BGer 1B_193/2014
 
BGer 1B_193/2014 vom 02.09.2014
{T 0/2}
1B_193/2014
 
Urteil vom 2. September 2014
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.
 
Verfahrensbeteiligte
A. C.________,
Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Georg Kramer,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Gossau, Sonnenstrasse 4a, 9201 Gossau.
Gegenstand
Beschlagnahme,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 1. April 2014 der Anklagekammer des Kantons St. Gallen.
 
Sachverhalt:
A. B. C.________ (Jg. 1994) geriet am 15. Februar 2014 in D.________, am Steuer des auf seine Mutter, A. C.________, zugelassenen Personenwagens "...", "...", in eine Geschwindigkeitskontrolle der St. Galler Kantonspolizei. Diese ergab, dass er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 28 km/h überschritten hatte. B. C.________ soll in der Folge das Haltesignal der Polizei missachtet haben und in eine Nebenstrasse geflüchtet sein, wobei er nach den Angaben des ihn mit einem zivilen Patrouillenfahrzeug verfolgenden Polizisten innerorts auf eine Geschwindigkeit von rund 130 km/h beschleunigte. Die nach seiner Anhaltung durchgeführte Kontrolle ergab, dass B. C.________ keinen Führerausweis besass. Der Drogenschnelltest auf kurz- und langfristigen Konsum von THC fiel positiv aus, ebenso der Atemalkoholtest, der Werte von 0,45 bzw. 0,49 Promille ergab.
Am 17. Februar 2014 beschlagnahmte die Staatsanwaltschaft des Untersuchungsamts Gossau das von der Kantonspolizei nach dem Vorfall vom 15. Februar 2014 sichergestellte Tatfahrzeug.
Am 1. April 2014 wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen die Beschwerde von A. C.________ gegen die Beschlagnahme ihres Personenwagens ab.
B. Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt A. C.________, diesen Entscheid der Anklagekammer aufzuheben und das beschlagnahmte Fahrzeug unverzüglich freizugeben.
C. Die Anklagekammer und der Leitende Staatsanwalt des Untersuchungsamtes Gossau verzichten auf Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist der Entscheid der Anklagekammer, mit welchem sie die Beschwerde gegen die Beschlagnahme eines Fahrzeugs abwies. Es handelt sich um den Entscheid einer letzten kantonalen Instanz in einer Strafsache, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 Abs. 1 BGG). Er schliesst das Verfahren gegen den Sohn der Beschwerdeführerin nicht ab, ist mithin ein Zwischenentscheid. Als solcher ist er nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG anfechtbar, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken könnte. Dies ist bei der Beschlagnahme der Fall, da die Beschwerdeführerin an der freien Ausübung ihrer Nutzungsrechte am Fahrzeug gehindert wird (BGE 139 IV 250 E. 1 mit Hinweisen). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.
2. Die Anklagekammer ist im angefochtenen Entscheid zum Schluss gekommen, die Beschlagnahme des "..." sei im Hinblick auf dessen allfällige Einziehung nach Art. 90a SVG gemäss Art. 263 Abs. 1 lit. d StPO zulässig.
2.1. Als Zwangsmassnahme im Sinn von Art. 196 StPO kann eine Beschlagnahme angeordnet werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen ist, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, sie verhältnismässig ist und durch die Bedeutung der Straftat gerechtfertigt wird (Art. 197 Abs. 1 StPO). Eine Beschlagnahme ist u.a. im Hinblick auf eine allfällige Einziehung durch den Strafrichter zulässig (Art. 263 Abs. 1 lit. d StPO). Sie setzt voraus, dass ein begründeter, konkreter Tatverdacht besteht, die Verhältnismässigkeit gewahrt wird und die Einziehung durch den Strafrichter nicht bereits aus materiellrechtlichen Gründen als offensichtlich unzulässig erscheint. Entsprechend ihrer Natur als provisorische (konservative) prozessuale Massnahme prüft das Bundesgericht bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Beschlagnahme - anders als der für die (definitive) Einziehung zuständige Sachrichter - nicht alle Tat- und Rechtsfragen abschliessend; es hebt eine Beschlagnahme nur auf, wenn ihre Voraussetzungen offensichtlich nicht erfüllt sind (BGE 139 IV 250 E. 2.1; 124 IV 313 E. 4 S. 316; vgl. auch BGE 128 I 129 E. 3.1.3 S. 133 f.; 126 I 97 E. 3d/aa S. 107; Urteile 1B_711/2012 vom 14. März 2013 E. 3.1; 1B_397/2012 vom 10. Oktober 2012 E. 5.1; 1B_252/2008 vom 16. April 2009 E. 4.3).
2.2. Der Sohn der Beschwerdeführerin wird beschuldigt, ohne im Besitz eines Führerausweises zu sein und unter dem Einfluss von Drogen (THC) und Alkohol einen Personenwagen gelenkt und dabei die innerorts zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um netto 28 km/h bzw. anschliessend auf der Flucht um rund 80 km/h überschritten zu haben. Auch wenn der Beschuldigte die zweite, besonders krasse Geschwindigkeitsüberschreitung bzw. offenbar vor allem deren Ausmass bestreitet, ist aufgrund der Radarmessung und der Darstellung des Polizeibeamten, der ihn auf der Flucht verfolgte, jedenfalls ein hinreichender Tatverdacht in Bezug auf eine als Verbrechen strafbare, qualifiziert grobe Verkehrsregelverletzung im Sinn von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG erstellt (zur Verschärfung der Strafbestimmungen durch "Via sicura": zur Publikation bestimmtes Urteil 1B_406/2013 vom 16. Mai 2014 E. 3.2).
2.3. Die Beschwerdeführerin bestreitet die Zulässigkeit der Einziehung des Tatfahrzeugs.
2.3.1. Nach Art. 90a Abs. 1 SVG kann der Strafrichter "die Einziehung eines Motorfahrzeugs anordnen, wenn:
a. eine grobe Verkehrsregelverletzung in skrupelloser Weise begangen wurde; und
b. der Täter durch die Einziehung von weiteren groben Verkehrsregelverletzungen abgehalten werden kann".
Die Einziehung stellt einen Eingriff in die von Art. 26 BV geschützte Eigentumsgarantie dar und ist nur in Ausnahmefällen verhältnismässig und gerechtfertigt. Nach der Botschaft soll nicht jede grobe Verkehrsregelverletzung automatisch zur Einziehung des Tatfahrzeugs führen, sondern nur dann, wenn die Verkehrsregelverletzung in skrupelloser Weise begangen worden sei und sie geeignet sei, den Täter von weiteren groben Verkehrsregelverletzungen abzuhalten (BBl 2010 S. 8484 f.).
Die Einziehungsvoraussetzungen von Art. 90a Abs. 1 lit. a SVG dürften bei Verkehrsdelikten im Sinn von Art. 90 Abs. 3 und 4 SVG in der Regel gegeben sein. Die Einziehung ist aber nicht auf diese Fälle beschränkt, sondern fällt auch bei groben Verkehrsregelverletzungen im Sinn von Art. 90 Abs. 2 SVG in Betracht. Für die kumulativ zu erfüllende Einziehungsvoraussetzung von Art. 90a Abs. 1 lit. b SVG kann an die bisherige Praxis angeknüpft werden (Darstellung bei Jürg Krumm, Die Sicherungseinziehung von Motorfahrzeugen, AJP 2013 S. 375 ff., insbesondere S. 380 ff.). Danach hat das Gericht im Sinne einer Gefährdungsprognose zu prüfen, ob das Fahrzeug in der Hand des Täters in der Zukunft die Verkehrssicherheit gefährdet bzw. ob dessen Einziehung geeignet ist, ihn vor weiteren groben Verkehrswidrigkeiten abzuhalten (BGE 137 IV 249 E. 4.4; Urteil 1B_168/2012 vom 8. Mai 2012 E. 2).
2.3.2. Wie oben in E. 2.1 dargelegt, sind die Fragen zur Problematik einer allfälligen Einziehung nicht abschliessend zu klären; das wird Sache des Strafrichters sein, dem das Bundesgericht vorliegend nicht vorzugreifen hat. Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich für die hier allein zu beurteilende Zulässigkeit der Beschlagnahme Folgendes: Nach dem in diesem Verfahrensstadium massgebenden Tatverdacht hat der Beschuldigte, um sich der polizeilichen Anhaltung zu entziehen und damit den Konsequenzen für sein verkehrswidriges Verhalten zu entgehen, mithin aus krass egoistischen Motiven, innerorts, im überbauten Gebiet und zu einer Tageszeit, zu der er mit anderen Verkehrsteilnehmern rechnen musste (Freitagabend nach 17:30 Uhr), auf bis zu 130 km/h beschleunigt. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass der Beschuldigte dadurch die Verkehrssicherheit objektiv hochgradig gefährdete und subjektiv, schon im Hinblick auf seine Motivation, skrupellos gehandelt hat. Die Einziehungsvoraussetzungen von Art. 90a Abs. 1 lit. a SVG sind klarerweise erfüllt.
2.3.3. Dasselbe gilt auch für die Voraussetzungen von Art. 90a Abs. 1 lit. b SVG. Der Beschuldigte ist einschlägig vorbestraft. Mit Strafbefehl vom 27. März 2013 verurteilte ihn die Staatsanwaltschaft Bischofszell wegen grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen und einer Busse von 600 Franken, und am 30. Oktober 2013 verurteilte ihn das Untersuchungsamt Gossau wegen mehrfacher Verletzung der Verkehrsregeln, Fahrens in fahrunfähigem Zustand, Fahrens ohne Fahrzeugausweis oder Kontrollschilder etc. zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen und einer Busse von 300 Franken; der anlässlich der ersten Verurteilung gewährte bedingte Strafvollzug wurde widerrufen. Offensichtlich unbeeindruckt hat sich der Beschuldigte nun bloss 3 ½ Monate nach der letzten Verurteilung mutmasslich erneut schwerwiegende Verkehrsdelikte zu Schulden kommen lassen. Beim zweiten Vorfall (Verurteilung vom 30. Oktober 2013) hat er ein nicht eingelöstes Fahrzeug verwendet, auf das er ein Kontrollschild des "..." seiner Mutter montiert hatte. Beim hier zu beurteilenden Vorfall hat er offenbar den "..." der Beschwerdeführerin entwendet. Diese ist offensichtlich der kriminellen Energie des in ihrem Haushalt lebenden Sohnes nicht gewachsen und nicht in der Lage, ihn zuverlässig vom Missbrauch ihres Fahrzeugs oder dessen Kontrollschilder abzuhalten. Insofern erscheint die Beschlagnahme des "..." geeignet, ihren Sohn jedenfalls vorläufig, solange sie sich kein Ersatzfahrzeug beschafft hat, vor weiterer Delinquenz abzuhalten. Dessen Einziehung fällt daher aus materiellrechtlichen Gründen nicht von vornherein ausser Betracht, womit die Beschlagnahme des Fahrzeugs grundsätzlich nicht zu beanstanden ist.
2.3.4. Unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV) muss die Beschlagnahme des Fahrzeugs geeignet und erforderlich sein, um den Zweck der Massnahme sicherzustellen. Vorliegend erscheint die Beschlagnahme nicht erforderlich, um eine allfällige Einziehung des Fahrzeugs durch den Strafrichter sicherzustellen, es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die unbescholtene Beschwerdeführerin einer entsprechenden Verfügung widersetzen würde. Hingegen ist nach dem Gesagten ernsthaft zu befürchten, dass sich ihr Sohn erneut des "..." bemächtigen und die Verkehrssicherheit - allenfalls unter dem Einfluss von Drogen und/oder Alkohol - wiederum in grober Weise gefährden könnte. Um dies bis zum Abschluss des Strafverfahrens gegen den Beschuldigten zuverlässig zu verhindern, ist die Beschlagnahme des Fahrzeugs erforderlich. Sie ist damit auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismässigkeit nicht zu beanstanden.
3. Die Beschwerde ist somit als unbegründet abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt die Beschwerdeführerin die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Gossau, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 2. September 2014
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Störi