BGer I 740/1999
 
BGer I 740/1999 vom 21.07.2000
[AZA 7]
I 740/99 Vr
IV. Kammer
Bundesrichter Borella, Rüedi und Bundesrichterin Leuzinger;
Gerichtsschreiber Hadorn
Urteil vom 21. Juli 2000
in Sachen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, Luzern, Beschwerdeführerin,
gegen
A.________, 1994, Beschwerdegegner, vertreten durch seinen Vater,
und
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern
Mit Verfügung vom 21. Juli 1999 lehnte die IV-Stelle Luzern die Kostenübernahme für im Ausland durchgeführte medizinische Massnahmen zu Gunsten des 1994 geborenen A.________ ab.
Die vom Vater von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 19. November 1999 gut. Es verpflichtete die IV-Stelle, die beantragten Kosten zu übernehmen, da beachtliche Gründe für die Durchführung der entsprechenden Massnahmen im Ausland vorlägen.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Während die Eltern von A.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) nicht vernehmen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.- Die Vorinstanz hat die gesetzlichen Bestimmungen zur Kostenübernahme für medizinische Massnahmen im Ausland (Art. 9 Abs. 1 IVG, Art. 23bis Abs. 1 und 2 IVV) sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung (BGE 110 V 101; AHI 1997 S. 115 ff.) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass beachtliche Gründe im Sinne von Art. 23bis Abs. 2 IVV gegeben sein können, wenn eine besonders seltene Krankheit vorliegt, mit welcher die in der Schweiz tätigen Spezialisten noch kaum konfrontiert worden sind, und deren Behandlung eine genaue Diagnose erfordert (nicht veröffentlichte Urteile S. vom 20. September 1999, I 106/99 und S. vom 15. Januar 1999, I 303/98).
2.- a) Die Vorinstanz hat die medizinische Aktenlage zutreffend gewürdigt und gestützt auf die verschiedenen Berichte von Dr. med. S.________, Oberarzt der Neuropädiatrie am Spital X.________ und der Epilepsie-Klinik Y.________ festgestellt, dass der Knabe an einer seltenen Form einer extrem früh manifesten Temporallappenepilepsie mit einer grossen neuroradiologisch nachweisbaren Läsion leide und zu den jüngsten Patienten zähle, bei denen diese Epilepsieform jemals diagnostiziert und Möglichkeiten eines operativen Eingriffs erwogen worden seien. Bereits im dritten Lebensjahr sei er pharmakoresistent gewesen und weise überdies umfangreiche Veränderungen im linken Schläfenlappenbereich auf. Es liege somit eine seltene und besonders komplexe Form von Epilepsie bei einem Kleinkind vor. Deshalb solle der Knabe in Übereinstimmung mit der Ansicht der behandelnden Ärzte an das Zentrum Z.________ (Deutschland) zur Abklärung und gegebenenfalls zu einem operativen Eingriff überwiesen werden, da in der Schweiz kein Spital mit ausreichender Erfahrung bei solch komplexen pädiatrischen Fällen existiere. Dem widerspricht die IV- Stelle, die eine Behandlung bei Prof. V.________ für ausreichend hält.
b) Bereits im nicht veröffentlichten Urteil S. vom 20. September 1999 (I 106/99) hatte sich das Eidgenössische Versicherungsgericht mit einem Kleinkind zu befassen, das an einer aussergewöhnlich komplexen Epilepsie litt und im Zentrum Z.________ behandelt wurde. In jenem Fall hatten weder die IV-Stelle noch das BSV zu belegen vermocht, dass eine Schweizer Klinik über ausreichende Erfahrung mit komplexen Fällen bei Kleinkindern verfügt. Eine entsprechende Abteilung am Spital C.________ war damals erst im Aufbau begriffen. In Bielefeld werden dagegen häufig Operationen an Kleinkindern durchgeführt, weshalb dieses Zentrum weit mehr Erfahrung hat. Auch damals beriefen sich BSV und IV-Stelle auf das vorliegend ins Recht gelegte Schreiben von Prof. W.________ vom Spital C.________ vom 3. Juli 1998. Das Gericht bezeichnete dieses Dokument als wenig aussagekräftig, da es lediglich die Frage beantworte, ob die vorgesehene Operation überhaupt nur im Ausland durchführbar sei. Dies betreffe Abs. 1 von Art. 23bis IVV, ergebe jedoch nichts über den konkret zu beurteilenden Einzelfall, welcher unter Abs. 2 der genannten Bestimmung zu prüfen war. Abschliessend hielt das Gericht fest, dass in jenem Fall eine besonders seltene Krankheit vorliege, mit welcher die in der Schweiz tätigen Spezialisten noch kaum konfrontiert worden seien, und bejahte beachtliche Gründe im Sinne von Abs. 2 von Art. 23bis IVV.
c) Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich nicht wesentlich von demjenigen im erwähnten Urteil S. Auch hier geht es um eine besonders komplexe Form von Epilepsie bei einem Kleinkind. Die im Bericht von Prof. B.________, Spital D.________, vom 24. Februar 1999 genannten Patientenzahlen bestätigen, dass die Schweizer Kliniken erst wenig Erfahrungen mit Kindern im Vorschulalter haben. Dies gilt namentlich auch für das vorliegend von der IV-Stelle vorgeschlagene Zentrum. Überdies relativiert Prof. B.________ das erwähnte Schreiben von Prof. W.________ vom 3. Juli 1998 als persönliche Meinung des Verfassers, die nicht der Ansicht der Kommission Prächirurgische Epilepsieabklärung und Epilepsiechirurgie der Schweizerischen Neurologischen Gesellschaft entspreche. Demnach handelt es sich um einen Fall, mit dessen Komplexität Schweizer Spezialisten noch kaum konfrontiert worden sind. Damit sind auch hier beachtliche Gründe im Sinne von Art. 23bis Abs. 2 IVV für die Durchführung der medizinischen Massnahmen im Ausland gegeben.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
I.Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
II.Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
III. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 21. Juli 2000
Im Namen des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: