BGer I 961/2005
 
BGer I 961/2005 vom 20.11.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
I 961/05
Urteil vom 20. November 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard; Gerichtsschreiberin Hofer
Parteien
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
gegen
V.________, 1955, Beschwerdegegnerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Werner Kupferschmid, Weinbergstrasse 20, 8023 Zürich,
Vorinstanz
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Liestal
(Entscheid vom 9. November 2005)
Sachverhalt:
A.
Die 1955 geborene V.________, Mutter zweier Kinder (geb. 1985 und 1988), arbeitete als teilerwerbstätige Heilpädagogin und führte daneben den Haushalt. Am 14. September 1999 erlitt sie einen Autounfall, bei dem sie sich gemäss Arztbericht des Dr. med. H.________, Spezialarzt für innere Medizin, Speziell Lungenkrankeiten FMH, vom 7. April 2003 eine HWS-Distorsion mit cervico-cephalem Schmerzsyndrom, eine Commotio labyrinthi links mit Schwindel und leichte Hirnfunkionsstörungen zuzog. Zudem diagnostizierte der Arzt ein lumbovertebrales Syndrom, eine ISG-Arthrose, eine Arthrose der rechten Grosszehe und ein Cervicalsyndrom. Das Arbeitsverhältnis mit der Direktion X.________ kündigte die Versicherte infolge gesundheitlicher Probleme auf den 23. Januar 2005. Seither geht sie keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.
Am 5. Mai 2003 meldete sich V.________ bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle Basel-Landschaft teilte ihr am 17. Februar 2005 mit, dass zur Überprüfung des Anspruchs auf Leistungen der Invalidenversicherung eine medizinische Abklärung beim Zentrum für Medizinische Begutachtung (ZMB) notwendig sei. Mit Schreiben vom 22. März und 5. April 2005 ersuchte die Versicherte um Bekanntgabe der Namen jener Ärzte, die sie im ZMB begutachten würden. Mit Verfügung vom 12. April 2005 hielt die IV-Stelle an der Abklärung durch das ZMB fest, lehnte es jedoch ab, die Namen der einzelnen Gutachter bekannt zu geben.
B.
Das Kantonsgericht Basel-Landschaft hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 9. November 2005 gut und wies die Sache an die Verwaltung zurück, damit sie im Sinne der Erwägungen neu verfüge.
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
V.________ und die IV-Stelle verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Eidgenössische Versicherungsgericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich dessen Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
2.
2.1 Nach ständiger Rechtsprechung prüft das Eidgenössische Versicherungsgericht von Amtes wegen die formellen Gültigkeitserfordernisse des Verfahrens, insbesondere auch die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht auf die Beschwerde eingetreten ist (BGE 132 V 95 Erw. 1.2 mit Hinweis).
2.2 Gemäss Art. 49 Abs. 1 ATSG hat der Versicherungsträger über Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die erheblich sind oder mit denen die betroffene Person nicht einverstanden ist, schriftlich Verfügungen zu erlassen. Leistungen, Forderungen und Anordnungen, die nicht unter Art. 49 Abs. 1 ATSG fallen, können in einem formlosen Verfahren behandelt werden (Art. 51 ATSG). Die betroffene Person kann den Erlass einer Verfügung verlangen (Art. 51 Abs. 2 ATSG). Gegen Verfügungen kann innerhalb von 30 Tagen bei der verfügenden Stelle Einsprache erhoben werden; davon ausgenommen sind prozess- und verfahrensleitende Verfügungen (Art. 52 Abs. 1 IVG). Gegen Einspracheentscheide oder Verfügungen, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, kann Beschwerde erhoben werden (Art. 56 Abs. 1 ATSG). Beschwerde kann auch erhoben werden, wenn der Versicherungsträger entgegen dem Begehren der betroffenen Person keine Verfügung oder keinen Einspracheentscheid erlässt. Der Begriff der Verfügung bestimmt sich dabei mangels näherer Konkretisierung in Art. 49 Abs. 1 ATSG nach Massgabe von Art. 5 Abs. 1 VwVG (vgl. Art. 55 ATSG; BGE 131 V 46 Erw. 2.4, 130 V 391 Erw. 2.3).
2.3 In BGE 132 V 93 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erwogen, der Anordnung einer Begutachtung komme kein Verfügungscharakter zu. Um eine solche Anordnung handelt es sich beim Verwaltungsakt vom 17. Februar 2005. Mit diesem wurde gegenüber der versicherten Person lediglich formlos mittels Realakt die vorgesehene Beweismassnahme eröffnet. Erhebt diese keine Einwendungen, bleibt es dabei und es ist keine Verfügung zu treffen. Weiter hat das Gericht im erwähnten Urteil ausgeführt, zu unterscheiden sei zwischen der Anordnung einer Expertise und dem Entscheid über die in der Folge geltend gemachten Ausstands- und Ablehnungsgründe gegenüber der Person des Gutachters. Macht die versicherte Person Einwendungen geltend, welche eine Befangenheit der an der Begutachtung mitwirkenden sachverständigen Person im Sinne gesetzlicher Ausstands- und Ablehnungsgründe zu begründen vermögen, hat der Versicherungsträger darüber eine Verfügung zu erlassen. Im vorerwähnten Urteil BGE 132 V 93 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht daran festgehalten, dass Verfügungen, mit denen substanziiert vorgetragene gesetzliche Ausstands- und Ablehnungsgründe abgelehnt wurden, selbstständig anfechtbar sind, weil sie für die versicherte Person einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können. Zu Einwendungen anderer Art wie etwa mangelnde Qualifikation der mitwirkenden Sachverständigen und Anderes hat der Versicherungsträger im Rahmen der Beweiswürdigung in der Verfügung über den materiellen Leistungsanspruch Stellung zu nehmen.
2.4 Mit der Verfügung vom 12. April 2005 wurde der Versicherten nur die Gutachterstelle genannt, ohne anzugeben, welche Fachärzte an der Begutachtung mitwirken würden. Sie konnte daher nicht erkennen, ob eine unbefangene Beurteilung ihres Gesundheitszustandes gewahrt sein werde. Stellt die Ernennung eines Sachverständigen einen selbstständig anfechtbaren Zwischenentscheid dar, sofern die versicherte Person substanziiert gesetzliche Ausstandsgründe geltend gemacht hat und diese abgewiesen werden, muss dasselbe auch gelten, wenn ihr gar keine Gelegenheit gegeben worden ist, Ausstandsgründe vorzubringen, weil ihr die Namen der Gutachter nicht bekannt gegeben worden sind. Diese zu kennen ist für die Betroffenen unabdingbar, um die Einhaltung der Ausstandsvorschriften überprüfen zu können.
2.5 Hinzu kommt, dass aus verfahrensrechtlichen, insbesondere prozessökonomischen Gründen über substanziiert vorgetragene gesetzliche Ausstandsgründe möglichst vorab und nicht erst zusammen mit dem Entscheid in der Sache zu befinden ist. Ein solches Vorgehen trägt zugleich der Obliegenheit der Verfahrensbeteiligten Rechnung, Ausstandsgründe zu rügen, sobald sie von diesen Kenntnis haben. Andernfalls läuft die anordnende Behörde Gefahr, dass ihr Sachentscheid in einem anschliessenden Rechtsmittelverfahren wegen der Verletzung von Ausstandsgründen als Ganzes aufgehoben wird (BGE 132 V 106 Erw. 6.2). Auch prozessökonomische Gründe sprechen somit für ein Eintreten auf die gegen die Verfügung vom 12. April 2005 gerichtete Beschwerde.
3.
3.1 Muss der Versicherungsträger zur Abklärung des Sachverhaltes ein Gutachten einer oder eines unabhängigen Sachverständigen einholen, so gibt er der Partei deren oder dessen Namen bekannt. Diese kann den Gutachter aus triftigen Gründen ablehnen und kann Gegenvorschläge machen (Art. 44 ATSG).
3.2 Das kantonale Gericht hat erwogen, Art. 44 ATSG verfolge das Ziel, im ganzen Bereich des Sozialversicherungsrechts die Mitwirkungs- und Parteirechte der versicherten Personen zu wahren, um ein ordnungsgemässes Beweisverfahren sicherzustellen. Nichts spreche dafür, die Anwendung dieser Bestimmung auf Gutachter zu beschränken, die als Einzelpersonen selbstständig tätig seien, zumal auch bei Begutachtungsorganisationen letztlich eine oder mehrere natürliche Personen zur Vornahme der Begutachtung bestimmt würden. Die Ernennung eines oder mehrerer Sachverständiger stelle eine Zwischenverfügung dar. Die Begründung der Verfügung müsse derart bestimmt sein, dass die versicherte Person die ihr aus dem ATSG zufliessenden Rechte wahrnehmen könne. Daraus folge, dass bei einer interdisziplinären Begutachtung mit Beizug verschiedener Fachärzte nebst der beauftragten Institution zumindest auch die dort tätigen und für die Begutachtung potenziell in Frage kommenden Ärzte wenigstens in Form einer Liste unter Aufführung der fachlichen Qualifikationen genannt werden müssten. Das kantonale Gericht wies die IV-Stelle an, in diesem Sinne neu zu verfügen.
3.3 Das Beschwerde führende BSV vertritt den Standpunkt, Art. 44 ATSG sei bei der Begutachtung durch eine Medizinische Abklärungsstelle (MEDAS) oder eine vergleichbare Institution nicht anwendbar.
4.
4.1 Im noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichten Urteil R. vom 14. Juli 2006 (I 686/05) kam das Eidgenössische Versicherungsgericht auf dem Wege der Auslegung von Art. 44 ATSG zum Schluss, es bestehe kein sachlicher Grund, die Anwendung dieser Bestimmung auf Gutachten zu beschränken, die von einer Einzelperson selbstständig und in eigenem Namen erstellt werden. Vielmehr müsse sie auch im Zusammenhang mit Gutachterstellen zum Zuge kommen. Da die Versicherer bei der Anordnung eines Gutachtens oft nicht wüssten, welche Ärztinnen und Ärzte einer Gutachterstelle zum Team gehörten, das die Begutachtung durchführen werde, könnten sie zu diesem Zeitpunkt allenfalls eine ganze Liste von Namen mit potenziellen Gutachtern auflegen, was indessen wenig Sinn mache. Mit Blick auf die von der Verwaltung angeführten praktischen Vorbehalte hat das Gericht daher erwogen, Art. 44 ATSG regle den Zeitpunkt der Bekanntgabe der Namen der sachverständigen Person nicht ausdrücklich. Vom Normzweck her sei jedoch von einer vorgängigen Mitteilung auszugehen. Denn nur so werde gewährleistet, dass die Mitwirkungsrechte ihre Funktion erfüllen würden. Die Bestimmung fordere indessen nicht, dass die Namensnennung gleichzeitig mit der Anordnung der IV-Stelle über die durchzuführende Begutachtung zu erfolgen habe. Ein Zusammenlegen der beiden Mitteilungen sei zwar zweckmässig und rationell, jedoch im Rahmen der Begutachtung durch eine Gutachterstelle aus sachlichen Gründen oftmals nicht praktikabel. Es müsse daher genügen, wenn die Namen der Gutachter der versicherten Person erst zu einem späteren Zeitpunkt eröffnet würden. In jedem Fall müsse dies aber frühzeitig genug erfolgen, damit sie in der Lage sei, noch vor der eigentlichen Begutachtung ihre Mitwirkungsrechte wahrzunehmen. Es rechtfertige sich daher, die jeweilige Gutachterstelle damit zu beauftragen. Sie sei am ehesten in der Lage, die Namen der mit der Abklärung befassten Gutachter zu kennen, und sie könne diese zusammen mit dem konkreten Aufgebot oder jedenfalls möglichst frühzeitig der versicherten Person bekannt geben. Diese werde ihre Einwände alsdann gegenüber der IV-Stelle geltend machen können, welche darüber noch vor der eigentlichen Begutachtung zu befinden haben werde.
4.2 Die IV-Stelle hat somit im Sinne von BGE 132 V 93 in Form einer einfachen Mitteilung an die versicherte Person ein Gutachten bei einer Gutachterstelle anzuordnen. Dies hat sie gegenüber der Beschwerdegegnerin mit der Mitteilung vom 17. Februar 2005 getan. Dabei handelt es sich - wie bereits erwähnt (vgl. Erw. 2.3) - um einen Realakt und nicht um eine beschwerdefähige Verfügung. Sind ihr die Namen der begutachtenden Personen aufgrund der besonderen Situation beim ZMB (lange Wartezeiten, kurzfristige Absenzen und Fluktuationen) noch nicht bekannt, wird sie dies der Beschwerdegegnerin nunmehr mitzueilen haben mit dem Hinweis, dass ihr diese zu einem späteren Zeitpunkt direkt von der Begutachtungsstelle genannt würden und sie dannzumal allfällige Einwendungen der IV-Stelle gegenüber geltend machen könne. Das ZMB wird alsdann zusammen mit dem konkreten Aufgebot oder rechtzeitig, bevor es das Gutachten an die Hand nimmt, die Namen der mit dem Begutachtungsauftrag befassten Fachärzte und ihre fachliche Qualifikation bekannt geben. Allfällige substanziiert begründete Einwendungen wird die Beschwerdegegnerin jedoch nicht gegenüber dieser, sondern nur gegenüber der dafür zuständigen IV-Stelle geltend zu machen haben. Handelt es sich dabei um gesetzliche Ausstands- und Ablehnungsgründe, wird diese mittels einer beschwerdefähigen Verfügung darüber zu befinden haben. Werden dagegen materielle Einwendungen geltend gemacht, wird sie die versicherte Person in der Regel in Form einer einfachen Mitteilung darauf hinweisen, dass darüber im Rahmen der Beweiswürdigung zusammen mit dem Entscheid in der Sache befunden werde (vgl. dazu BGE 132 V 108 Erw. 6.5). In diesem Sinne ist der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen.
5.
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das kantonale Gericht die Pflicht der Verwaltung zu Recht bejaht hat, der versicherten Person die Namen und die fachliche Qualifikation der Sachverständigen, welche die Begutachtung durchführen werden, vorgängig bekannt zu geben. Zu präzisieren ist, dass die IV-Stelle nur dann eine (neue) Verfügung zu erlassen hat, wenn die versicherte Person substanziiert begründete gesetzliche Ausstands- und Ablehnungsgründe gegen einzelne Gutachter geltend macht.
6.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die Beschwerdegegnerin hat infolge Abweisung der vom BSV erhobenen Verwaltungsgerichtsbeschwerde Anspruch auf eine dem Aufwand entsprechende Parteientschädigung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sie sich darauf beschränkte, letztinstanzlich auf die Begründung im angefochtenen Entscheid zu verweisen (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat der Beschwerdegegnerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 200.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, der IV-Stelle Basel-Landschaft und der Ausgleichskasse Basel-Landschaft zugestellt.
Luzern, 20. November 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Die Gerichtsschreiberin: