BGer C 308/2002
 
BGer C 308/2002 vom 27.07.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
C 308/02
Urteil vom 27. Juli 2005
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiber Grunder
Parteien
F.________, 1949, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Willy Bolliger, Bahnhofplatz 1, 5400 Baden,
gegen
Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau (AWA), Rain 53, 5000 Aarau, Beschwerdegegner
Vorinstanz
Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau
(Entscheid vom 12. November 2002)
Sachverhalt:
A.
Der 1949 geborene F.________, gelernter Maschinenkonstrukteur, war vom 1. Juni 1987 bis 31. Mai 2002 als Produkteentwickler bei der L.________ AG angestellt. Das Arbeitsverhältnis wurde aus wirtschaftlichen Gründen (Auftragseinbruch) aufgelöst. Mit Gesuch vom 30. April 2002 meldete er sich zur Arbeitsvermittlung und am 3. Juni 2002 zum Bezug von Arbeitslosenentschädigung ab 1. Juni 2002 an. Am 10. Juni 2002 begann er ein Arbeitspraktikum in der Abteilung "Berufsorientierte Ergotherapie" der Klinik B.________, das er am 6. August 2002 vorzeitig abbrach. Mit Verfügung vom 2. September 2002 lehnte das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Aargau einen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung im Zeitraum vom 1. Juni bis 6. August 2002 ab.
B.
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 12. November 2002).
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt F.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihm ab 1. Juni 2002 Arbeitslosenentschädigung zuzusprechen.
Das AWA und das Staatssekretariat für Wirtschaft verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist im vorliegenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 2. September 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
2.
Die Vorinstanz hat den im vorliegenden Zusammenhang anwendbaren Art. 24 AVIG (in der bis 30. Juni 2003 gültig gewesenen Fassung [In-Kraft-Treten der Änderung gemäss Bundesgesetz vom 22. März 2002 am 1. Juli 2003]) zutreffend wiedergegeben, worauf verwiesen wird.
Nach ständiger Rechtsprechung bleibt für die Annahme eines Zwischenverdienstes im Sinne von Art. 24 AVIG kein Raum, wenn die zur Diskussion stehende Tätigkeit nicht zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, sondern in erster Linie zu Ausbildungszwecken, mithin zum Erwerb beruflicher Kenntnisse und Fertigkeiten aufgenommen wird. Letztes liegt in der Regel vor, wenn die versicherte Person nach Abschluss einer Grundausbildung ein Praktikum absolviert. In diesen Fällen betrachtet das Eidgenössische Versicherungsgericht die aufgenommene Tätigkeit als zur Grundausbildung gehörig, wofür der enge sachliche und zeitliche Zusammenhang mit dem abgeschlossenen Studium sowie die geringe Entlöhnung sprechen (ARV 1998 Nr. 7 S. 36, 1997 Nr. 35 S. 195; Urteile Z. vom 16. Januar 2004 [C 193/03] und Z. vom 25. Januar 2000 [C 203/99]; nicht veröffentlichte Urteile S. vom 26. Mai 1998 [C 320/96], S. vom 5. September 1996 [C 158/96] und F. vom 1. Juni 1994 [C 83/93]). Auch in Fällen, wo die versicherte Person einschlägige Berufserfahrung mitbringt, jedoch ein gering entlöhntes Praktikum in einem völlig andersgearteten Berufsbereich beginnt, sei es mit dem Ziel, später eine entsprechende Grundausbildung zu absolvieren, sei es zur Abklärung der Eignung einer entsprechenden Arbeit, steht in der Regel der Erwerb von Kenntnissen und Fertigkeiten im Vordergrund (ARV 1998 Nr. 49 S. 286; Urteile S. vom 14. Juni 2004 [C 297/03], L. vom 4. August 2003 [C 21/03] und B. vom 9. Juni 2000 [C 385/99]; nicht veröffentlichte Urteile S. vom 11. März 1999 [C 412/98] und S. vom 4. April 1995 [C 191/94]).
3.
3.1 Es steht fest und ist im Übrigen unbestritten, dass der Beschwerdeführer sich während der Kündigungsfrist bis am 31. Mai 2002 u.a. als Leiter und Betreuer in einer geschützten Werkstätte beworben hat. Seinen eigenen Angaben zufolge befürchtete er, im gelernten Beruf als Maschinenkonstrukteur und als Projektleiter im Maschinenbaugewerbe angesichts seines Alters keine Neuanstellung mehr zu finden, weshalb er sein Tätigkeitsfeld zu erweitern suchte. Am 24. Mai 2002 schloss er einen Vertrag mit der Klinik B.________ ab, gemäss welchem er ein Arbeitspraktikum in der Abteilung Ergotherapie zu absolvieren beabsichtigte, das vom 10. Juni 2002 bis 30. November 2002 dauern sollte, bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 42 Stunden und einem monatlichen Verdienst von Fr. 1000.-. Der Beschwerdeführer trat die Stelle am 10. Juni 2002 an und löste den Vertrag am 6. August 2002 mit sofortiger Wirkung auf.
3.2 Aus diesen Umständen zog das kantonale Gericht den Schluss, dass die Beschäftigung bei der Klinik B.________ nicht als Zwischenverdiensttätigkeit, sondern als Weiterbildung zu werten sei. Das Vorbringen des Beschwerdeführers, er habe die Arbeitslosenkasse finanziell entlasten wollen, sei nicht glaubhaft, zumal er eine mögliche Anstellung mit einem Einkommen von Fr. 4000.- monatlich mit der Begründung abgelehnt habe, dieser Verdienst sei zu tief. Wäre es ihm tatsächlich um die Beendigung der Arbeitslosigkeit gegangen, hätte er diese Stelle angenommen und bei der Arbeitslosenkasse Kompensationszahlungen beantragt. Es fehle mithin an der Anspruchsvoraussetzung der Arbeitslosigkeit im Sinne von Art. 8 Abs. 1 lit. a AVIG im Zeitraum vom 10. Juni bis 6. August 2002. Vom 1. bis 9. Juni 2002 sei die Vermittlungsfähigkeit zu verneinen, da für eine derart kurze Zeitspanne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt keine Anstellung gefunden werden könne. Ein Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung sei daher ab 1. Juni bis 6. August 2002 zu verneinen.
3.3 Der Beschwerdeführer bringt im Wesentlichen vor, er habe das Arbeitsverhältnis mit der Klinik B.________ jederzeit auflösen können. Während der Arbeitszeit habe er Bewerbungen geschrieben, Gespräche mit potentiellen Arbeitgebern geführt und sich persönlich vorgestellt.
3.4 Dem vorinstanzlichen Ergebnis ist insoweit beizupflichten, als es sich bei der Tätigkeit in der Klinik B.________ um einen völlig andersgearteten Berufsbereich handelt, auch wenn berücksichtigt wird, dass der Beschwerdeführer seine technischen Fertigkeiten und die als Projektleiter erworbene Sozialkompetenz einbringen konnte, wie er in der Stellungnahme an das AWA vom 22. August 2002 geltend machte. Zudem sprechen die tiefe Entlöhnung und der Umstand, dass der Versicherte nach Abschluss des Praktikums nicht mit einem Verdienst in der Höhe des bisher erzielten Erwerbseinkommens rechnen konnte, eher gegen die Absicht, Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Auf der anderen Seite liegen Anhaltspunkte vor, die den Willen zur Schadenminderung belegen. So war eine an das Praktikum anschliessende Ausbildung unstreitig weder beabsichtigt noch notwendig. Weiter hat der Beschwerdeführer mündlich vereinbart, dass er, sollte er eine andere Anstellung finden, das Arbeitsverhältnis ohne Einhaltung einer Frist werde auflösen können (vgl. Schreiben der Klinik B.________ vom 16. August 2002). Nachdem er vom Schreiben des AWA vom 5. August 2002, in welchem die Ablehnung des geltend gemachten Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung in Aussicht gestellt wurde, Kenntnis erhalten hatte, kündigte er das Praktikum am 6. August 2002. Es ist anzunehmen, dass der Beschwerdeführer von einer Kündigung abgesehen hätte, wenn er vor allem ein Ausbildungsziel verfolgen wollte. In Anbetracht dieser Umstände ist fraglich, ob nicht eher dem Erwerbscharakter des Praktikumsbesuchs der Vorrang gegenüber dem Ausbildungsziel einzuräumen ist. Von einer abschliessenden Beurteilung kann indessen abgesehen werden, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
4.
Der Beschwerdeführer macht wie schon im vorinstanzlichen Verfahren weiter geltend, das Regionale Arbeitsvermittlungszentrum (RAV) habe es unterlassen, ihn aufzuklären, dass bei einer Praktikumstätigkeit möglicherweise keine Kompensationszahlungen ausgerichtet würden und ein Praktikum im Voraus von der Arbeitslosenversicherung genehmigt werden müsse.
4.1 Das kantonale Gericht hat die Voraussetzungen, unter welchen falsche Auskünfte von Verwaltungsbehörden eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung des Rechtssuchenden gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben gebieten, zutreffend dargelegt (vgl. auch BGE 127 I 36 Erw. 3a, 126 II 387 Erw. 3a; RKUV 2000 Nr. KV 126 S. 223; zu Art. Abs. 1 aBV ergangene, weiterhin geltend Rechtsprechung: BGE 121 V 66 Erw. 2a mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
4.2 Der Beschwerdeführer meldete sich am 30. April 2002 ab 1. Juni 2002 zur Arbeitsvermittlung bei seiner Wohngemeinde an. Gemäss Stellungnahme an das AWA vom 22. August 2002 hat er sich im Mai 2002 im Zusammenhang mit einer allfälligen Praktikumstätigkeit mit einer Mitarbeiterin des RAV in Verbindung gesetzt und die Auskunft erhalten, ein Praktikum könne als Zwischenverdienst gelten. Am 18. Mai 2002 besprach er sich mit dem Berufsberater des RAV. Laut dessen Stellungnahme vom 5. September 2002 wurde vereinbart, dass der Beschwerdeführer sich bei der Klinik B.________ für ein Praktikum bewerben werde. Sollte dies nicht gelingen, werde er sich wieder mit dem Berufsberater in Verbindung setzen, damit weitere Möglichkeiten ausgearbeitet werden könnten. Mit dem Formular "Angaben der versicherten Person für den Monat Juni 2002" vom 10. Juni 2002 stellte der Beschwerdeführer der Arbeitslosenkasse den Arbeitsvertrag vom 24. Mai 2002 zu.
4.3 Auf Grund dieser Umstände steht fest, dass der Beschwerdeführer sich beim RAV nach Kompensationszahlungen bei einem Praktikum erkundigt hat. Die erhaltene Auskunft allein vermag jedoch keinen Vertrauensschutz auf behördliches Verhalten zu begründen, weil sie in jenem Zeitpunkt nicht in Kenntnis eines konkret in Aussicht stehenden Praktikums erfolgte. Sie bestärkte jedoch den Beschwerdeführer in seinem Bestreben, eine entsprechende Beschäftigung zu suchen. Der Berufsberater unterstützte die Absichten des Versicherten, woraus zu schliessen ist, dass er weder auf die Problematik der Anrechenbarkeit von Ausbildungstätigkeiten als Zwischenverdienst, noch auf die Möglichkeit, arbeitsmarktliche Massnahmen zu beantragen, aufmerksam gemacht worden ist. Hierüber hätte der Berufsberater jedoch den Beschwerdeführer in Anbetracht der Rechtslage aufklären müssen. Nach dem Gesagten ist festzustellen, dass der Praktikumsbesuch auf eine unterlassene Information seitens der Verwaltung zurückzuführen ist, womit die erste Voraussetzung für die Annahme berechtigten Vertrauens auf behördliches Verhalten erfüllt ist. Ob der Berufsberater des RAV zuständigkeitshalber aufklärungspflichtig gewesen war, ist nicht weiter zu prüfen, da diese Frage dem Beschwerdeführer, wie die Vorinstanz zutreffend begründet hat, aus zureichenden Gründen nicht erkennbar war. Auch die weiteren drei Voraussetzungen liegen vor, weshalb dem Beschwerdeführer gestützt auf den Grundsatz von Treu und Glauben während der Absolvierung des Praktikums in der Klinik B.________ ein Anspruch auf Differenzzahlungen im Sinne von Art. 24 AVIG zusteht (vgl. nicht veröffentlichtes Urteil I. vom 7. Oktober 1998, C 383/97).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. November 2002 und die Verfügung des Amtes für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau vom 2. September 2002 aufgehoben mit der Feststellung aufgehoben, dass der Beschwerdeführer ab 1. Juni 2002 bis 6. August 2002 Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung hat.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Amt für Wirtschaft und Arbeit des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft zugestellt.
Luzern, 27. Juli 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: