechsels bei Teilerwerbstätigen beseitigt. Eine revisionsweise Überprüfung des Rentenanspruchs in Di Trizio -ähnlichen Sachverhalten könne somit nicht mehr per se ausgeschlossen werden, selbst dann nicht, wenn die Neuberechnung des Invaliditätsgrads wie hier eine Rentenreduktion oder -aufhebung zur Folge habe. Nachdem die Revisionsverfügung vom 25. Juni 2018 unbestritten in Anwendung des am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen neuen Berechnungsmodells der gemischten Methode ergangen sei, könne ein Revisionsgrund infolge der Statusänderung nicht ausgeschlossen werden, nur weil die Neuberechnung nach neuer Methode für die Versicherte nachteilige Folgen zeitige. |
Erwägung 5 |
5.1 Im Urteil Di Trizio erachtete der EGMR die damalige gemischte Methode als konventionswidrig im Sinne von Art. 14 i.V.m. Art. 8 EMRK, da sie nicht mehr im Einklang stand mit der Verfolgung der Gleichheit der Geschlechter in der zeitgenössischen Gesellschaft, wo Frauen vermehrt den legitimen Wunsch hegen, Familienleben und berufliche Interessen miteinander zu vereinbaren (Urteil Di Trizio, § 100). Gleichzeitig verwies der Gerichtshof jedoch explizit auf die Möglichkeit anderer (Berechnungs-)Methoden ("[...] d'une méthode plus favorable [...]"), welche die Wahl der Frauen, nach der Geburt eines Kindes in Teilzeit erwerbstätig zu sein, besser achteten. Wie der EGMR weiter festhielt, wäre es so möglich, das Ziel der Annäherung zwischen den Geschlechtern zu verfolgen, ohne damit Ziel und Zweck der Invalidenversicherung zu gefährden (Urteil Di Trizio, § 101; zum Ganzen auch BGE 144 I 28 E. 4.4 S. 35). Im Rahmen dieser Interessenabwägung bestand demnach zum Vornherein Raum für eine Neuregelung der Invaliditätsbemessung in Di Trizio -ähnlichen Fällen. Dass die neue Bemessungsmethode nach Art. 27bis IVV bzw. das diese Regelung umsetzende IV-Rundschreiben Nr. 372 vom 9. Januar 2018 die Erwägungen des EGMR verkennen, trifft in diesem Sinne - anders als die Vorinstanz annimmt - nicht zu. Mithin handelte es sich beim im Nachgang zum EGMR-Urteil ergangenen IV-Rundschreiben Nr. 355 vom 31. Oktober 2016 (aktualisiert per 26. Mai 2017), welches die im angefochtenen Entscheid vertretene Lösung enthält, explizit um eine Übergangsregelung. Diese wurde mit den am 1. Januar 2018 in Kraft getretenen Verordnungsbestimmungen aufgehoben (vgl. Bericht des BSV zur Änderung der Verordnung vom 17. Januar 1961 über die Invalidenversicherung [IVV], Invaliditätsbemessung für teilerwerbstätige Versicherte, S. 4, www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/publikationen-und-service/gesetzgebung/vernehmlassungen.html [besucht am 21. August 2020]; ebenso: IV-Rundschreiben Nr. 372, letzter Satz). |
Erwägung 6 |
6.2 Eine solche vermag auch der Umstand, dass der Statuswechsel hin zur gemischten Methode im Revisionsfall zur Aufhebung oder Herabsetzung der Invalidenrente und damit - wie hier - zu einem für die versicherte Person ungünstigen Resultat führen kann, nicht zu begründen. Denn dass die Einschränkungen im Aufgabenbereich häufig tiefer liegen als im Erwerbsbereich, ergibt sich aus der Natur der Sache: Während im Aufgabenbereich bei der Bemessung der Invalidität stets mittels Abklärung an Ort und Stelle auf den konkreten Einzelfall abgestellt wird, dient im erwerblichen Bereich abstrakt der hypothetisch als ausgeglichen unterstellte Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG) als Massstab. Ferner liegt insoweit ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Bemessungsbereichen vor, als sich im häuslichen und beruflichen Umfeld grundlegend andere Anforderungen gegenüber stehen. Die in aller Regel tiefere Einschränkung im Aufgabenbereich erklärt sich denn auch weitgehend dadurch, dass der versicherten Person im Haushalt mehr zeitliche und organisatorische Flexibilität zusteht als in einer erwerblichen Tätigkeit. Daher sind die mit der Neufassung des Art. 27bis IVV verbleibenden Ungleichheiten als verhältnismässig und daher konventionskonform zu qualifizieren (E. 6.1). |
6.3 Schliesslich ergäben sich aus der im angefochtenen Entscheid befürworteten Nichtanwendung des Revisionsrechts in Di Trizio -ähnlichen Fällen neue Ungleichheiten. Insbesondere wäre der Statuswechsel von der Voll- zur Teilzeiterwerbstätigkeit als Revisionsgrund anders zu behandeln als derjenige von der Voll- zur Nichterwerbstätigkeit. Da bei der in letzterem Fall anwendbaren spezifischen Methode die Invalidität allein danach ermittelt wird, in welchem Ausmass die versicherte Person unfähig ist, sich im Aufgabenbereich zu betätigen (vgl. Art. 28 Abs. 2 IVG i.V.m. Art. 8 Abs. 3 ATSG), fehlt es zum Vornherein an den vom EGMR kritisierten Erschwernissen bezüglich Vereinbarkeit von Familien- und Berufsleben (BGE 144 I 28; Urteil 8C_806/2017 vom 28. März 2018 E. 3.2.1). Dass bei einer Statusänderung hin zur allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs im Revisionsfall dieselben Überlegungen zum Tragen kommen, hat das Bundesgericht als naheliegend bezeichnet (Urteil 8C_591/2019 vom 23. Dezember 2019 E. 3.3). Es ist denn auch nicht einzusehen, weshalb bei einer Statusänderung infolge Wegfalls von Betreuungspflichten gegenüber dem jüngsten Kind im Revisionsfall anders verfahren werden sollte, als wenn umgekehrt wegen der Geburt eines Kindes neue familiäre Pflichten hinzutreten und aus diesem Grund (Teilzeitarbeit im Gesundheitsfall) ein anderer Status zu berücksichtigen ist. Eine sachlich nicht gerechtfertigte Bevorzugung ergäbe sich im Weiteren gegenüber gesunden Personen, die aus familiären Gründen von der Voll- auf eine Teilzeiterwerbstätigkeit wechseln. Bei einer späteren Invalidität käme hier die gemischte Methode zur Anwendung. Träte demgegenüber dieselbe Situation bei einer bereits invaliden Vollerwerbstätigen ein, so würde nach Auffassung der Vorinstanz die bisherige Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 16 ATSG) beibehalten. Demzufolge wäre bei der Invaliditätsbemessung unterschiedlich vorzugehen, je nachdem ob es sich um eine Erstanmeldung oder eine Revision handelt, was systemwidrig wäre. |
9. Entsprechend dem Prozessausgang sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die obsiegende Beschwerdeführerin hat als mit öffentlich-rechtlichen Aufgaben betraute Institution keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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