BGer C 100/2003
 
BGer C 100/2003 vom 26.01.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 100/03
Urteil vom 26. Januar 2004
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiberin Schüpfer
Parteien
S.________, 1969, Beschwerdeführer,
gegen
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Amthaus 1, 4500 Solothurn, Beschwerdegegner,
(Entscheid vom 2. April 2003)
Sachverhalt:
A.
Nachdem er am 15. Oktober 2001 arbeitslos geworden war, beantragte der 1969 geborene S.________ am 1. Juni 2002 besondere Taggelder der Arbeitslosenversicherung zur Förderung der selbständigen Erwerbstätigkeit. Mit Verfügung vom 17. Juni 2002 lehnte das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum Solothurn (RAV) das Gesuch ab, da S.________ die wirtschaftliche Tragfähigkeit und Dauerhaftigkeit seines Konzeptes nicht belegen könne und es nach dessen eigenen Angaben ungewiss sei, ab wann die Tätigkeit existenzsichernd sein werde. Zudem habe er seinen Betrieb C.________ und damit die Selbständigkeit bereits am 29. Mai 2002 aufgenommen, womit diese in der Start- und nicht mehr in der Planungsphase stecke.
B.
S.________ erhob dagegen Beschwerde. In der Replik stellte er ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und den Antrag, es sei eine mündliche Verhandlung durchzuführen. Diese beiden Begehren wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Solothurn ab (Entscheid vom 2. April 2003).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte sinngemäss, in teilweiser Aufhebung des kantonalen Entscheides sei festzustellen, dass er Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im kantonalen Beschwerdeverfahren habe.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Solothurn schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Beschwerdeverfahren. Da es im vorliegenden Prozess nicht um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen geht, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 100 V 62 Erw. 2; Urteil R. vom 25. März 2003, I 864/02).
2.
2.1 Gemäss Art. 103 Abs. 6 AVIG bestimmte sich das kantonale Beschwerdeverfahren nach dem kantonalen Recht. Mit dem vom Bundesrat auf den 1. Januar 2003 in Kraft gesetzten Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) ist diese Bestimmung aufgehoben worden. Das Verfahren vor den kantonalen Versicherungsgerichten wird in Art. 61 ATSG geregelt. Nach dessen lit. f muss das Recht sich verbeiständen zu lassen gewährleistet sein, wobei der Beschwerde führenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt wird, wo die Verhältnisse es rechtfertigen.
2.2 Nach der Rechtsprechung sind neue Verfahrensvorschriften grundsätzlich mit dem Tag des Inkrafttretens sofort und in vollem Umfange anwendbar, es sei denn, das neue Recht kenne anderslautende Übergangsbestimmungen. Solche bestehen nicht. Dieser intertemporalrechtliche Grundsatz kommt aber dort nicht zur Anwendung, wo hinsichtlich des verfahrensrechtlichen Systems zwischen altem und neuem Recht keine Kontinuität besteht und mit dem neuen Recht eine grundlegend neue Verfahrensordnung geschaffen worden ist (BGE 129 V 115 Erw. 2.2 mit Hinweisen). Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ist bereits in der am 1. Januar 2000 in Kraft getretenen neuen Bundesverfassung vom 18. April 1999 verankert (Art. 29 Abs. 3 Satz 2), weshalb die kantonalen Prozessrechte dem zu entsprechen hatten. Mit Art. 61 lit. f ATSG wird keine darüber hinausgehende Regelung getroffen, womit zwischen altem und neuem Recht Kontinuität besteht. Der vorinstanzliche Entscheid wurde nach dem 1. Januar 2003 gefällt, somit ist Art. 61 lit. f ATSG anwendbar.
3.
3.1 Nach Gesetz und Praxis sind in der Regel die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung erfüllt, wenn der Prozess nicht aussichtslos, die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung notwendig oder doch geboten ist (BGE 103 V 47, 100 V 62, 98 V 117).
3.2 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde; eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht deshalb anstrengen können, weil er sie nichts kostet (BGE 129 I 135 Erw. 2.3.1, 128 I 236 Erw. 2.5.3 mit Hinweis).
4.
4.1 In materieller Hinsicht ist vor dem kantonalen Gericht der Anspruch des Beschwerdeführers auf besondere Taggelder zur Förderung der selbständigen Erwerbstätigkeit streitig. Zu prüfen ist dort, ob dem Beschwerdeführer aufgrund der Verhältnisse, wie sie sich bis zum Erlass der angefochtenen Ablehnungsverfügung (hier: vom 17. Juni 2002) entwickelt haben (BGE 121 V 366 Erw. 1b), entsprechende Leistungen der Arbeitslosenversicherung zustehen. Daher ist das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene ATSG in materiellrechtlicher Hinsicht für die Beurteilung der Sache nicht massgeblich (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 127 V 467 Erw.1).
4.2 Gemäss Art. 71a AVIG (in der bis zum 30. Juni 2003 in Kraft gewesenen Fassung) können Versicherte, die eine dauernde selbständige Erwerbstätigkeit aufnehmen wollen, durch die Ausrichtung von höchstens 60 besonderen Taggeldern während der Planungsphase eines Projektes unterstützt werden (Abs. 1). Als Planungsphase im Sinnes dieser Bestimmung gilt nach Art. 95a AVIV (in der bis zum 30. Juni 2003 in Kraft gewesenen Fassung) der Zeitraum, den der Versicherte zur Planung und Vorbereitung einer selbständigen Erwerbstätigkeit benötigt. Das Gesuch müsse unter anderem Angaben zum Grobprojekt - insbesondere ein Konzept zur selbständigen Geschäftstätigkeit mit Angaben zum vorgesehenen Angebot an Produkten oder Dienstleistungen sowie zum vorgesehenen Absatzmarkt und Kundenkreis; über die Kosten und die Finanzierung des Projekts sowie über dessen Stand - enthalten (Art. 95b lit. c AVIV).
5.
5.1 Das kantonale Gericht begründet die seiner Ansicht nach bestehende Aussichtslosigkeit des beschwerdeführerischen Begehrens um besondere Taggelder nach Art. 71a AVIG damit, dass das entsprechende Gesuch am 1. Juni 2002 gestellt wurde, die selbständige Erwerbstätigkeit hingegen schon am 29. Mai 2002 aufgenommen worden sei. An jenem Tag habe somit die Umsetzungs- und Startphase begonnen, welche nicht mehr zum Bezug der genannten Taggelder berechtige. Zudem hätten dem Gesuch Angaben über die Finanzierung des Projektes gefehlt.
Der Beschwerdeführer argumentiert, bei der Betriebsaufnahme habe es sich um eine Versuchs- nicht um die Startphase seines Projekts gehandelt. Eine andere Möglichkeit, eine effiziente Marktanalyse durchzuführen, sei ihm vom Amt für Wirtschaft und Arbeit nicht aufgezeigt worden. Mit der Qualifikation seiner Beschwerde als aussichtslos werde der Entscheid über diese schon vorweggenommen. Die damit verbundene Ablehnung der Durchführung einer öffentlichen Verhandlung verunmögliche es ihm, all seine Beweismittel, insbesondere Zeugen, einzubringen.
5.2 Sinn und Zweck der Arbeitslosenversicherung ist unter anderem, bestehende Arbeitslosigkeit zu bekämpfen (Art. 1 Abs. 2 AVIG); darunter fällt auch die - auf den Rahmen der Art. 71a ff. AVIG beschränkte - Förderung der selbständigen Erwerbstätigkeit. Gemäss Art. 71a Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 95a AVIV wird nur die Planungsphase durch die Ausrichtung besonderer Taggelder (Art. 71a Abs. 1 AVIG) und die Befreiung von den Pflichten gemäss Art. 17 AVIG (Art. 71c Abs. 2 AVIG) unterstützt, wobei als Planungsphase gemäss Art. 95a Satz 1 AVIV derjenige Zeitraum gilt, den der Versicherte zur Planung und Vorbereitung einer selbständigen Erwerbstätigkeit benötigt. Dies bedeutet, dass nur die allererste Phase des Beginns der Selbständigkeit durch die Arbeitslosenversicherung unterstützt wird, nämlich diejenige Zeitspanne, in welcher der Versicherte seiner bisher als blossen Idee bestehenden Absicht der selbständigen Erwerbstätigkeit konkrete Züge verleiht, indem er sich ein die Grundlagen der Geschäftstätigkeit umfassendes Dossier zusammenstellt und die dafür notwendigen Abklärungsarbeiten vornimmt; so ist der Versicherte gemäss Art. 95b Abs. 1 lit. c AVIV bei der Gesuchseinreichung denn auch nur gehalten, ein Grobprojekt der geplanten Tätigkeit einzureichen. Es sollen jedoch keine besonderen Taggelder während der - an die Planungsphase anschliessenden - Anlaufphase des Geschäfts ausgerichtet werden, da die Tatsache, dass zu Beginn der Tätigkeit kein oder nur ein geringer Ertrag erwirtschaftet wird, zum durch die Arbeitslosenversicherung nicht gedeckten Unternehmerrisiko gehört (nicht veröffentlichtes Urteil F. vom 23. April 1999, C 407/97) und mit der Aufnahme der selbständigen Erwerbstätigkeit keine für den Schutz der Arbeitslosenversicherung notwendige Stellung als Arbeitnehmer mehr vorliegt. Das während dieser Zeit benötigte Kapital für das Geschäft (und den eigenen Lebensunterhalt) ist nicht von der Arbeitslosenkasse, sondern privat aufzubringen, wozu allenfalls die Übernahme von 20 % des Verlustrisikos für eine nach dem Bundesbeschluss vom 22. Juni 1949 über die Förderung der gewerblichen Bürgschaftsgenossenschaften gewährte Bürgschaft dienen kann (Art. 71a Abs. 2 AVIG; nicht veröffentlichtes Urteil N. vom 7. März 2003, C 160/02).
5.3 Der Entscheid darüber, wann die Planungs- und Vorbereitungsphase abgeschlossen ist, und wann die - in der Regel fliessend nachfolgende - Anlaufphase beginnt, ist jeweils wertend im Einzelfall zu treffen, wobei der zuständigen Behörde ein Ermessensspielraum eingeräumt werden muss. Der effektive Markteintritt kann zwar einen Anhaltspunkt für den Abschluss der Planungsphase darstellen, ist jedoch nicht das allein massgebende Kriterium. Wegen des in den allermeisten Fällen fliessenden Überganges zwischen den verschiedenen Phasen ist nicht klar, wann genau der Markteintritt erfolgt und ob er überhaupt ohne Unterbruch an die Planungsphase anschliesst.
6.
6.1 Die Vorinstanz hatte in ihrer summarischen Würdigung über die Gewinnaussichten beim Entscheid über die unentgeltliche Rechtspflege den Umstand zu berücksichtigen, dass der Verwaltung ein Ermessensspielraum zusteht und es bei dessen Überprüfung nicht darum gehen kann, dass die kontrollierende richterliche Behörde ihr Ermessen an die Stelle der Vorinstanz setzt. Bei der Unangemessenheit geht es um die Frage, ob der zu überprüfende Entscheid, den die Behörde nach dem ihr zustehenden Ermessen im Einklang mit den allgemeinen Rechtsprinzipien in einem konkreten Fall getroffen hat, nicht zweckmässigerweise anders hätte ausfallen sollen. Allerdings darf das Sozialversicherungsgericht sein Ermessen nicht ohne triftigen Grund an die Stelle desjenigen der Verwaltung setzen; es muss sich somit auf Gegebenheiten abstützen können, welche seine abweichende Ermessensausübung als naheliegender erscheinen lassen (BGE 126 V 81 Erw. 6, 123 V 152 Erw. 2 mit Hinweisen).
6.2 Wenn das RAV verfügte, mit der Aufnahme des vom Beschwerdeführer als Versuchsphase bezeichneten Betriebs der Firma "C.________" vor Einreichung seines Gesuchs um besondere Taggelder gemäss Art. 71a AVIG seien die gesetzlichen Voraussetzungen nicht erfüllt, hat es damit seinen Ermessensspielraum nicht verletzt. Das gleiche gilt für den Umstand, dass nicht dargetan worden ist, wie der Beschwerdeführer seinen Lebensunterhalt bestreiten will, bis sein Unternehmen einen existenzsichernden Gewinn abwirft. Damit hat das kantonale Gericht seinerseits weder Bundesrecht verletzt (einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens) noch den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt (vgl. Erwägung 1 hievor), wenn es zum Entscheid gelangte, die dagegen eingereichte Beschwerde sei aussichtslos.
7.
Verwaltungsgerichtsbeschwerden wegen Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege unterliegen grundsätzlich nicht der Kostenpflicht (SVR 1994 IV Nr. 29 S. 76 Erw. 4).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Solothurn und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 26. Januar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: