BGer I 592/2006 |
BGer I 592/2006 vom 07.02.2007 |
Tribunale federale
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{T 7}
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I 592/06
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Urteil vom 7. Februar 2007
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I. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Ursprung, Präsident,
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Bundesrichterinnen Widmer und Leuzinger,
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Gerichtsschreiber Hadorn.
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Parteien
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S.________, 1947, Beschwerdeführer,
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vertreten durch Fürsprecher Marc Brügger-Kuret, Bahnhofstrasse 15, 8570 Weinfelden,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 19. Mai 2006.
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Sachverhalt:
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Mit Verfügungen vom 10. Juni 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Thurgau das Gesuch des S.________ (geb. 1947) um Umschulung und eine IV-Rente ab. Der Versicherte führte gegen beide Verfügungen Einsprache. Mit zwei Entscheiden vom 15. und 16. September 2005 lehnte die IV-Stelle eine Umschulung ab und sistierte das Verfahren betreffend der Rente, bis über die Umschulung rechtskräftig befunden worden sei.
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Die Beschwerde gegen den Umschulungsbescheid wies die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 19. Mai 2006 ab.
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S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, die Sache sei zu näheren Abklärungen an die IV-Stelle zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Verbeiständung.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
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1.
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Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
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2.
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Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Gericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 gilt indessen bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung hängigen Beschwerden. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 bereits hängig war, richtet sich die Kognition des Bundesgerichts noch nach Art. 132 Abs. 1 OG.
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3.
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Die kantonale Rekurskommission hat die gesetzlichen Vorschriften zum Begriff der Invalidität (Art. 8 ATSG), zur Ermittlung des Invaliditätsgrades nach der Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) und zur Umschulung (Art. 17 Abs. 1 IVG) sowie die Rechtsprechung zum rund 20%igen Invaliditätsgrad als Voraussetzung für eine Umschulung (BGE 124 V 108) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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4.
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Streitig und zu prüfen ist, ob der Sachverhalt zur Beurteilung des Anspruchs auf eine Umschulung genügend abgeklärt wurde. Dabei steht fest, dass die Tätigkeit eines Lastwagenchauffeurs nicht mehr zumutbar ist und zur Ermittlung des für eine Umschulung vorausgesetzten Invaliditätsgrades von etwa 20 % nicht auf die während der kurzen Periode selbstständiger Erwerbstätigkeit erzielten Verdienste abgestellt werden kann. Umstritten sind insbesondere die Vergleichseinkommen zur Bestimmung der invaliditätsbedingten Erwerbseinbusse.
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4.1 Den medizinischen Akten ist Folgendes zu entnehmen: Gemäss Bericht der Klinik X.________ vom 3. September 2004 kann der Beschwerdeführer leichte bis mittelschwere möglichst wechselbelastende Tätigkeiten mit Vermeiden von ständigem Bücken, Sitzen oder Stehen wahrscheinlich ganztags (8,5 Stunden) ohne Leistungseinschränkung ausüben. Dr. med. L.________, Allgemeinmedizin FMH, führt im Bericht vom 2. Dezember 2004 aus, ideal wäre eine Tätigkeit, in welcher der Versicherte mit dem Auto Strecken von maximal einer Stunde fahren könnte, sich dann bewegen, jedoch keine Lasten heben müsse. Diese Tätigkeit könnte er mindestens fünf, möglicherweise sogar acht Stunden am Tag ausüben. Am 29. Januar 2005 schlug der selbe Arzt vor, eine Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit (EFL) zur Objektivierung der Arbeitsfähigkeit vorzunehmen. Diese fand am 9. und 10. März 2005 in der Klinik X.________ statt. Gemäss dem entsprechenden Bericht der Klinik vom 11. März 2005 konnten nicht alle vorgesehenen Tests durchgeführt werden. Der Versicherte habe sehr starke Schmerzen beschrieben, die ihn nach nur geringer Belastung so sehr behindern würden, dass er nicht mehr in der Lage sei, weiter zu machen. Im Verlauf der Tests seien jedoch nie Zeichen einer objektiven Schmerzverstärkung oder einer erhöhten Reizbarkeit der Problematik aufgetreten. Seine Leistungsbereitschaft sei als ungenügend zu beurteilen, da er bei den meisten Tests nicht bereit gewesen sei, sich bis an die funktionelle Limite belasten zu lassen. Daher habe keine funktionelle Leistungsgrenze ermittelt werden können. Das Schmerzverhalten sei auffällig gewesen, die Selbsteinschätzung der Leistungsfähigkeit deutlich zu tief ausgefallen. Es habe eine grosse Diskrepanz zwischen der Herzfrequenz und dem Schweregrad der Arbeit bestanden. Bezüglich einer angepassten Tätigkeit könne auf Grund der Selbstlimitierung keine definitive Aussage gemacht werden. Eine leichte Arbeit mit Wechselbelastung sei zumutbar. Bei normalem Leistungsverhalten wären bessere Leistungen möglich gewesen. Mit überwiegender Wahrscheinlichkeit könne die Belastbarkeit durch adäquates Training noch weiter erhöht werden. Die arbeitsrelevanten Probleme seien zu einem grossen Teil muskulär bedingt. Auffallend seien die sehr schwache Rumpfmuskulatur und die passiv hängende Haltung. Die daraus resultierenden Belastungen zeigten sich in Form von Schmerzen an den funktionellen Schaltstellen. Ein intensives Trainingsprogramm sei dringend zu empfehlen.
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4.2 Am 27. April 2005 verfasste Dr. med. G.________, FMH für Innere Medizin, speziell Rheumakrankheiten, ein Gutachten. Er kommt zum Schluss, dass wegen der verminderten Belastbarkeit der Lendenwirbelsäule und des Reizzustands des linken Iliosakralgelenkes eine verminderte Belastbarkeit der Wirbelsäule und eine eingeschränkte Sitzfähigkeit vorlägen. In einer Tätigkeit ohne Belastung der Wirbelsäule und abwechselnder Arbeitsposition mit wenig Sitzen und Stehen könne eine mindestens 70%ige Arbeitsfähigkeit erreicht werden. Mit Physiotherapie sei auf Grund der bisherigen negativen Erfahrungen nicht mit einer Besserung zu rechnen. Zu empfehlen sei eine antiinflammatorische und analgetische Medikation sowie eine intensive stationäre Therapie in einer Reha-Klinik.
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4.3 Angesichts dieser medizinischen Angaben ist erstellt, dass der Beschwerdeführer an sich in einer leichten, angepassten Tätigkeit voll arbeiten könnte. Der Beweiswürdigung der Vorinstanz ist beizupflichten. Sowohl Dr. med. G.________ als auch die Klinik X.________ sprechen von Therapien, welche die Leistungsfähigkeit verbessern könnten. Auch der Hausarzt hält eine ganztägige Beschäftigung für möglich. Insofern bestehen keine Diskrepanzen in den medizinischen Akten, weshalb es sich erübrigt, weitere ärztliche Auskünfte einzuholen.
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4.4 Im Hinblick auf den Umschulungsanspruch ist zu beachten, dass rechtsprechungsgemäss im Gebiet der Invalidenversicherung ganz allgemein der Grundsatz gilt, dass die invalide Person, bevor sie Leistungen verlangt, alles ihr Zumutbare selber vorzukehren hat, um die Folgen ihrer Invalidität bestmöglich zu mildern. Die Selbsteingliederung als Ausdruck der allgemeinen Schadenminderungspflicht ist eine Last, welche die versicherte Person auf sich zu nehmen hat, soll ihr Leistungsanspruch - auf gesetzliche Eingliederungsmassnahmen oder Rente - gewahrt bleiben. Von der versicherten Person dürfen dabei nur Vorkehren verlangt werden, die unter Berücksichtigung der gesamten objektiven und subjektiven Gegebenheiten des Einzelfalles zumutbar sind (BGE 113 V 28 E. 4a; in BGE 130 V 343 nicht veröffentlichte E. 8.1; AHI 2001 S. 282 E. 5a/aa; vgl. auch Kieser, ATSG-Kommentar, Rz. 33 und 34 zu den Vorbemerkungen). Sowohl im Bericht über den EFL der Klinik X.________ als auch im Gutachten des Dr. G.________ wurde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Versicherte durch eine konsequente Trainingstherapie seine Leistungsfähigkeit zu steigern im Stande wäre. Der Versicherte scheint diese Möglichkeiten nicht zu nutzen. Umschulungsmassnahmen können deshalb bereits aus diesem Grunde nicht gewährt werden (in BGE 130 V 343 nicht veröffentlichte E. 8.1 in fine). Hinsichtlich der weiterhin zumutbaren leichten Tätigkeiten ist sodann nicht erkennbar, inwiefern deren Ausübung eine Umschulung voraussetzen sollte (Urteil R. vom 16. Dezember 2004, I 485/04 E. 6.3). Ferner bestehen angesichts des EFL-Berichts der Klinik X.________ an der Motivation des Versicherten erhebliche Zweifel. Verwaltung und Vorinstanz haben daher einen Umschulungsanspruch im Ergebnis zu Recht verneint.
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4.5 Unter diesen Umständen braucht nicht mehr geprüft zu werden, ob der Einkommensvergleich einen Invaliditätsgrad von mindestens 20 % ergäbe. Immerhin ist dem Beschwerdeführer entgegen zu halten, dass er selbst die Anstellung bei der Firma H.________ AG gemäss seinem Schreiben vom 24. Januar 2002 aus invaliditätsfremden Gründen gekündigt hat, weshalb er heute auch als Gesunder nicht mehr dort arbeiten würde. Daher erschiene es zumindest fragwürdig, beim hypothetischen Valideneinkommen auf die zuletzt dort erzielten Löhne abzustellen. Insbesondere kann nicht davon ausgegangen werden, der Versicherte würde in einer Drittfirma als Chauffeur ein deutlich über den Tabellenlöhnen liegendes Einkommen erzielen, wie er in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend macht.
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5.
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Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG in der bis Ende Juni 2006 gültig gewesenen Fassung). Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden, da die entsprechenden Voraussetzungen (dazu BGE 125 V 202 E. 4a) erfüllt sind. Der Beschwerdeführer wird jedoch auf Art. 152 Abs. 3 OG hingewiesen, wonach er dem Gericht Ersatz zu leisten haben wird, wenn er dereinst dazu im Stande sein sollte.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3.
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Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher Marc Brügger-Kuret aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
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Luzern, 7. Februar 2007
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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