BGer 1B_238/2010
 
BGer 1B_238/2010 vom 30.07.2010
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
1B_238/2010
Urteil vom 30. Juli 2010
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Aemisegger, präsidierendes Mitglied, Bundesrichter Reeb, Eusebio,
Gerichtsschreiber Härri.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
Advokat Dr. Nicolas Roulet,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel.
Gegenstand
Haftentlassung,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 18. Juni 2009
des Strafgerichtes des Kantons Basel-Stadt, Präsidentin.
Sachverhalt:
A.
X.________ steht unter dem dringenden Verdacht, an der Tötung des Lebenspartners seiner Schwester am 17. Mai 2009 in Basel beteiligt gewesen zu sein.
Gleichentags wurde X.________ festgenommen. Am 19. Mai 2009 ordnete die Haftrichterin Basel-Stadt die Untersuchungshaft an. Diese wurde seither verlängert.
Eine von X.________ gegen die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft erhobene Beschwerde in Strafsachen blieb erfolglos. Das Bundesgericht bejahte den dringenden Tatverdacht und Kollusionsgefahr (Urteil 1B_304/2009 vom 6. November 2009 E. 2.4.2 und 2.5.2).
Am 10. Juni 2010 verurteilte das Strafgericht Basel-Stadt X.________ wegen vorsätzlicher Tötung zu sechs Jahren Freiheitsstrafe.
Dagegen erklärten sowohl X.________ als auch die Staatsanwaltschaft die Appellation.
B.
Noch am Tag der Urteilseröffnung vom 10. Juni 2010 beantragte X.________ der Strafgerichtspräsidentin, er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Eventualiter beantragte er die Bewilligung des vorläufigen Strafvollzugs.
Mit Verfügung vom 18. Juni 2010 wies die Strafgerichtspräsidentin sowohl das Gesuch um Haftentlassung als auch jenes um Bewilligung des vorläufigen Strafvollzugs ab. Sie befand, es bestehe nebst dem wegen der erstinstanzlichen Verurteilung zweifellos gegebenen dringenden Tatverdacht nach wie vor Kollusionsgefahr. Überdies äusserte sie sich zur Fluchtgefahr, ohne sich allerdings abschliessend festzulegen, ob dieser Haftgrund ebenfalls zu bejahen sei.
C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügung der Strafgerichtspräsidentin vom 18. Juni 2010 sei vollumfänglich aufzuheben. Dementsprechend sei die über ihn verhängte Untersuchungshaft aufzuheben und er sei unmittelbar auf freien Fuss zu setzen.
D.
Die Strafgerichtspräsidentin hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
E.
X.________ hat zur Vernehmlassung der Strafgerichtspräsidentin Stellung genommen. Er hält an den in der Beschwerde gestellten Anträgen fest.
Erwägungen:
1.
Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 80 i.V.m. Art. 130 Abs. 1 BGG zulässig.
Der Beschwerdeführer ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.
Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde grundsätzlich einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt sinngemäss eine Verletzung seines verfassungsmässigen Rechts auf persönliche Freiheit.
2.2 Bei Beschwerden, die gestützt auf das Recht der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2, Art. 31 BV) wegen der Ablehnung eines Haftentlassungsgesuches erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick auf die Schwere des Eingriffes die Auslegung und Anwendung des entsprechenden kantonalen Rechts frei (BGE 135 I 71 E. 2.5 S. 73 f. mit Hinweis).
2.3 Gemäss § 69 der Strafprozessordnung des Kantons Basel-Stadt (StPO; SG 257.100) darf gegen die angeschuldigte Person Untersuchungshaft angeordnet werden, wenn sie eines Verbrechens (...) dringend verdächtigt und überdies unter anderem Flucht- oder Kollusionsgefahr gegeben ist (lit. a und b).
Der Beschwerdeführer anerkennt den dringenden Tatverdacht. Er macht geltend, es bestehe weder Kollusions- noch Fluchtgefahr.
2.4 Kollusion bedeutet nach der bundesgerichtlichen Praxis insbesondere, dass sich der Angeschuldigte mit Zeugen, Auskunftspersonen, oder Mitangeschuldigten ins Einvernehmen setzt oder sie zu wahrheitswidrigen Aussagen veranlasst, oder dass er Spuren und Beweismittel beseitigt. Die strafprozessuale Haft wegen Kollusionsgefahr soll verhindern, dass der Angeschuldigte die Freiheit dazu missbrauchen würde, die wahrheitsgetreue Abklärung des Sachverhaltes zu vereiteln oder zu gefährden. Die theoretische Möglichkeit, dass der Angeschuldigte in Freiheit kolludieren könnte, genügt indessen nicht, um die Fortsetzung der Haft unter diesem Titel zu rechtfertigen. Es müssen vielmehr konkrete Indizien für die Annahme von Verdunkelungsgefahr sprechen. Das Vorliegen des Haftgrundes ist nach Massgabe der Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu prüfen (BGE 132 I 21 E. 3.2 mit Hinweisen).
Konkrete Anhaltspunkte für Kollusionsgefahr können sich nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes namentlich ergeben aus dem bisherigen Verhalten des Angeschuldigten im Strafprozess, aus seinen persönlichen Merkmalen, aus seiner Stellung und seinen Tatbeiträgen im Rahmen des untersuchten Sachverhaltes sowie aus den persönlichen Beziehungen zwischen ihm und den ihn belastenden Personen. Bei der Frage, ob im konkreten Fall eine massgebliche Beeinträchtigung des Strafverfahrens wegen Verdunkelung droht, ist auch der Art und Bedeutung der von Beeinflussung bedrohten Aussagen bzw. Beweismittel, der Schwere der untersuchten Straftaten sowie dem Stand des Verfahrens Rechnung zu tragen (BGE 132 I 21 E. 3.2.1 mit Hinweisen).
Nach Abschluss der Strafuntersuchung (und insbesondere nach Durchführung einer erstinstanzlichen Hauptverhandlung) bedarf der Haftgrund der Kollusionsgefahr einer besonders sorgfältigen Prüfung. Er dient primär der Sicherung einer ungestörten Strafuntersuchung. Zwar ist auch die richterliche Sachaufklärung vor unzulässigen Einflussnahmen zu bewahren. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die (in der Regel beschränkte) Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme anlässlich der Hauptverhandlung. Je weiter das Strafverfahren vorangeschritten ist und je präziser der Sachverhalt bereits abgeklärt werden konnte, desto höhere Anforderungen sind jedoch grundsätzlich an den Nachweis von Verdunkelungsgefahr zu stellen (BGE 132 I 21 E. 3.2.2 mit Hinweisen).
2.5 Der Beschwerdeführer bestreitet den Vorsatz. Es geht also darum, was er gewusst und gewollt (direkter Vorsatz) bzw. für möglich gehalten und in Kauf genommen hat (Eventualvorsatz). Die Beweisführung bei einer solchen sog. inneren Tatsache ist regelmässig heikel. Im zu beurteilenden Fall kommt den Aussagen von Mitangeklagten, Zeugen und Auskunftspersonen insoweit ausschlaggebende Bedeutung zu. Der Beschwerdeführer ist zusammen mit seinem Bruder und den beiden weiteren Mitangeklagten unstreitig deshalb mit dem Auto von Bern nach Basel gefahren, weil seine Schwester von häuslicher Gewalt seitens des späteren Opfers zu ihrem Nachteil berichtet hatte. Zur Beurteilung der Frage, was der Beschwerdeführer im Zusammenhang mit dem in Basel erfolgten Angriff auf das Opfer gewollt bzw. in Kauf genommen hat, sind die Aussagen dazu wichtig, wie der Beschwerdeführer in Bern auf die Nachricht seiner Schwester reagiert hat, was er danach wem gesagt hat und was auf der Fahrt von Bern nach Basel unter den Angeklagten besprochen worden ist. Ein im Wesentlichen auf Aussagen gestütztes Beweisergebnis zu einer inneren Tatsache wie hier kann im Appellationsverfahren noch erschüttert werden. Das weiss auch der Beschwerdeführer, da seine Appellation offenbar gerade darauf abzielt. Da es im Zusammenhang mit dem Vorsatz um eine heikle Beweisfrage geht, ist damit zu rechnen, dass das Appellationsgericht, dem umfassende Kognition zukommt, Befragungen von Mitangeklagten, Zeugen und Auskunftspersonen nochmals durchführen wird, um einen unmittelbaren Eindruck zu gewinnen. Mit Kollusionshandlungen muss daher gerechnet werden, auch wenn die erstinstanzliche Hauptverhandlung bereits stattgefunden hat.
Bei den Mitangeklagten, Zeugen und Auskunftspersonen handelt es sich um Freunde und Bekannte sowie den Bruder und die Eltern des Beschwerdeführers. Dies erhöht die Gefahr, dass er auf diese - mit Erfolg - Einfluss nehmen könnte, um sie zu einer Gefälligkeitsaussage zu bewegen.
Schon im Untersuchungsstadium musste der Beschwerdeführer zudem im Rahmen der Kontrolle der von ihm in Haft verfassten Briefe zahlreiche Male ermahnt werden, nicht über das Verfahren zu schreiben. Trotzdem enthielten seine Briefe immer wieder Aussagen zum Verfahren, insbesondere zu seiner behaupteten Unschuld. Dies deutet darauf hin, dass er die Adressaten der Briefe zu beeinflussen versuchte (Urteil 1B_304/2009 vom 6. November 2009 E. 2.5.2). Der Beschwerdeführer gibt sodann zu, mit einer Besucherin über Verfahrensrelevantes gesprochen zu haben (angefochtener Entscheid S. 1). Wie sich aus Vernehmlassungsbeilage 4 ergibt, hat der Beschwerdeführer überdies nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung verschiedenen Bekannten geschrieben, sie sollen ihn in der Haft besuchen kommen, damit er ihnen im Einzelnen darlegen könne, weshalb das erstinstanzliche Urteil falsch sei und wie sich die Tat genau ereignet habe. Es bestehen somit erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Beschwerdeführer bestrebt ist, auf sein Umfeld Einfluss zu nehmen, um seine Darstellung der Ereignisse durchzusetzen.
Der Beschwerdeführer ist ausserdem vorbestraft unter anderem wegen Vergehens gegen das Waffengesetz und Raufhandels. Dies zeigt, dass er gegebenenfalls bereit ist, eine Waffe bei sich zu haben und gegen Dritte Gewalt anzuwenden. Dies erhöht die Kollusionsgefahr.
Das Strafgericht hat dem Beschwerdeführer eine Freiheitsstrafe von sechs Jahren auferlegt. Die Staatsanwaltschaft, die vor Strafgericht eine Freiheitsstrafe von neun Jahren beantragt hatte, hat ebenfalls appelliert und verlangt eine Straferhöhung (Vernehmlassungsbeilage 3 S. 3 Ziff. 5b). Für den Beschwerdeführer steht somit viel auf dem Spiel. Entsprechend gross ist der Anreiz für Kollusionshandlungen.
Es geht um den Vorwurf der vorsätzlichen Tötung, also eines sehr schweren Verbrechens. An der Aufklärung solcher Taten und damit der Verhinderung von Verdunkelungshandlungen besteht ein erhöhtes öffentliches Interesse.
Diese Gesichtspunkte fallen insgesamt erheblich ins Gewicht. Mit Blick darauf ist es verfassungsrechtlich haltbar, wenn die Vorinstanz Kollusionsgefahr bejaht hat, auch wenn die erstinstanzliche Hauptverhandlung bereits stattgefunden hat.
Die Beschwerde ist insoweit unbegründet.
2.6 Da ein Haftgrund für die Aufrechterhaltung der Haft genügt, kann offen bleiben, ob zusätzlich Fluchtgefahr gegeben sei.
2.7 Inwiefern die Verweigerung des vorläufigen Strafvollzugs Bundesrecht verletzen soll, legt der Beschwerdeführer mit keinem Wort dar. Falls er die vorinstanzliche Verfügung insoweit überhaupt anfechten sollte, genügte die Beschwerde den Begründungsanforderungen (Art. 42 Abs. 1 und 2, Art. 106 Abs. 2 BGG) nicht, weshalb darauf nicht eingetreten werden könnte.
3.
Nach dem Gesagten ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
Die Bedürftigkeit des Beschwerdeführers kann angenommen werden. Da die Haft einen schweren Eingriff in die persönliche Freiheit darstellt, konnte er sich zur Beschwerde veranlasst sehen. Die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG wird daher bewilligt. Es werden keine Kosten erhoben und dem Vertreter des Beschwerdeführers wird eine Entschädigung ausgerichtet.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
3.
Es werden keine Kosten erhoben.
4.
Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Advokat Dr. Nicolas Roulet, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft und dem Strafgericht des Kantons Basel-Stadt, Präsidentin, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 30. Juli 2010
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
Aemisegger Härri