BGer 2C_149/2011
 
BGer 2C_149/2011 vom 26.09.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
2C_149/2011
Urteil vom 26. September 2011
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Bundesrichter Stadelmann,
Gerichtsschreiber Errass.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführerin,
gegen
Amt für Migration des Kantons Luzern, Fruttstrasse 15, 6002 Luzern,
Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern, Bahnhofstrasse 15, 6002 Luzern.
Gegenstand
Ausländerrecht,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 7. Januar 2011.
Sachverhalt:
A.
X.________ (geb. 1972), Staatsangehörige der Dominikanischen Republik, reiste am 22. Juni 2006 zwecks Vorbereitung der Heirat in die Schweiz. Am 22. November 2007 heiratete sie den schweizerischen Staatsbürger A.________. In der Folge erhielt sie eine - letztmals bis 22. November 2009 verlängerte - Aufenthaltsbewilligung zum Verbleib bei ihrem Ehemann. Der Ehemann verstarb infolge eines Krebsleidens am 16. August 2009.
B.
Mit Verfügung vom 28. Januar 2010 lehnte das Amt für Migration des Kantons Luzern das Gesuch von X.________ um Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ab und wies diese weg. Verwaltungsbeschwerde an das Justiz- und Sicherheitsdepartement des Kantons Luzern und Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern blieben erfolglos.
C.
X.________ beantragt vor Bundesgericht im Wesentlichen, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 7. Januar 2011 aufzuheben und die Aufenthaltsbewilligung zu verlängern.
D.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern und das Bundesamt für Migration beantragen, die Beschwerde abzuweisen.
Erwägungen:
1.
1.1 Nach Art. 83 lit. c BGG ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten u.a. unzulässig gegen Entscheide auf dem Gebiet des Ausländerrechts betreffend Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt (Ziff. 2). Die Beschwerdeführerin macht geltend, dass nach dem Tod ihres Ehemannes Gründe im Sinne von Art. 50 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) vom 16. Dezember 2005 (SR 142.20) bestünden, welche ihr einen Anspruch gäben, sich weiterhin in der Schweiz aufzuhalten. Sie verfügt somit über einen potentiellen Anspruch (BGE 136 II 177 E. 1.1 S. 179); ob tatsächlich solche Gründe vorliegen, bildet Gegenstand der materiellen Beurteilung. Die Sachentscheidvoraussetzungen sind erfüllt (vgl. Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2, Art. 89 sowie 100 BGG). Auf die Beschwerde ist einzutreten.
1.2 Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
1.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil zudem den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG), es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig oder beruhe auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Im vorliegenden Fall hat die Vorinstanz bei der Frage, ob Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG anwendbar sei, gesamthaft auf den Entscheid des Justiz- und Sicherheitsdepartements des Kantons Luzern verwiesen und damit auch dessen Sachverhaltsfeststellungen vorbehaltlos übernommen.
2.
2.1 Ausländische Ehegatten von Schweizer Bürgern haben unter Vorbehalt von Art. 51 Abs. 1 AuG Anspruch auf Erteilung und Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung, wenn sie mit ihrem Partner zusammenwohnen (Art. 42 Abs. 1 AuG). Da der Ehemann der Beschwerdeführerin verstorben ist, stellt sich die Frage, ob ihr gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen ist. Ein Anspruch nach Art. 50 Abs. 1 lit. a AuG besteht nicht, da die Ehe weniger als drei Jahre gedauert hat (dazu BGE 136 II 113 E. 3.3.3 S. 119); die voreheliche Beziehung ab 2002 (u.a. Heiratsvorbereitung in der Schweiz ab 22. Juni 2006) ist auf die Mindestdauer von drei Jahren nicht anzurechnen (vgl. BGE 137 II 1 E. 3.1 S. 3).
2.2 In Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG hat der Gesetzgeber den nachehelichen ausländerrechtlichen Härtefall geregelt: Danach besteht nach Auflösung der Ehe oder der Familiengemeinschaft ein Rechtsanspruch auf Erteilung und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung für den Fall, dass "wichtige persönliche Gründe" einen "weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen". Dabei geht es darum, Härtefälle bei der Bewilligungsverlängerung nach der Auflösung der ehelichen Gemeinschaft zu vermeiden (vgl. BGE 136 II 1 E. 5.3 S. 4). Der nacheheliche Härtefall knüpft an den abgeleiteten Anwesenheitsanspruch nach Art. 42 Abs. 1 bzw. Art. 43 Abs. 1 AuG an und ist für Situationen gedacht, in denen die Voraussetzungen der Litera a nicht erfüllt sind, sei es, dass der Aufenthalt während der Ehe von kürzerer Dauer war oder dass die Integration nicht fortgeschritten ist oder es an beidem fehlt (vgl. BGE 137 II 1 ff., insbes. E. 4.1 S. 7), aber - aufgrund sämtlicher weiterer Umstände - eine Härtefallsituation vorliegt. Dabei handelt es sich nicht um eine Interessenabwägung zwischen Interessen des vom Härtefall Betroffenen und denjenigen des Staates an einer restriktiven Einwanderungspolitik, sondern es geht einzig darum, die unbestimmten Rechtsbegriffe ("wichtige persönliche Gründe", "erforderlich machen") mit Inhalt zu füllen und diese alsdann auf den zu beurteilenden Fall anzuwenden. Im Gegensatz zur Ermessensbewilligung nach Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG (vgl. dazu BGE 2C_784/2010 E. 3.2.1) liegt hier eine Anspruchsbewilligung vor und es ist allein von Bedeutung, wie sich die Pflicht des Ausländers, die Schweiz verlassen zu müssen, nach der gescheiterten Ehe auf seine persönliche Situation auswirkt. Dabei können sich die jeweils zu berücksichtigenden Interessen oder wichtigen Gründe mit den anderen Härtefallregeln überschneiden (Dauer der Anwesenheit, Integration, Zumutbarkeit der Rückkehr usw.). Der ursprünglich vom schweizerischen bzw. niedergelassenen Ehepartner abgeleitete Bewilligungsanspruch soll wegen der Ausnahmesituation als eigenständiger Bewilligungsanspruch fortgeführt werden.
2.3 Die "wichtigen persönlichen Gründe" nach Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG müssen den weiteren Aufenthalt "erforderlich" machen. Nach Art. 50 Abs. 2 AuG und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung dazu (BGE 136 II 1 E. 5 S. 3 ff.; Urteil 2C_845/2010 vom 21. März 2011 E. 5.3) kann dies namentlich der Fall sein, wenn die ausländische Person mit abgeleitetem Aufenthaltsrecht Opfer ehelicher Gewalt geworden ist (vgl. BGE 136 II 1 E. 5.3 S. 4) oder wenn ihre soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint (dazu etwa die Hinweise in BGE 2C_784/2010 E. 3.2.2). Mögliche weitere Anwendungsfälle bilden (gescheiterte) unter Zwang eingegangene Ehen oder solche im Zusammenhang mit Menschenhandel. Der Verbleib in der Schweiz kann sich zudem auch dann als erforderlich erweisen, wenn der Ehegatte, von dem sich die Aufenthaltsberechtigung ableitet, verstirbt (vgl. BGE 137 II 1 E. 3 u. 4; Urteil 2C_266/2009 vom 2. Februar 2010 E. 3.3 und 5.2). Ein wichtiger persönlicher Grund kann sich aber auch aus anderen Umständen oder Aspekten im In- oder Heimatland der betroffenen Person ergeben. Die in Art. 31 Abs. 1 VZAE (SR 142.201; dazu Urteil 2C_216/2009 vom 20. August 2009 E. 2.2) erwähnten Gesichtspunkte können bei der entsprechenden Wertung eine Rolle spielen, auch wenn sie einzeln betrachtet grundsätzlich noch keinen Härtefall begründen. Da es im Rahmen von Art. 50 Abs. 1 lit. b AuG um nacheheliche Härtefälle geht, d.h. an die ursprünglich aus der Ehe abgeleitete Bewilligung angeknüpft wird, sind auch die Umstände, die zum Abschluss bzw. zur Auflösung der Ehe geführt haben, von Bedeutung. Insoweit rechtfertigt es sich, im Todesfall des Partners etwa Pietätsgründe in die Gesamtwürdigung einfliessen zu lassen (vgl. BGE 137 II 1 E. 4.1 i.f. S. 8). Ein persönlicher, nachehelicher Härtefall setzt aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls eine erhebliche Intensität der Konsequenzen für das Privat- und Familienleben der ausländischen Person voraus, die mit ihrer Lebenssituation nach dem Dahinfallen der gestützt auf Art. 42 Abs. 1 bzw. Art. 43 Abs. 1 AuG abgeleiteten Anwesenheitsberechtigung verbunden sind. Da Art. 50 Abs. 1 AuG von einem Weiterbestehen des Anspruchs nach Art. 42 und Art. 43 AuG spricht, muss der Härtefall sich auf die Ehe und den damit verbundenen Aufenthalt beziehen.
2.4 Nach BGE 137 II 1 E. 3.1 S. 3 ff., insbes. S. 5, stellt das Ableben des Schweizer Ehepartners nicht ohne Weiteres einen Härtefallgrund dar; massgebend sind die gesamten Umstände des Einzelfalls (dazu auch Urteil 2C_266/2009 vom 2. Februar 2010 E. 5.2). Diese vermögen im vorliegenden Fall einen wichtigen persönlichen Grund zu begründen: Die Beschwerdeführerin und ihr verstorbener Ehemann führten bereits seit 2002 eine Beziehung (zur Anrechnung der vorehelichen Frist vgl. BGE 2C_784/2010 E. 3.3.1), welche sie bis zu ihrer Heirat im Jahre 2007 durch gegenseitige Besuche in der Schweiz bzw. in der Dominikanischen Republik vertieft und gefestigt hatten. Die Beziehung hat insgesamt sieben Jahre gedauert, für welche die Beschwerdeführerin schliesslich ihre Heimat verlassen und ihr gesamtes Umfeld zurückgelassen hat, um hier zu heiraten und mit ihrem damals noch gesunden Ehemann zu leben. Nach Ausbruch der Krankheit im Jahre 2008 hat die Beschwerdeführerin ihren Ehemann zuerst zu Hause und anschliessend in der Palliativ-Abteilung eines Pflegeheims aufopfernd gepflegt und ist damit auch in "schlechten Zeiten" ihrem Ehegatten bis zu seinem Tod zur Seite gestanden. Insofern unterscheidet sich diese Konstellation von den bislang vom Bundesgericht abschlägig beurteilten Fällen, bei welchen entweder zwischen der beschwerdeführenden ausländischen und der schweizerischen Person im Zeitpunkt der Erkrankung die Ehegemeinschaft bereits nicht mehr bestanden hatte (BGE 137 II 1; Urteil 2C_781/2010 vom 16. Februar 2011) oder die Bindung zwischen den Ehegatten nicht derart intensiv gewesen war, dass sich die beschwerdeführende ausländische Person um ihren Ehepartner auch in schwierigen Zeiten gekümmert hätte (Urteil 2C_781/2010 vom 16. Februar 2011 E. 2.2). Diese Bindung zwischen der Beschwerdeführerin und ihrem Ehemann lebt ferner weiter in der ausgesprochen guten Beziehung der Beschwerdeführerin zu ihrer Schwiegermutter, die wohl auch der gemeinsamen Verarbeitung des Todes des Sohnes bzw. Ehemannes dient. Für einen Verbleib der Beschwerdeführerin in der Schweiz spricht sodann deren grundrechtlich geschütztes Interesse, die Totenfürsorge vornehmen zu können (dazu BGE 129 I 173 E. 5.1 S. 181), wozu ein regelmässiger Grabbesuch und das gedankliche Gespräch mit dem verstorbenen Ehemann an dessen letzter Ruhestätte gehört (BGE 129 I 173 E. 5.2 S. 182); mit einer Rückkehr in die Dominikanische Republik wäre ihr diese praktisch verunmöglicht. Unter Berücksichtigung der gesamten Umstände liegt hier ein wichtiger persönlicher Grund vor, welcher einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich macht. Eine behördlich verfügte Rückkehr in die Dominikanische Republik verletzt deshalb Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG.
Unter diesen Umständen kann offengelassen werden, ob vorliegend eine Gleichbehandlung mit EU Bürgern gestützt auf Art. 8 Abs. 1 BV i.V.m. Art. 4 Anhang I des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (FZA; SR 0.142.112.681) vorzunehmen wäre, der Bezug nimmt auf die Verordnung (EWG) Nr. 1251/70 vom 29. Juni 1970 (ABl. L 142 vom 30. Juni 1970 S. 24) und auf die Richtlinie 75/34/EWG vom 17. Dezember 1974 (ABl. L 14 vom 20. Januar 1975 S. 10) über das Recht der Arbeitnehmer und selbständig Erwerbstätigen nach Beendigung ihrer Beschäftigung bzw. Tätigkeit im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaates zu bleiben (dazu BGE 137 II 1 E. 3.2 S. 5 f.).
2.5 Schliesslich ist noch darauf hinzuweisen, dass die Vorinstanz bei der Beurteilung der Frage, ob ein wichtiger persönlicher Grund nach Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AuG vorliegt, unzulässigerweise in eine Interessenabwägung nach Art. 30 Abs. 1 lit. b AuG rutschte. Wie bereits ausgeführt (E. 2.2) geht es beim nachehelichen Härtefall lediglich darum, die geltend gemachten persönlichen Gründe daraufhin zu prüfen, ob sie genügend gewichtig sind, dass diese für die Beschwerdeführerin ein Verbleiben in der Schweiz erforderlich machen; nicht massgebend ist das gegenläufige Interesse an einer restriktiven Einwanderungspolitik.
3.
Die Beschwerde ist demzufolge gutzuheissen. Das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 7. Januar 2011, ist aufzuheben und das Amt für Migration des Kantons Luzern, Abteilung Aufenthalt, anzuweisen, die Aufenthaltsbewilligung der Beschwerdeführerin zu verlängern. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung ist mit diesem Entscheid gegenstandslos. Verfahrenskosten sind keine zu erheben und eine Parteientschädigung ist keine auszurichten (Art. 66 und 68 BGG). Das Verwaltungsgericht hat dem Ausgang des vorliegenden Verfahrens entsprechend die kantonale Kosten- und Entschädigungsfrage neu zu regeln (vgl. Art. 107 Abs. 2 i.V.m. Art. 67 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, vom 7. Januar 2011 aufgehoben und das Amt für Migration des Kantons Luzern, Abteilung Aufenthalt, angewiesen, die Aufenthaltsbewilligung der Beschwerdeführerin zu verlängern.
2.
Es werden keine Kosten erhoben.
3.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat über die kantonale Kosten- und Entschädigungsfrage neu zu bestimmen.
4.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Migration schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 26. September 2011
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Zünd
Der Gerichtsschreiber: Errass