BGer 8C_296/2009
 
BGer 8C_296/2009 vom 10.09.2009
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
8C_296/2009
Urteil vom 10. September 2009
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Maillard,
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.
Parteien
M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Leimbacher,
Beschwerdeführer,
gegen
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 18. Februar 2009.
Sachverhalt:
A.
Der 1958 geborene M.________ war seit 1. Juli 2003 als Plattenleger bei der Firma W.________ AG tätig und in dieser Eigenschaft bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und Berufskrankheiten versichert. Anlässlich der am 21. Februar 2006 im Spital B.________ vorgenommenen Operation der Otitis media chronica cholesteatomatosa rechts kam es beim Hinunterbohren der Gehörgangswand und dem gleichzeitigen Ausbohren von retrofazialen Zellen sowie des lateralen Bogenganges im Bereich des oberen mastoidalen Anteils des Nervus-facialis-Verlaufes zur Schädigung des Fazialishauptstammes. Am 24. Februar 2006 musste sich M.________ im Spital X.________ einer Revisions-Mastoido-Epitympanektomie und Tympanoplastik rechts sowie einer Rekonstruktion des Nervus facialis mittels Interponat aus dem Nervus auricularis magnus unterziehen. Seit dem Eingriff vom 21. Februar 2006 leidet er unter Problemen des rechten Auges.
Nach diversen Abklärungen, namentlich nach Einholung eines internen Berichts des Dr. med. G.________, Facharzt FMH für Ohren-, Nasen-, Halskrankheiten, Hals- und Gesichtschirurgie, Allergologie, klinische Immunologie und Arbeitsmedizin, vom 3. September 2007, verneinte die SUVA mit Verfügung vom 26. September 2007 das Vorliegen eines Unfalls oder einer unfallähnlichen Körperschädigung und damit eine Leistungspflicht der obligatorischen Unfallversicherung. Die Einsprache der CSS Kranken-Versicherung AG (nachfolgend CSS) wies die SUVA mit Einspracheentscheid vom 11. Januar 2008 ab.
B.
Die CSS beantragte beim kantonalen Versicherungsgericht die Aufhebung des Einspracheentscheids vom 11. Januar 2008 und die Verpflichtung der SUVA, das Ereignis vom 21. Februar 2006 als Unfall anzuerkennen und dafür die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. M.________ wurde ins Verfahren beigeladen und beantragte Gutheissung der Beschwerde; die SUVA schloss auf deren Abweisung. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wies die Beschwerde mit Entscheid vom 18. Februar 2009 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt M.________ beantragen, der kantonale Entscheid vom 18. Februar 2009 sei aufzuheben und die SUVA zu verpflichten, ihm für das Ereignis vom 21. Februar 2006 die gesetzlichen Leistungen aus Unfallversicherung auszurichten.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der operative Eingriff vom 21. Februar 2006 einen Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG darstellt und dabei namentlich, ob das zum Unfallbegriff gehörende Merkmal der Ungewöhnlichkeit erfüllt ist. Unbestritten ist das Vorliegen der übrigen vier Tatbestandsmerkmale des Unfallbegriffs, nämlich der Körperverletzung, der äusseren Einwirkung, der Plötzlichkeit und der fehlenden Absicht.
3.
Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff des Unfalls (Art. 4 ATSG), insbesondere über das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors bei medizinischen Eingriffen (BGE 122 V 230 E. 1 S. 233, 121 V 35 E. 1a S. 38 mit Hinweis) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
4.
Die Verletzung des Fazialishauptstammes ereignete sich anlässlich eines operativen Eingriffs zur Behandlung einer Otitis media chronica cholesteatomatosa, d.h. im Rahmen einer Krankenbehandlung, für welche der Unfallversicherer grundsätzlich nicht leistungspflichtig ist. Ob der Unfallbegriff, namentlich das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors, ausnahmsweise erfüllt ist, ist - wie die Vorinstanz darlegt - aufgrund objektiver medizinischer Kriterien zu prüfen. Die Frage ist nur dann zu bejahen, wenn die ärztliche Vorkehr als solche den Charakter des ungewöhnlichen äusseren Faktors aufweist, denn das Merkmal der Aussergewöhnlichkeit bezieht sich nach der Definition des Unfallbegriffs nicht auf die Wirkungen des äusseren Faktors, sondern allein auf diesen selber. Nach der Praxis ist es mit dem Erfordernis der Aussergewöhnlichkeit streng zu nehmen, wenn eine medizinische Massnahme in Frage steht. Damit eine solche Vorkehr als ungewöhnlicher äusserer Faktor qualifiziert werden kann, muss ihre Vornahme unter den jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich schliessen. Ein Behandlungsfehler im Rahmen einer Krankheitsbehandlung kann den Unfallbegriff namentlich dann erfüllen, wenn es sich um grobe und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet oder zu rechnen braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen Unfallversicherungsrechts vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der Arzt oder die Ärztin einen Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder öffentlichrechtliche) Haftung begründet (RKUV 2003 Nr. U 492 S. 371E. 2.3, U 56/01).
5.
5.1 Gemäss Operationsbericht vom 22. Februar 2006 entstand beim Eingriff wegen mehrfacher Probleme mit dem Handbohrer Aufregung und musste zeitweise mit dem Abbruch der Operation wegen unruhigen Bohrverhaltens des Bohrers gerechnet werden. Immer wieder habe der Handbohrer nach Wechsel der Kabel, des Motors oder des Fusspedals für kurze Zeit in Gang gesetzt werden können. Beim Hinunterbohren der Gehörgangswand und dem gleichzeitigen Ausbohren von retrofazialen Zellen sowie des lateralen Bogenganges sei es unglücklicherweise im Bereich des oberen mastoidalen Anteils des Nervus-facialis-Verlaufes zur Schädigung des Fazialishauptstammes gekommen. Dies ist laut Operationsbericht sofort bemerkt worden. Nach mehreren Versuchen mit den insuffizienten Bohrern sei aber beschlossen worden, die Bohrarbeit abzubrechen und keine sofortige Rekonstruktion zu versuchen.
5.2 Die Vorinstanz verneint das Vorliegen eines ungewöhnlichen äusseren Faktors im Wesentlichen gestützt auf den internen Bericht des Dr. med. G.________ vom 3. September 2007, gemäss welchem die eingetretene Komplikation eher häufig vorkomme, die Verletzung aufgrund der unübersichtlichen Situation des Mittelohrs praktisch vorprogrammiert gewesen und der Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen nicht überschritten worden sei. Das kantonale Gericht erwähnt ausdrücklich, dass die eingetretene Schädigung nicht vom medizinisch Üblichen abweiche und damit keinen ungewöhnlichen äusseren Faktor darstelle.
5.3 Mit dieser Argumentation verkennt die Vorinstanz - wie der Beschwerdeführer zu Recht vorbringt -, dass sich die Ungewöhnlichkeit grundsätzlich nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern nur auf diesen selber bezieht, d.h., die ärztliche Behandlung als solche den Charakter des ungewöhnlichen äusseren Faktors aufweisen muss. Der vorliegend zu beurteilende operative Eingriff am Innenohr erfordert höchste Präzision, dies umso mehr, wenn - wie Dr. med. G.________ erwähnt - eine unübersichtliche Situation vorgelegen hat. Dessen Durchführung mit einem insuffizienten Bohrer mit unruhigem Bohrverhalten, der trotz mehrerer Reparaturversuche (Wechsel der Kabel, des Motors oder des Fusspedals) während des Eingriffs immer nur für kurze Zeit wieder in Gang gesetzt werden konnte, weicht vom medizinisch Üblichen erheblich ab und schliesst grosse Risiken in sich. Wenn die Vorinstanz ausführt, es lasse sich den Akten nicht entnehmen, dass der Handbohrer im Zeitpunkt der Schädigung nicht oder nur ruckartig funktioniert habe, kann diese Sichtweise nicht geteilt werden. Im Operationsbericht werden vor der Erwähnung der Verletzung des Fazialishauptstammes anlässlich des Hinunterbohrens die mehrfachen Probleme mit dem Bohrer, das unruhige Bohrverhalten, die dadurch entstandene Aufregung sowie die Instandstellungsversuche und anschliessend der Abbruch der Bohrarbeit nach mehreren Anläufen mit dem insuffizienten Bohrer sowie der Verzicht auf eine sofortige Rekonstruktion geschildert. Gestützt darauf ist davon auszugehen, dass die Probleme während des gesamten operativen Eingriffs auftraten. Ob sie indessen für die eingetretene Schädigung des Fazialishauptstammes kausal waren oder ob sich diese auch mit einem gut funktionierenden Bohrer eingestellt hätte, lässt sich der Aktenlage nicht entnehmen. Dem Operationsbericht kann zur Frage der Kausalität nichts entnommen werden. Der interne Bericht des Dr. med. G.________ vom 3. September 2007 sodann, auf welchen sich das kantonale Gericht im Wesentlichen abgestützt hat, erwähnt die Probleme mit dem Bohrer überhaupt nicht und äussert sich hauptsächlich zum Risiko dieser Operation im Allgemeinen (ohne die vorliegend aufgetretenen Probleme) sowie zur Häufigkeit der eingetretenen Komplikation, wobei er bei seinen Schlussfolgerungen von den vorinstanzlich eingereichten Internetrecherchen abweicht, welche eine Verletzung des Gesichtsnervs als sehr selten bezeichnen. Die Sache ist daher an die SUVA zurückzuweisen, damit sie nähere Abklärungen zur Kausalitätsfrage trifft. Diesbezüglich ist die Frage der Häufigkeit der Komplikation in dem Sinne mitzuberücksichtigen, als Ungewöhnlichkeit und Kausalität eher zu verneinen wären, wenn die eingetretene Schädigung im Rahmen dieser Heilbehandlung als üblich gelten würde und die versicherte Person damit hätte rechnen müssen (vgl. Urteil 8C_526/2007 vom 29. April 2008 E. 4.2).
6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Dem Prozessausgang entsprechend gehen die Gerichtskosten zu Lasten der Beschwerdegegnerin (Art. 66 Abs. 1 BGG) und ist diese gegenüber dem anwaltlich vertretenen Beschwerdeführer entschädigungspflichtig (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 18. Februar 2009 und der Einspracheentscheid der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) vom 11. Januar 2008 aufgehoben werden und die Sache an die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Leistungsanspruch neu verfüge.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
4.
Die Sache wird zur Neuverlegung der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der CSS Kranken-Versicherung AG und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. September 2009
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
Ursprung Kopp Käch