BGer U 392/2005
 
BGer U 392/2005 vom 16.12.2005
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess
{T 7}
U 392/05
Urteil vom 16. Dezember 2005
III. Kammer
Besetzung
Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Kernen und Seiler; Gerichtsschreiberin Keel Baumann
Parteien
S.________, 1960, Beschwerdeführer, vertreten
durch Fürsprecher Erich Giesser, Effingerstrasse 16, 3001 Bern,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 9. September 2005)
Sachverhalt:
A.
Der 1960 geborene S.________ stürzte am 19. April 2002 bei der Ausübung seiner Tätigkeit als Eisenleger von einem Baugerüst mehrere Meter in die Tiefe und schlug auf dem rohen Betonboden auf. Er erlitt eine superiore Berstungsfraktur BWK12 ohne neurologische Ausfälle sowie eine kleine Schürfwunde am Kopf. Gleichentags erfolgte eine Operation in der Orthopädischen Poliklinik des Spitals X.________. Drei Tage nach dem Unfall konnte er ins Regionalspital Y.________ verlegt werden.
Vom 13. Mai bis 26. Juni 2002 hielt sich S.________ in der Rehabilitationsklinik Z.________ auf, wo die behandelnden Ärzte ein ängstlich-depressives Mischbild im Rahmen einer gemischten Anpassungsstörung feststellten. Der die Verlaufskontrolle im Spital X.________ (Universitätsklinik für Orthopädische Chirurgie) durchführende Arzt Dr. med. H.________ hielt fest, dass das konventionelle Röntgenbild regelrechte Verhältnisse bei Zustand nach Fixation Th11-L1 zeige und sich die von S.________ geklagten Beschwerden - auch mittels veranlasstem MRI - somatisch nicht erklären liessen; gleichzeitig äusserte er den Verdacht auf eine sich anbahnende chronische Schmerzproblematik (Berichte des Dr. med. H.________ vom 27. Juni und 2. Juli 2002). Als sich S.________ vom 7. August bis 18. September 2002 erneut in der Rehabilitationsklinik Z.________ aufhielt, diagnostizierten die Ärzte eine psychiatrische Problematik mit einer Anpassungsstörung (ICD-10 F43.22), eine leichte depressive Episode (ICD-10 F32.0) und ein maladaptives Überzeugungs- und Bewältigungsmuster mit histrionischem und regressivem Verhalten. Sie erachteten die Aufnahme einer leichten wechselbelastenden Arbeit ohne längerdauernde Tätigkeiten in Zwangsposition oder auf Leitern, vorläufig halbtags (unter zusätzlicher Berücksichtigung der psychiatrischen Problematik), als zumutbar (Austrittsbericht der Rehabilitationsklinik Z.________ vom 16. Oktober 2002). Einer Erwerbstätigkeit ist S.________ indessen seit dem Unfall nicht mehr nachgegangen.
Die Schweizerische Unfallversicherungsgesellschaft (SUVA), bei welcher S.________ obligatorisch versichert war, erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Nach Einholung eines Berichtes über die kreisärztliche Abschlussuntersuchung vom 15. Juli 2003, eines Berichtes der Dr. med. I.________, Psychiatrie und Psychotherapie FMH, bei welcher der Versicherte ab Oktober 2002 psychiatrisch ambulant betreut wurde, vom 11. August 2003, sowie einer kreisärztlichen Schätzung des Integritätsschadens vom 19. Januar 2004 und nach Beizug der Akten der Invalidenversicherung stellte die SUVA ihre Taggeldleistungen mit Wirkung auf den 31. Mai 2004 ein und sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 13. Mai 2004 bei einer Erwerbsunfähigkeit von 16 % ab 1. Juni 2004 eine monatliche Rente von Fr. 574.- sowie eine Integritätsentschädigung von Fr. 10'680.- (entsprechend einer Integritätseinbusse von 10 %) zu. Gleichzeitig führte sie aus, dass die psychogenen Störungen mangels Adäquanz des Kausalzusammenhanges nicht berücksichtigt werden könnten. Daran hielt die SUVA auf Einsprache des Versicherten hin fest (Entscheid vom 20. August 2004).
B.
Die von S.________ hiegegen mit dem Antrag auf Zusprechung einer Invalidenrente von 100 % sowie einer Integritätsentschädigung von 100 % erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 9. September 2005 ab und sprach dem unentgeltlichen Rechtsbeistand des S.________ eine Entschädigung zu.
C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das im kantonalen Verfahren gestellte Rechtsbegehren erneuern. Im Weitern ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Im Einspracheentscheid der SUVA werden die gesetzlichen Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung (Art. 6 Abs. 1 UVG) und die Rechtsprechung zu dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhang zwischen dem versicherten Unfall und dem Gesundheitsschaden (vgl. auch BGE 129 V 181 ff. Erw. 3 mit Hinweisen), namentlich zur Adäquanz des Kausalzusammenhanges bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
2.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die organisch nachweisbaren Beschwerden mit den zugesprochenen Leistungen (Rente, Integritätsentschädigung) zutreffend berücksichtigt worden sind. Ebenso besteht Einigkeit unter den Parteien, dass die psychischen Beeinträchtigungen des Beschwerdeführers in einem natürlichen Kausalzusammenhang mit dem erlittenen Unfall stehen. Demgegenüber ist streitig und zu prüfen, ob diesbezüglich auch die Adäquanz des Kausalzusammenhanges gegeben ist.
2.1 Unabhängig von der Frage, ob der Beschwerdeführer aus 5,4 m Höhe, wovon die Vorinstanz und die SUVA gestützt auf die polizeilichen Erhebungen ausgehen, oder aus 8 m Höhe, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend macht wird, zu Boden gestürzt ist, rechtfertigt es sich, das Ereignis vom 19. April 2002 (mit Vorinstanz und SUVA) als mittelschweren Unfall im Grenzbereich zu den schweren Fällen zu qualifizieren (vgl. die Übersicht in RKUV 2005 Nr. U 555 S. 324 Erw. 3.4.1; zur Einteilung von Stürzen aus einer gewissen Höhe im Besonderen: RKUV 1998 Nr. U 307 S. 448). Zur Bejahung des adäquaten Kausalzusammenhanges reicht es daher aus, wenn ein einziges unfallbezogenes Kriterium (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa) erfüllt ist, namentlich wenn es in besonders ausgeprägter Weise vorliegt (BGE 115 V 140 Erw. 6c/bb; vgl. auch BGE 123 V 100 Erw. 2c). Dabei sind bei der Prüfung der einzelnen Kriterien nur die organisch bedingten Beschwerden zu berücksichtigen, während die psychisch begründeten Anteile, deren (hinreichender) Zusammenhang mit dem Unfall den Gegenstand der Prüfung bildet, ausgeklammert bleiben.
2.2 Besonders dramatische Begleitumstände oder eine besondere Eindrücklichkeit des Unfalles liegen - entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung - nach der Platz greifenden objektiven Betrachtungsweise (RKUV 1999 Nr. U 335 S. 209 Erw. 3b/cc) nicht vor. Denn beim letztlich einigermassen glimpflich abgelaufenen Sturz fällt die Absturzhöhe, selbst wenn von 8 m auszugehen wäre, nicht derart ins Gewicht, dass allein aus diesem Grunde von einer ausserordentlichen Dramatik oder Eindrücklichkeit des Unfallgeschehens gesprochen werden müsste. Ausschlaggebend für die Bejahung dieses Adäquanzkriteriums im nicht veröffentlichten Urteil A. vom 10. Mai 1995, U 231/94, war denn auch weniger die Absturzhöhe von 8 m, als vielmehr die Tatsache, dass der Versicherte in einen Kaminschacht gestürzt war (vgl. auch Urteil P. vom 27. Januar 2000, U 308/98, in welchem ein Sturz aus einer Höhe von 4-5 m, bei welchem der Versicherte von einem Eimer mit Farbe übergossen wurde und sich u.a. Verätzungen beider Augen zuzog, nicht als besonders dramatisch oder eindrücklich qualifiziert wurde). Dass der Sturz wohl gravierendere Folgen gehabt hätte, wenn der Beschwerdeführer auf die sich in unmittelbarer Nähe befindenden, aus dem Boden ragenden Armierungseisen gefallen wäre, wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht wird, vermag - als blosse Hypothese - zu keiner anderen Beurteilung zu führen.
Nicht gegeben sind auch die übrigen Adäquanzkriterien. Die vom Versicherten erlittenen Verletzungen (superiore Berstungsfraktur BWK12 ohne neurologische Ausfälle; kleine Schürfwunde am Kopf) sind weder besonders schwer noch erfahrungsgemäss geeignet, psychische Fehlentwicklungen auszulösen. Anhaltspunkte für eine ärztliche Fehlbehandlung, welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hätte, liegen keine vor und werden auch nicht geltend gemacht. Ebenso wenig liegt hinsichtlich der somatischen Beschwerden ein schwieriger Heilungsverlauf mit erheblichen Komplikationen vor, verlief doch der Heilungsverlauf in somatischer Hinsicht problemlos, wie auch der Beschwerdeführer anerkennt, und liessen sich die geltend gemachten Beschwerden bereits im Juni 2002 somatisch nicht mehr erklären (Bericht des Dr. med. H.________, Spital X.________, vom 27. Juni 2002). Soweit alsdann eine ungewöhnlich lange Dauer der ärztlichen Behandlung sowie Dauerbeschwerden angenommen werden müssten, wären sie auf psychische Gründe zurückzuführen, welche in diesem Zusammenhang ausser Acht zu bleiben haben (Erw. 2.1). Ebenso verhält es sich betreffend Grad und Dauer der - physisch bedingten - Arbeitsunfähigkeit, liegt doch der Grund für die Tatsache, dass der Beschwerdeführer seit dem Unfall keiner Arbeit mehr nachgegangen ist, in der psychischen Beschwerdesymptomatik. Da somit keines der massgebenden Kriterien erfüllt ist, hat die Vorinstanz die Adäquanz des Kausalzusammenhanges und damit eine Leistungspflicht der SUVA für die geltend gemachten psychischen Beeinträchtigungen zu Recht verneint.
3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher als gegenstandslos.
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist. In Anbetracht des Umstandes, dass die im letztinstanzlichen Verfahren eingereichte Beschwerdeschrift weitgehend eine Wiederholung der vor der Vorinstanz eingereichten Rechtsschrift darstellt, scheint eine Entschädigung von Fr. 1500.- als angemessen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Erich Giesser, Bern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 16. Dezember 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Die Präsidentin der III. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: