147 V 156
Urteilskopf
147 V 156
16. Auszug aus dem Urteil der II. sozialrechtlichen Abteilung i.S. Gemeinde Reiden gegen Gemeinde Uetikon am See (Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten)
9C_488/2020 vom 17. Februar 2021
Regeste
Art. 25a Abs. 5 KVG; Restfinanzierung der Pflegekosten; Zuständigkeit.
Bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens der neuen Fassung von Art. 25a Abs. 5 KVG am 1. Januar 2019 bereits bestehendem Pflegeverhältnis mit Wohnsitzverlegung an den Standort des Pflegeheims bleibt der neue Wohnsitzkanton (Standortkanton) für die Restfinanzierung zuständig (E. 7).
A. Die 1943 geborene A. trat am 7. Juli 2010 in das Alters- und Pflegeheim X. in der zürcherischen Gemeinde Uetikon am See ein. Dort begründete sie gemäss rechtskräftigem Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich vom 4. Oktober 2012 gleichentags Wohnsitz. Zuvor war sie im luzernischen Reiden wohnhaft gewesen. Die Gemeinde Uetikon am See übernahm bis zum 31. Dezember 2018 die Restfinanzierung der Pflegekosten. Mit Entscheid vom 16. April 2019 beschloss sie (handelnd durch ihre Sozialkommission), ab 1. Januar 2019 die Beiträge einzustellen und verpflichtete das Alters- und Pflegeheim X. zur Rückerstattung der für den Monat Januar 2019 bereits geleisteten Beiträge in der Höhe von Fr. 4'834.45. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 5. November 2019 fest.
B. Die hiergegen erhobene Beschwerde der Gemeinde Reiden wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 25. Mai 2020 in der Hauptsache ab.
C. Die Gemeinde Reiden führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt, es sei der vorinstanzliche Entscheid vom 25. Mai 2020 aufzuheben und festzustellen, dass kein interkantonaler Fall vorliege, eventualiter, dass Artikel 25a Abs. 5 KVG keine unechte Rückwirkung aufweise und die Gemeinde Uetikon am See weiterhin für die Restkostenfinanzierung zuständig sei. Subeventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Gemeinde Uetikon am See schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut.
Aus den Erwägungen:
3. Strittig ist die Zuständigkeit zur Restfinanzierung der Pflegekosten von A. ab dem 1. Januar 2019.
3.1 Seit Inkrafttreten der Neuordnung der Pflegefinanzierung am 1. Januar 2011 leistet einerseits die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) einen Beitrag an die Pflegeleistungen, welche aufgrund einer ärztlichen Anordnung und eines ausgewiesenen
BGE 147 V 156 S. 158
Pflegebedarfs ambulant oder im Pflegeheim erbracht werden (Art. 25a Abs. 1 KVG). Andererseits haben sich sowohl die Versicherten als auch die öffentliche Hand an den Pflegekosten zu beteiligen. Die Modalitäten der Restfinanzierung der Pflegekosten regeln die Kantone (Art. 25a Abs. 5 Satz 2 KVG), wobei diese kantonale Zuständigkeit nichts daran ändert, dass der grundsätzliche Anspruch auf Übernahme der ungedeckten Pflegekosten durch die öffentliche Hand (Kanton oder - aufgrund kantonaler Delegation - Gemeinden) bundesrechtlicher Natur ist (BGE 144 V 280 E. 3.1 S. 284 mit Hinweisen; vgl. zum Ganzen auch Urteil 9C_209/2019 vom 22. Juli 2019 E. 2.2.1, nicht publ. in: BGE 145 V 396, aber in: SVR 2020 KV Nr. 2 S. 6).
3.2 Art. 25a Abs. 5 KVG wurde im Zuge der Parlamentarischen Initiative "Nachbesserung der Pflegefinanzierung" (Geschäfts-Nr. 14.417) um eine bundesrechtliche Regelung der Zuständigkeit bei interkantonalen Sachverhalten ergänzt. Zuvor hatte das Bundesgericht in BGE 140 V 563 deren Fehlen konstatiert und bis zu ihrem Inkrafttreten im interkantonalen Verhältnis auf Finanzierungszuständigkeit des Wohnsitzkantons erkannt. Die neue Fassung ist am 1. Januar 2019 in Kraft getreten (AS 2018 2989 f.).
(...)
7.1.1 Art. 25a Abs. 5 KVG in der seit 1. Januar 2019 gültigen Fassung knüpft die Finanzierungszuständigkeit grundsätzlich (weiterhin, vgl. zit. BGE 140 V 563 E. 5.4.1 S. 572 ff.) an den zivilrechtlichen Wohnsitz der pflegebedürftigen Person. Indes gilt: "Der Aufenthalt in einem Pflegeheim begründet keine neue Zuständigkeit." / "Le séjour dans un établissement médico-social ne fonde aucune nouvelle compétence." / "La degenza in una casa di cura non fonda una nuova competenza." Entgegen dieser nicht ohne Weiteres klaren Formulierung erhellt ausden Materialien zweifelsfrei die Absicht des Gesetzgebers, das Wohnsitzprinzip in denjenigen Fällen zu durchbrechen, in denen die pflegebedürftige Person in ein ausserkantonales Pflegeheim eintritt und dort zivilrechtlichen Wohnsitz begründet (vgl. Art. 23 Abs. 1 ZGB). In diesen Fällen soll die Zuständigkeit zur Festsetzung und Finanzierung der ungedeckten Pflegekosten nach neuem Recht - gleich wie bei den Ergänzungsleistungen (vgl. Art. 21 Abs. 1quater ELG) - beim Herkunftskanton (Kanton des vormaligen Wohnsitzes) verbleiben (vgl. etwa Bericht
BGE 147 V 156 S. 159
der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Ständerates vom 21. März 2016 zur Parlamentarischen Initiative Nachbesserung der Pflegefinanzierung, BBl 2016 3962 f. [Übersicht] sowie Ziff. 2.3.3 i.f.; AB 2016 S 736, N 2088, 2017 S 56 ff., N 930 ff.). Damit fallen neu zivilrechtlicher Wohnsitz und Restfinanzierungszuständigkeit auseinander, wenn die pflegebedürftige Person mit dem Umzug in ein (ausserkantonales) Pflegeheim an dessen Standort einen neuen Wohnsitz begründet. Die neue Regelung führt demnach dazu, dass - wie bis anhin bei Auseinanderfallen von Wohnsitz und Aufenthaltsort - auch bei Wohnsitzwechsel an den (ausserkantonalen) Heimstandort Kongruenz zwischen Standortkanton und des für die Restfinanzierung massgeblichen Kantons fehlt.
7.1.2 Nach dem soeben Dargelegten knüpft die neue Regelung als Grundsatz im interkantonalen Verhältnis weiterhin am Wohnsitz an, wobei aber das Wohnsitzprinzip durch das Herkunftsprinzip durchbrochen wird, wenn die pflegebedürftige Person in ein ausserkantonales Pflegeheim eintritt und dabei ihren Wohnsitz an den Heimstandort verlegt. Neu wird demnach ein bei Heimeintritt vorgenommener Wohnsitzwechsel als einmaliges Sachverhaltsgeschehen (vgl. Art. 24 Abs. 1 ZGB) als für die Belange der Restfinanzierung unbeachtlich erklärt.
7.2.1 Nimmt eine neue Rechtsnorm auf bereits Geschehenes Bezug, besteht die Gefahr, dass die Rechtsunterworfenen überrascht werden und sich anders verhalten hätten, wenn ihnen das neue Recht bekannt gewesen wäre. Die Rückwirkung steht demnach zumindest potentiell in einem Spannungsverhältnis zu den verfassungsrechtlichen Geboten der Rechtssicherheit, des Vertrauensschutzes und der Gesetzmässigkeit (vgl. etwa HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. Aufl. 2020, Rz. 266). Knüpft die Anwendung eines neuen Erlasses an ein Ereignis an, das sich abschliessend vor dessen Inkrafttreten ereignet hat, liegt eine nach Art. 5, Art. 8 Abs. 1 und Art. 9 BV grundsätzlich verpönte echte Rückwirkung vor (vgl. etwa BGE 144 I 81 E. 4.1 S. 86; HÄFELIN/MÜLLER/ UHLMANN, a.a.O., Rz. 268). Eine solche ist verfassungsrechtlich nur dann unbedenklich, wenn sie ausdrücklich in einem Gesetz vorgesehen ist oder sich daraus klar ergibt, in einem vernünftigen Rahmen zeitlich limitiert ist, nicht zu stossenden Ungleichheiten führt, einem schutzwürdigen öffentlichen Interesse dient und
BGE 147 V 156 S. 160
wohlerworbene Rechte respektiert (vgl. etwa BGE 146 V 364 E. 7.1 S. 370 f. mit Hinweisen; HÄFELIN/MÜLLER/UHLMANN, a.a.O., Rz. 270).
7.2.2 In der hier zu beurteilenden Konstellation mit bereits vorbestehendem Pflegeverhältnis bei - ebenfalls - vorbestehendem Wohnsitzwechsel bei Heimeintritt stellt das nachträgliche Ignorieren letzterer Sachverhaltsverwirklichung zwecks Begründung der Zuständigkeit des Herkunftskantons eine echte Rückwirkung dar. Eine solche findet im Gesetz weder eine ausdrückliche noch sonstwie klare Grundlage. Der Gesetzgeber hat einen festen Zeitpunkt - den (wohnsitzbegründenden) Eintritt in ein Heim - ins Auge gefasst und nicht ein Dauerverhältnis neuen Regeln unterstellen wollen (vgl. E. 7.1.2).
7.2.3 Die - in BGE 145 V 396 nicht publizierte - Erwägung 6 des zit. Urteils 9C_209/2019 steht dem bereits deshalb nicht entgegen, weil das Bundesgericht dort die Anwendung kantonalen Rechts (§ 9 Abs. 5 des zürcherischen Pflegegesetzes vom 27. September 2010 [LS 855.1]) einzig unter dem Aspekt der Verletzung von Grundrechten prüfen konnte, wobei seine Prüfungsbefugnis zudem - anders als bei der Anwendung von Bundesrecht (nicht publ. E. 2) - durch die vorgetragenen Rügen begrenzt war (strenges Rügeprinzip gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG, vgl. etwa Urteil 2C_236/2020 vom 28. August 2020 E. 1.4), und die Beschwerdeführerin nur das Vorliegen einer Rückwirkung, jedoch nicht - in qualifizierter Weise - deren Verfassungswidrigkeit begründet hatte. Hinzu kommt, dass sich der dort zu beurteilende Fall insoweit vom hier strittigen unterschied, als die Pflegebedürftigkeit dort erst nach Inkrafttreten der kantonalen Zuständigkeitsregelung eingetreten war, wenngleich sich die pflegebedürftige Person zu diesem Zeitpunkt bereits einige Zeit im Heim aufhielt (zit. BGE 145 V 396 Sachverhalt S. 397), mithin das Pflegeverhältnis erst unter der Geltung des neuen Rechts entstand. Von einem bestehenden Pflegeverhältnis, auf das rückwirkend neue rechtliche Grundlagen angewandt worden wären, konnte damit keine Rede sein.