BGer C 171/2003
 
BGer C 171/2003 vom 31.03.2004
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 171/03
Urteil vom 31. März 2004
I. Kammer
Besetzung
Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi, Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiber Hadorn
Parteien
Amt für Wirtschaft und Arbeit, Arbeitslosenversicherung, Stampfenbachstrasse 32, 8001 Zürich, Beschwerdeführer,
gegen
W.________, 1945, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Paul Hollenstein, Stockerstrasse 39, 8027 Zürich
Vorinstanz
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur
(Entscheid vom 12. Mai 2003)
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 2. Mai 2002 verneinte das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Zürich den Anspruch von W.________ (geb. 1945) auf Arbeitslosenentschädigung ab 5. Oktober 2001.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 24. September 2002 insofern gut, als es die Sache zu näheren Abklärungen im Sinne der Erwägungen an das AWA zurückwies.
C.
Mit Verfügung vom 5. Dezember 2002 lehnte das AWA den Anspruch von W.________ auf Arbeitslosenentschädigung ab 5. Oktober 2001 erneut ab.
D.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 12. Mai 2003 gut.
E.
Das AWA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der kantonale Entscheid sei aufzuheben.
Während W.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen lässt, verzichtet das Staatssekretariat für Wirtschaft (seco) auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat die gesetzliche Bestimmung zum Ausschluss arbeitgeberähnlicher Personen vom Anspruch auf Kurzarbeitsentschädigung (Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG) und die Rechtsprechung zur analogen Anwendung dieser Vorschrift auf arbeitgeberähnliche Personen, welche Arbeitslosenentschädigung beantragen (BGE 123 V 237 Erw. 7), richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 5. Dezember 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).
2.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdegegnerin auf Arbeitslosenentschädigung ab 5. Oktober 2001. Ab diesem Datum hielt sie sich der Arbeitsvermittlung im Umfang einer Teilzeitbeschäftigung von 60 %, unter Umständen 80 % einer Vollzeitstelle zur Verfügung.
2.1 Sachverhaltlich unbestritten ist, dass die Versicherte vom 1. Januar 1999 bis 12. April 2001 in der Firma X.________ AG zu 20 % als Buchhalterin angestellt war. Lohn bezog sie für ihre Arbeit einzig vom 1. Januar 2001 bis 12. April 2001. Von September 1999 bis zum heutigen Tag ist sie zusammen mit ihrem Ehemann und einer Drittperson als Verwaltungsratsmitglied dieser Firma mit Kollektivunterschrift zu Zweien im Handelsregister eingetragen. Vom 17. April bis 31. August 2001 arbeitete sie sodann in der Firma Y.________ AG zu 80 %. Die Verwaltung verneinte den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, da die Beschwerdegegnerin in der Firma X.________ AG auch nach dem 12. April 2001 weiterhin eine arbeitgeberähnliche Stellung beibehalten habe und überdies ihr Ehemann dort ebenfalls in arbeitgeberähnlicher Position eingetragen sei. Die Vorinstanz hingegen erwog, die Versicherte habe ab 17. April 2001 in einer Drittfirma gearbeitet. Es gebe keinerlei Hinweise dafür, dass sie diese Stelle nur pro forma angetreten habe, um später Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung zu erheben. Sie sei auf Grund der Anstellung im Drittbetrieb arbeitslos geworden und könne deshalb Taggelder beziehen. Denn in einer derartigen Situation liege kein Missbrauch vor.
2.2 Hinsichtlich der Stellung der Versicherten in der X.________ AG ist der Verwaltung beizupflichten. In der Tat hat die Beschwerdegegnerin in diesem Betrieb bis zum heutigen Tag ihre arbeitgeberähnliche Position beibehalten. Dazu kommt, dass ihr Ehemann dort ebenfalls ein Verwaltungsratsmandat ausübt. Somit blieb es der Versicherten auch nach der Kündigung auf den 12. April 2001 weiterhin möglich, auf den Geschäftsgang Einfluss zu nehmen und sich gegebenenfalls dort wieder einzustellen. Dass sie effektiv keine derartigen Befugnisse ausgeübt und für ihre Buchhaltungsarbeiten nur über kurze Zeit eine bescheidene Entlöhnung bezogen haben will, hilft ihr nicht weiter. Die Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 236 Erw. 7 bezweckt nicht nur dem ausgewiesenen Missbrauch als solchem zu begegnen, sondern bereits dem Risiko eines Missbrauchs, welches der Ausrichtung von Arbeitslosenentschädigung an arbeitgeberähnliche Personen inhärent ist (Urteil F. vom 14. April 2003, C 92/02). Solange die Beschwerdegegnerin nicht definitiv aus der genannten Firma ausscheidet, kann sie daher bezüglich einer durch die Entlassung in diesem Betrieb entstandenen Arbeitslosigkeit keine Taggelder beziehen.
2.3 Die Versicherte macht indessen geltend, sie sei auf Grund der Kündigung bei der Y.________ AG arbeitslos geworden. Dies sei ein von der X.________ AG vollständig unabhängiger Drittbetrieb, in welchem sie keinerlei arbeitgeberähnliche Befugnisse besessen habe. Sie habe wegen der durch die Auflösung der Anstellung bei der Y.________ AG entstandenen Arbeitslosigkeit Anspruch auf Taggelder.
2.3.1 Es liegt die Konstellation vor, dass jemand in einer ersten Firma arbeitgeberähnliche Person bleibt, daneben in einem Drittbetrieb unselbstständig erwerbstätig wird, dort die Anstellung verliert und hierauf Arbeitslosenentschädigung beantragt. Auch in solchen Fällen besteht das Risiko eines Missbrauchs: die versicherte Person könnte im Erstbetrieb die arbeitgeberähnliche Stellung beibehalten und lediglich pro forma für kurze Zeit eine Drittanstellung suchen, um nach der durch Verlust dieser Stelle eingetretenen Arbeitslosigkeit Leistungen von der Arbeitslosenversicherung beantragen. Würde sie hernach tatsächlich Arbeitslosenentschädigung beziehen und gleichzeitig in der ersten Firma weiterhin mitentscheiden, wäre darin eine Umgehung von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG zu erblicken (so auch Jäggi, Eingeschränkter Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung bei arbeitgeberähnlicher Stellung durch analoge Anwendung von Art. 31 Abs. 3 lit. c AVIG, in SZS 2004 S. 12 ff.). Auf der andern Seite ist zu berücksichtigen, dass die betreffende Person im Drittbetrieb keine arbeitgeberähnliche Stellung bekleidet und Beiträge an die Arbeitslosenversicherung entrichtet. Sie sollte somit grundsätzlich den selben Versicherungsschutz geniessen wie andere Arbeitnehmer. Ist diese Person daher während längerer Zeit in der dritten Firma tätig, kann ihr im Falle einer dortigen Entlassung ein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nicht für unbegrenzte Zeit mit dem Hinweis auf die arbeitgeberähnliche Stellung im Erstunternehmen versagt werden. Vielmehr gilt es für derartige Fälle einen angemessenen Ausgleich zu finden zwischen dem wegen Missbrauchsgefahr statuierten Ausschluss arbeitgeberähnlicher Personen vom Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung einerseits und dem Anspruch solcher Personen mit gleichzeitiger Arbeitnehmertätigkeit in Drittbetrieben auf die genannte Leistung anderseits. Es ist mit andern Worten eine zeitliche Grenze zu suchen, ab welcher der Bezug von Arbeitslosenentschädigung auf Grund der Entlassung im Drittbetrieb trotz beibehaltener arbeitgeberähnlicher Stellung im Erstbetrieb nicht mehr als rechtsmissbräuchlich erscheint.
2.3.2 Laut Art. 37 Abs. 4 lit. a AVIV wird der versicherte Verdienst (Art. 23 Abs. 1 AVIG) auf die nächste Kontrollperiode neu festgesetzt, wenn der Versicherte innerhalb der Rahmenfrist für den Leistungsbezug während mindestens sechs Monaten ununterbrochen eine beitragspflichtige Beschäftigung zu einem Lohn ausgeübt hat, der über dem versicherten Verdienst liegt, und er erneut arbeitslos wird. Dies bedeutet mit andern Worten, dass eine Person, die arbeitslos wird und die Eröffnung einer Rahmenfrist auslöst, grundsätzlich Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung nach Massgabe des vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erzielten Verdienstes hat. Findet diese Person während der Rahmenfrist für die Beitragszeit eine andere Stelle, an welcher sie während mindestens sechs Monaten mehr verdient als am früheren, verlorenen Arbeitsplatz, und verliert sie auch die neue Stelle, wird die Arbeitslosenentschädigung alsdann auf Grund des am zweiten Arbeitsplatz erzielten, höheren Verdienstes bemessen. Nach sechs Monaten Beschäftigungsdauer an der späteren Stelle kommt dem dort erzielten Lohn bezüglich der Höhe der Arbeitslosenentschädigung der Vorrang zu vor dem an der früheren Stelle erzielten Verdienst. Diese Ordnung kann auf den vorliegenden Sachverhalt analog angewandt werden. Demnach ist Versicherten mit arbeitgeberähnlicher Stellung und ihren Ehegatten nach Verlust einer während mindestens sechs Monaten ausgeübten Arbeitnehmertätigkeit in einem Drittbetrieb die Berechtigung zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung zuzuerkennen, selbst wenn die arbeitgeberähnliche Stellung im Erstbetrieb noch andauert. Diese Lösung hat überdies den Vorteil, dass sie für die rechtsanwendenden Behörden einfach zu handhaben ist.
2.3.3 Das seco hat in einer Mitteilung in AM/ALV-Praxis 2003/4 Blatt 4/3 Ziff. 3 lit. c zur vorliegenden Konstellation Folgendes festgehalten: "Hat eine versicherte Person eine arbeitgeberähnliche Stellung inne und macht einen Arbeitsausfall bei einem Drittbetrieb geltend, kann der Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung erst nach einer zwölfmonatigen unselbstständigen Erwerbstätigkeit in diesem Drittbetrieb bejaht werden." Lit. d der selben Mitteilung bestimmt zudem in analoger Weise, dass Ehegatten/innen, die aus einem ehelichen Betrieb ausscheiden, erst als anspruchsberechtigt gelten, wenn sie einen Arbeitsausfall bei einem Drittbetrieb geltend machen und mindestens eine zwölfmonatige Beitragszeit ausserhalb des ehelichen Betriebs nachweisen können.
Das seco orientiert sich somit an der Mindestbeitragszeit gemäss Art. 13 Abs. 1 AVIG. Ob diese Lösung sachgerecht ist und die Weisungen gesetzmässig sind, kann vorliegend indessen offen bleiben, zumal sich am Ergebnis nichts ändern würde (vgl. Erw. 2.4 hienach).
2.4 Die Beschwerdegegnerin hat bei der Y.________ AG vom 17. April bis 31. August 2001 gearbeitet, somit während viereinhalb Monaten. Dies liegt unterhalb der minimalen Beschäftigungsdauer von sechs Monaten, auf welche abzustellen ist (Erw. 2.3.2 hievor). Demnach erfüllt die Versicherte auf Grund allein ihrer Anstellung bei der Y.________ AG die nötige Beschäftigungsdauer nicht. Sonstige Anstellungen bei andern Drittbetrieben werden weder nachgewiesen noch geltend gemacht, weshalb kein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung besteht.
3.
3.1 In formeller Hinsicht beanstandet die Versicherte, das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) habe den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung geprüft und den Fall wegen Zweifeln an der Anspruchsberechtigung der kantonalen Amtsstelle zum Entscheid überwiesen. Eine derartige Überweisung dürfe nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift nur durch eine Arbeitslosenkasse erfolgen; ein RAV habe keine Befugnis, ein Zweifelsfallverfahren (Art. 81 Abs. 2 AVIG) einzuleiten. Die Kasse habe jedoch keine Zweifel an der Anspruchsberechtigung geäussert. Daher sei die leistungsverneinende Verfügung des AWA nichtig und von Amtes wegen aufzuheben.
3.2 Gleichzeitig führt die Beschwerdegegnerin in der Vernehmlassung aus, das Arbeitsverhältnis mit der X.________ AG sei vorliegend irrelevant, mache sie doch diesbezüglich keine Ansprüche an die Arbeitslosenversicherung geltend. Sie verlange einzig auf Grund der Anstellung bei der Y.________ AG Arbeitslosenentschädigung.
Damit anerkennt die Versicherte selbst, dass sie gestützt auf die Arbeitnehmertätigkeit in der erstgenannten Firma keinen Anspruch auf Leistungen hat. Die Überweisung an das AWA erfolgte indessen, wie sich aus der Begründung des Überweisungsschreibens ergibt, zur Abklärung der Vermittlungsfähigkeit im Hinblick darauf, dass die Versicherte offenbar parallel zu ihren Arbeitsbemühungen auch die Aufnahme einer selbstständigen Erwerbstätigkeit vorbereitet hatte. Das AWA wies den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ausschliesslich wegen der arbeitgeberähnlichen Stellung bei der X.________ AG ab. Zur Anstellung bei der Y.________ AG äusserte es sich weder in der Verfügung vom 2. Mai 2002 noch in derjenigen vom 5. Dezember 2002. Da die Versicherte nach dem Gesagten keine Leistungen auf Grund der Anstellung bei der X.________ AG beansprucht und die Arbeitnehmertätigkeit bei der Y.________ AG nicht Gegenstand des Zweifelsfallverfahrens war, kann offen bleiben, ob das RAV zur Einleitung eines derartigen Verfahrens befugt war.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 12. Mai 2003 aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Arbeitslosenkasse des SMUV und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 31. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: