BGer 5P.317/2004
 
BGer 5P.317/2004 vom 01.11.2004
Tribunale federale
{T 0/2}
5P.317/2004 /rov
Urteil vom 1. November 2004
II. Zivilabteilung
Besetzung
Bundesrichter Raselli, Präsident,
Bundesrichterin Nordmann, Bundesrichter Meyer,
Bundesrichterin Hohl, Bundesrichter Marazzi,
Gerichtsschreiber von Roten.
Parteien
X.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Tim Walker,
gegen
Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Fürsorgerechtliche Kammer, Postfach 760, 6301 Zug.
Gegenstand
Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK (fürsorgerische Freiheitsentziehung),
Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug, Fürsorgerechtliche Kammer, vom 18. Juni 2004.
Sachverhalt:
A.
Im Rahmen fürsorgerischer Freiheitsentziehung wurde X.________ am 3. Juli 2003 in die Psychiatrische Klinik A.________ eingewiesen. Nach Erhalt des letzten bundesgerichtlichen Urteils vom 4. Dezember 2003 (5C.218/2003), mit dem eine Entlassung aus der Klinik abgelehnt wurde, beantragte X.________ am 16. ds. erneut die sofortige Aufhebung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung. Der Gemeinderat G.________ wies das Entlassungsgesuch ab (Beschluss vom 26. April 2004). Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Fürsorgerechtliche Kammer, ab, soweit darauf eingetreten werden konnte (Urteil vom 18. Juni 2004).
B.
Gegen das Urteil vom 18. Juni 2004 hat X.________ eidgenössische Berufung eingelegt und staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Mit beiden Rechtsmitteln beantragt sie in der Sache, das Urteil des Verwaltungsgerichts und den Beschluss des Gemeinderats aufzuheben und den Gemeinderat sofort, superprovisorisch und vorsorglich anzuweisen, die Freiheitsentziehung mit sofortiger Wirkung aufzuheben, eventualiter die sofortige Verlegung in die offene Abteilung einer anderen Anstalt anzuordnen. Die Beschwerdeführerin stellt weitere Anträge zum Verfahren und ersucht um unentgeltliche Rechtspflege vor Bundesgericht. Das kantonale Verwaltungsgericht schliesst auf Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden könne. Die Vernehmlassung wurde der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme zugestellt.
C.
Mit Verfügung vom 26. August 2004 hat der Präsident der II. Zivilabteilung das Gesuch der Beschwerdeführerin um sofortige Entlassung aus der Klinik abgewiesen.
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1.
In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist Folgendes vorauszuschicken:
1.1 Die kantonalen Behörden haben gestützt auf die Art. 397a ff. ZGB über ein Gesuch der Beschwerdeführerin um Entlassung aus der Klinik entschieden. Entscheidgegenstand hat deshalb weder die Art und Durchführung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung noch die Behandlung in der Klinik gebildet. Soweit die Beschwerdeführerin Rügen erhebt, die sich darauf beziehen und damit über den kantonalen Entscheidgegenstand hinausgehen, kann auf ihre staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden. Die hier nicht zu erörternden Fragen beschlagen im Übrigen ein selbstständiges kantonales Beschwerdeverfahren mit separatem Urteil vom 18. Juni 2004 (F 2004 26), das seinerseits mit staatsrechtlicher Beschwerde angefochten werden kann (z.B. BGE 130 I 16).
1.2 Über die Entlassung aus der Klinik hat kantonal letztinstanzlich das Verwaltungsgericht entschieden (Art. 86 f. OG). Soweit die Beschwerdeführerin Rügen gegen den Gemeinderatsbeschluss erhebt (z.B. in Ziff. 4) und formell dessen Aufhebung beantragt, kann auf ihre staatsrechtliche Beschwerde nicht eingetreten werden. Die Voraussetzungen einer Mitanfechtung des kantonal erstinstanzlichen Beschlusses sind nicht erfüllt, da das Verwaltungsgericht sämtliche Rügen der Beschwerdeführerin, die heute vorgebracht werden, in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht frei hat überprüfen können und damit über eine Prüfungsbefugnis verfügt hat, die nicht enger ist als diejenige des Bundesgerichts im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde (BGE 111 Ia 353; 128 I 46 E. 1c S. 51).
1.3 Die Beschwerdeführerin beantragt in Ziff. 1, das angefochtene Urteil auch aufzuheben, was die Verweigerung der Parteientschädigung und die Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie die Ablehnung des Antrags betreffend Urteilseröffnung angeht. Sie begehrt in Ziff. 4 eine Ergänzung der Beschwerde nach Zustellung der Akten, in Ziff. 5 ihre mündliche Anhörung und Befragung und in Ziff. 7 die Zusprechung einer angemessenen Parteientschädigung für das kantonale Verfahren. Für diese Anträge fehlt jegliche Begründung, so dass darauf nicht eingetreten werden kann.
2.
Im angefochtenen Urteil werden die Anträge und die Begründung, die die Beschwerdeführerin in ihrer Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht hat, auf rund drei Seiten wiedergegeben (Bst. B S. 2 ff.). In seinen Erwägungen hat das Verwaltungsgericht anschliessend auf fünfzehn Seiten die Anträge und Vorbringen der Beschwerdeführerin behandelt und die Voraussetzungen einer Entlassung aus der Klinik geprüft (E. 1-12 S. 7 ff.). In Anbetracht dessen erweist sich die Rüge der Beschwerdeführerin (vorab in Ziff. 4 und 5) als unberechtigt, das Verwaltungsgericht habe die verfassungsmässige Prüfungs- und Begründungspflicht und damit ihren Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzt. Danach hat die Behörde zum einen die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen tatsächlich zu hören, sorgfältig und ernsthaft zu prüfen und in der Entscheidfindung zu berücksichtigen, und zum anderen im Entscheid wenigstens kurz die Überlegungen zu nennen, von denen sie sich hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt. Das angefochtene Urteil erfüllt diese Anforderungen ohne weiteres und hat - wie die Beschwerdeschrift belegt - gewährleistet, dass sich die Beschwerdeführerin im Klaren über die wesentlichen Entscheidgründe war, sich über die Tragweite des angefochtenen Urteils Rechenschaft geben und dieses in voller Kenntnis der Sache weiterziehen konnte (vgl. BGE 114 Ia 233 E. 2d S. 242; 129 I 232 E. 3.2 S. 236).
3.
Die Beschwerdeführerin rügt die verwaltungsgerichtliche Ermittlung und Feststellung des Sachverhalts unter mehreren Gesichtspunkten als verfassungswidrig. Sie macht geltend (vorab in Ziff. 1 bis 3 und Ziff. 18), das Verwaltungsgericht habe auf bestrittene Tatsachen abgestellt, sich mit ihren Vorbringen nicht auseinandergesetzt, von ihr beantragte Beweismittelerhebungen nicht durchgeführt und mehrere Beweisanträge abgelehnt. Sie erblickt darin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und eine Missachtung weiterer Verfassungsbestimmungen sowie einen Verstoss gegen den Grundsatz des "fair trial" (Art. 6 Ziff. 1 EMRK).
3.1 Die Beschwerdeführerin unterstützt ihre Rügen und ergänzt den massgebenden Sachverhalt mit drei Beschwerdebeilagen. Es handelt sich um zwei Schreiben und eine Abrechnung, die indessen allesamt im August 2004 und damit erst nach Ausfällung des angefochtenen Urteils vom 18. Juni 2004 erstellt wurden. Die Beschwerdebeilagen sind neu und und im Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde nicht zu berücksichtigen (vgl. BGE 121 I 279 E. 3a S. 283/284).
3.2 Die Beschwerdeführerin behauptet, ihre Bestreitungen seien unbeachtet geblieben, belegt aber nicht mit klaren Verweisen, welcher Aktenbestandteil nicht oder nicht mit seinem wahren Gehalt bei der Sachverhaltsfeststellung berücksichtigt worden sein soll. Mit Blick auf von ihr angeblich gestellte Beweismittelanträge macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend, unterlässt es aber, in der Beschwerdeschrift aufzuzeigen und mit klaren Verweisen zu belegen, welche zum Nachweis strittiger Tatsachen geeigneten Beweismittel rechtzeitig und prozesskonform angeboten worden sein sollen. Ihre Kritik an der verwaltungsgerichtlichen Sachverhaltsermittlung und -feststellung genügt den formellen Anforderungen an die Beschwerdeschrift nicht (vgl. Galli, Die rechtsgenügende Begründung einer staatsrechtlichen Beschwerde, SJZ 81/1985 S. 121 ff., S. 127, und aus der ständigen Rechtsprechung, z.B. Urteile 5P.184/2004 vom 25. Juni 2004, E. 2.2.7, und 5P.160/2004 vom 8. Juli 2004, E. 4). Den Mangel in formeller Hinsicht vermag die Beschwerdeführerin nicht dadurch zu beheben, dass sie zur Begründung ihrer Rügen einfach auf das zu edierende - und von Amtes wegen (Art. 93 Abs. 1 OG) beigezogene - Protokoll der Schlussverhandlung vom 14. Juni 2004 verweist. Verfassungsrügen müssen in der Beschwerdeschrift selbst enthalten sein, zumal es nicht Aufgabe des Bundesgerichts ist, in Eingaben oder sonstigen kantonalen Akten nach Beschwerdegründen zu suchen (vgl. Galli, a.a.O., S. 122; BGE 99 Ia 586 E. 3 S. 593; 130 I 258 E. 2.2 S. 263). Es wäre der Beschwerdeführerin möglich und zumutbar gewesen, sich vor Ablauf der - durch die Sommergerichtsferien verlängerten und voll ausgeschöpften - Beschwerdefrist Kenntnis vom Inhalt des Gerichtsprotokolls zu verschaffen, falls sie vergessen oder nicht aufgeschrieben haben sollte, was sie vor Gericht behauptet oder bestritten und beantragt hat.
3.3 Eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör und des Grundsatzes der Verfahrensfairness erblickt die Beschwerdeführerin schliesslich darin, dass das Verwaltungsgericht mehrere gestellte Beweisanträge auf Edition oder Beizug bestimmter Akten abgewiesen habe. Im angefochtenen Urteil heisst es dazu, die fraglichen Akten könnten - wenn überhaupt - einzig belegen, dass die Beschwerdeführerin in der Vergangenheit in der Lage gewesen sei, selbstständig zu leben und auch zu arbeiten, was grundsätzlich unbestritten geblieben sei. Für die Beurteilung der heutigen Verhältnisse seien diese Akten aber wenig aussagekräftig, so dass ein Beizug unterbleiben könne (E. 5f S. 16/17). Eine derart vorweggenommene Beweiswürdigung, d.h. die Annahme des Gerichts, seine aus dem bisherigen Beweisverfahren gewonnene Überzeugung würde durch weitere Beweiserhebungen nicht mehr geändert, verletzt weder den verfassungsmässigen Beweisanspruch (Art. 29 Abs. 2 BV; BGE 124 I 208 E. 4a S. 211) noch das Gebot der Fairness des Verfahrens (Art. 6 Ziff. 1 EMRK; BGE 122 V 157 E. 2b S. 163/164; 124 I 274 E. 5b S. 285). Dass die Beweiswürdigung willkürlich sein könnte, behauptet die Beschwerdeführerin nicht ansatzweise. Es erübrigt sich damit, auf die Begründetheit bzw. Zulässigkeit ihrer Beweisanträge vor Bundesgericht einzugehen. Die gegen die Sachverhaltsermittlung und -feststellung gerichtete staatsrechtliche Beschwerde muss insgesamt abgewiesen werden, soweit darauf einzutreten ist.
4.
In der Sache rügt die Beschwerdeführerin, die Voraussetzungen dafür, sie in der Klinik zurückzubehalten, seien nicht erfüllt (vorab in Ziff. 20). Im Einzelnen behauptet sie, der Eingriff in ihre Freiheitsrechte entbehre der gesetzlichen Grundlage (vorab in Ziff. 12 bis 15) und sei unverhältnismässig (vorab in Ziff. 6 bis 11). Ferner wendet die Beschwerdeführerin ein, die offene Abteilung der Psychiatrischen Klinik A.________ sei keine geeignete Anstalt, das Verfahren vor dem Gemeinderat habe zu lange gedauert (Ziff. 16) und auf das Gutachten von Dr. L.________ hätte nicht abgestellt werden dürfen (Ziff. 17). Alle ihre Rügen unterstützt die Beschwerdeführerin mit Hinweisen auf Bestimmungen der Bundesverfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Die Regelung der fürsorgerischen Freiheitsentziehung in Art. 397a ff. ZGB bildet eine Konkretisierung des Verfassungsrechts der persönlichen Freiheit und bringt - insbesondere mit Bezug auf das Verfahren - das schweizerische Recht mit internationalen Normen, vor allem mit den Garantien gemäss Art. 5 f. EMRK in Einklang. Ihre Anwendung und Auslegung hat verfassungs- und konventionskonform zu erfolgen. Eine Missachtung der Bundesverfassung bzw. der EMRK bedeutet deshalb zuerst eine Verletzung der Bestimmungen des Zivilgesetzbuches, die vor Bundesgericht mit der eidgenössischen Berufung zu rügen ist (Art. 43 OG); diese geht der staatsrechtlichen Beschwerde vor (Art. 84 Abs. 2 OG; BGE 115 II 129 E. 5a S. 131 und die seitherige ständige Rechtsprechung: BGE 125 III 169 E. 2 S. 171; Urteil 5P.359/2004 vom 30. September 2004, E. 2).
Auf die Rügen in der Sache und die damit verbundenen Beschwerde- und Beweisanträge kann nach dem Gesagten nicht eingetreten werden. Sie sind im Rahmen der eidgenössischen Berufung zu behandeln, in der sie allesamt mit der praktisch gleichen Begründung erhoben werden. Dass die von ihr angerufenen Verfassungs- und EMRK-Bestimmungen einen weiterreichenden Schutz gewährleisten würden als die im Sinne dieser Garantien angewendete und ausgelegte Regelung über die fürsorgerische Freiheitsentziehung in Art. 397a ff. ZGB, macht die Beschwerdeführerin nicht geltend und ist deshalb auch nicht zu prüfen (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG; BGE 130 I 26 E. 2.1 S. 31 und 258 E. 1.3 S. 261; 129 I 113 E. 2.1 S. 120).
5.
Aus den dargelegten Gründen bleibt die staatsrechtliche Beschwerde ohne Erfolg. Die Beschwerdeführerin wird kostenpflichtig (Art. 156 Abs. 1 OG). Die vorstehenden Erwägungen, wonach die Vorbringen der Beschwerdeführerin zur Hauptsache unzulässig (E. 1, 3 und 4) und für den Rest unbegründet (E. 2) sind, verdeutlichen, dass die gestellten Rechtsbegehren von Beginn an keinen Erfolg haben konnten. Das Gesuch der Beschwerdeführerin um unentgeltliche Rechtspflege muss deshalb abgewiesen werden (Art. 152 OG). Aus dem gleichen Grund besteht für die beantragte Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor Bundesgericht (Rechtsbegehren-Ziff. 6) kein Anlass.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
3.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 1'000.-- wird der Beschwerdeführerin auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin und dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Fürsorgerechtliche Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 1. November 2004
Im Namen der II. Zivilabteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber: