BGer K 93/2006
 
BGer K 93/2006 vom 19.12.2006
Eidgenössisches Versicherungsgericht
Tribunale federale delle assicurazioni
Tribunal federal d'assicuranzas
Sozialversicherungsabteilung
des Bundesgerichts
Prozess {T 7}
K 93/06
Urteil vom 19. Dezember 2006
IV. Kammer
Besetzung
Präsident Ursprung, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Schön; Gerichtsschreiber Hochuli
Parteien
G.________, 1978, Beschwerdeführer,
gegen
EGK-Gesundheitskasse, Brislachstrasse 2, 4242 Laufen, Beschwerdegegnerin
Vorinstanz
Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern
(Entscheid vom 15. Juni 2006)
Sachverhalt:
A.
G.________, geboren 1978, ist bei der EGK-Gesundheitskasse (nachfolgend: EGK oder Beschwerdegegnerin) krankenversichert. Er liess sich am 15. Juni 2005 von Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vier Weisheitszähne entfernen. Der behandelnde Zahnarzt reichte in Bezug auf die Extraktion der Weisheitszähne 18, 38 und 48 ein Zahnschadenformular vom 30. Juni 2005 ein unter Hinweis darauf, dass diese Weisheitszähne verlagert und pathologische Veränderungen vorhanden gewesen seien. Diesbezüglich verneinte die EGK gestützt auf verschiedene vertrauensärztliche Berichte mit Verfügung vom 27. Oktober 2005, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 12. Dezember 2005, eine Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, weil bei allen drei Zähnen (18, 38 und 48) kein qualifizierter Krankheitswert vorliege.
B.
Dagegen beantragte G.________ beschwerdeweise die Übernahme der strittigen Entfernung der Zähne 18, 38 und 48 als Pflichtleistung zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung und die Rückerstattung der entsprechenden Kosten. Insbesondere wies er darauf hin, dass das Arztzeugnis vom 28. November 2005 die generellen Einwände von vertrauensärztlicher Seite entkräfte. Nachdem das Verwaltungsgericht des Kantons Bern festgestellt hatte, dass sich das genannte Arztzeugnis weder unter den Beilagen befand, welche der Versicherte zusammen mit der Beschwerde einreichte, noch bei den übrigen Akten der EGK auffindbar war, ersuchte es die Beschwerdegegnerin um nachträgliche Einreichung dieses Zeugnisses für den Fall, dass es tatsächlich vorhanden sei. Die EGK verneinte das Vorliegen eines solchen Arztzeugnisses mit Schreiben vom 25. Januar 2006. Daraufhin wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern die Beschwerde mit Entscheid vom 15. Juni 2006 ab.
C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt G.________ sinngemäss, der geltend gemachte Krankheitswert sei genau zu überprüfen, die Entfernung der Weisheitszähne 18, 38 und 48 als Pflichtleistung der obligatorischen Krankenpflegeversicherung anzuerkennen und die entsprechenden Kosten seien ihm zurückzuerstatten. In der Beilage reicht er eine Kopie des ärztlichen Zeugnisses des Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vom 28. November 2005 ein.
Sowohl die EGK als auch das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:
1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über den Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen (Art. 31 Abs. 1 KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 17-19 KLV), namentlich für solche, die durch eine schwere nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems in Form verlagerter Zähne mit Krankheitswert (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in Verbindung mit Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV) bedingt sind, zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die Ausführungen zu den grundsätzlichen Voraussetzungen der Kostenübernahme für die Extraktion von Weisheitszähnen (Verlagerung der Zähne und qualifizierter Krankheitswert des Leidens: BGE 130 V 468 Erw. 4.1) sowie zu den gemäss BGE 129 V 83 Erw. 1.3 und 279 Erw. 3.2 in Art. 17-19 KLV abschliessend aufgezählten Erkrankungen, welche von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmende zahnärztliche Behandlungen bedingen. Darauf wird verwiesen.
2.
Fest steht und unbestritten ist, dass hier einzig gestützt auf Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV allenfalls eine Kostenübernahme in Frage kommt. Streitig ist nur die Übernahme der zahnärztlichen Behandlung für die Extraktion der Zähne 18, 38 und 48 als Pflichtleistung zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung.
3.
3.1 Mit in allen Teilen zutreffender Begründung legte die Vorinstanz im angefochtenen Entscheid richtig dar, dass der behandelnde Arzt dem Krankenversicherer die zur Beurteilung der Leistungspflicht erforderlichen medizinischen Unterlagen (genaue Diagnose, Röntgenbilder, Operationsbericht usw.) herauszugeben (ZBJV 138/2002 S. 422 [= Urteil S. vom 8. April 2002, K 23/00]) und alle medizinischen Grundlagen dafür zu liefern hat, damit er die Voraussetzungen für die Leistungspflicht prüfen kann (BGE 130 V 470 Erw. 5 mit Hinweis).
3.2 Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass der Sozialversicherungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist. Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen; vgl. BGE 130 I 183 Erw. 3.2).
Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).
4.
4.1 Entgegen der Annahme der EGK und des kantonalen Gerichts existiert das vom Versicherten in der vorinstanzlichen Beschwerde und vom behandelnden Arzt in seinem Bericht zuhanden der Vorinstanz vom 28. Dezember 2005 mehrfach erwähnte und als Beweisgrundlage bezeichnete Arztzeugnis des Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vom 28. November 2005 tatsächlich. Der Beschwerdeführer hat dieses ärztliche Zeugnis zusammen mit seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde im letztinstanzlichen Verfahren in Kopie eingereicht. Dr. med. Dr. med. dent. X.________ äusserte sich darin detailliert in Bezug auf die Zähne 18, 38 und 48 sowohl hinsichtlich der Verlagerung als auch mit Blick auf den qualifizierten Krankheitswert. Die EGK hat dazu keine Stellung bezogen, obwohl sie von diesem ärztlichen Zeugnis des behandelnden Arztes vom 28. November 2005 im Rahmen der letztinstanzlichen Einladung zur Vernehmlassung Kenntnis nehmen konnte. Weshalb sich Vorinstanz und EGK im Wissen um die exakte Bezeichnung des fraglichen Arztzeugnisses weder beim Beschwerdeführer noch beim betreffenden Arzt nach dem Verbleib dieses Zeugnisses erkundigt haben, ist nicht nachvollziehbar.
Unklar bleibt nach den Akten der EGK auch, welchen - damals angeblich neu bei der Beschwerdegegnerin eingetroffenen - Bericht des behandelnden Arztes die EGK mit Schreiben vom 29. November 2005 an ihren Vertrauensarzt Dr. med. S.________ zur Beurteilung und Stellungnahme weitergeleitet hat. Zumindest besteht in zeitlicher Hinsicht ein Zusammenhang zwischen diesem Abklärungsauftrag an den Vertrauensarzt und dem fraglichen ärztlichen Zeugnis des Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vom 28. November 2005, welches er gemäss Adressanschrift direkt an die EGK zuhanden des Vertrauensarztes gesandt hatte. Dr. med. S.________ nahm in seinem daraufhin erstellten Bericht vom 4. Dezember 2005 Bezug auf zwei Berichte des behandelnden Arztes vom 30. Juni 2005 und vom 22. September 2005. Während sich das am 30. Juni 2005 ausgefüllte Zahnschadenformular bei den medizinischen Unterlagen befindet, ist der erwähnte Bericht vom 22. September 2005 in den gesamten vorliegenden Akten nicht auffindbar. Nach der Chronologie der beschwerdegegnerischen Unterlagen ist davon auszugehen, dass der Versicherte den in der vertrauensärztlichen Stellungnahme des Dr. med. S.________ vom 4. Dezember 2005 genannten Bericht des Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vom 22. September 2005 zusammen mit dem Schreiben vom 23. September 2005 der EGK eingereicht hat. Entgegen dem Anschein, welchen die Reihenfolge der beschwerdegegnerischen Akten erweckt, ist es unwahrscheinlich, dass Dr. med. Dr. med. dent. X.________ der EGK seinen Bericht vom 23. November 2005 am 24. November 2005 um 08.21 Uhr per Telefax zusandte und der Versicherte in der Folge der EGK mit seinem Schreiben vom 5. Dezember 2005 nochmals genau den gleichen Bericht mit der identischen Telefax-Kopfzeile zustellte. Da die fraglichen beiden, bis in jedes Detail miteinander übereinstimmenden Aktenstücke (per Telefax übermittelter Arztbericht des Dr. med. Dr. med. dent. X.________ vom 23. November 2005) exakt die gleiche "EGK Dokumenten-Nummer" tragen, scheint das Dossier der Beschwerdegegnerin nicht vollständig oder fehlerhaft zusammengestellt worden zu sein, weshalb die Sache zur Vervollständigung insbesondere der medizinischen Akten an die EGK zurückzuweisen ist.
4.2 Mit Blick auf den vertrauensärztlichen Bericht des Dr. med. S.________ vom 4. Dezember 2005 bleibt anzufügen, dass die abschliessende Aussage, "aus fachärztlicher Sicht" seien die Angaben des behandelnden Arztes "nicht nachzuvollziehen, auch nicht in Anbetracht neuester EVG-Rechtsprechung", das Ergebnis der medizinischen Beurteilung vorweg nimmt. Dieser vertrauensärztlichen Einschätzung fehlt es ihrerseits an einer schlüssigen und nachvollziehbaren Begründung (vgl. BGE 125 V 353 Erw. 3b/ee), weshalb der Stellungnahme des Dr. med. S.________ vom 4. Dezember 2005 im Vergleich zum Bericht des behandelnden Arztes jedenfalls kein grösserer Beweiswert zukommt.
4.3 Nach dem Gesagten ist die Sache zur ergänzenden Einholung der fehlenden medizinischen Akten an die EGK zurückzuweisen. Hernach wird sie die vollständigen medizinischen Unterlagen des behandelnden Dr. med. Dr. med. dent. X.________ nach dem Beizug der Original OPT-Aufnahme vertrauensärztlich beurteilen lassen und sodann über das Leistungsgesuch des Beschwerdeführers neu verfügen.
Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:
1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 15. Juni 2006 und der Einspracheentscheid der EGK-Gesundheitskasse vom 12. Dezember 2005 aufgehoben werden und die Sache an die EGK-Gesundheitskasse zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch des Beschwerdeführers auf Übernahme der zahnärztlichen Behandlung für die Entfernung der Weisheitszähne 18, 38 und 48 zu Lasten der obligatorischen Krankenpflegeversicherung neu verfüge.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.
Luzern, 19. Dezember 2006
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts
Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: