BGer 1B_375/2014
 
BGer 1B_375/2014 vom 15.12.2014
{T 0/2}
1B_375/2014
 
Urteil vom 15. Dezember 2014
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Karlen,
Gerichtsschreiber Härri.
 
Verfahrensbeteiligte
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Gränicher.
Gegenstand
Sicherheitshaft,
Beschwerde gegen den Beschluss des Obergerichts des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen,
vom 15. Oktober 2014.
 
Sachverhalt:
A. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern Region Emmental-Oberaargau (im Folgenden: Staatsanwaltschaft) führt ein Strafverfahren gegen den mazedonischen Staatsangehörigen A.________ (geb. 1983) wegen des Verdachts der sexuellen Nötigung, der Vergewaltigung, des mehrfachen Betrugs, des Diebstahls, der Sachbeschädigung, des Hausfriedensbruchs und von Widerhandlungen gegen das Strassenverkehrsgesetz. Sie wirft ihm vor, er habe seine damalige Ehefrau gezwungen, ihn oral zu befriedigen, und sie anschliessend vergewaltigt. Zudem habe er verschiedene Versicherungsgesellschaften durch unwahre Angaben zur Erbringung von Leistungen veranlasst; der Deliktsbetrag belaufe sich auf insgesamt über Fr. 20'000.--. Überdies habe er mit Mittätern einen Einbruchdiebstahl begangen. Ferner habe er trotz amtlicher Aufforderungen einen Fahrzeugausweis und Kotrollschilder nicht abgegeben.
Am 15. April 2014 nahm ihn die Polizei im Kanton Wallis fest und führte ihn in der Folge den Behörden des Kantons Bern zu. Am 18. April 2014 versetzte ihn das Regionale Zwangsmassnahmengericht Emmental-Oberaargau (im Folgenden: Zwangsmassnahmengericht) in Untersuchungshaft. Am 18. Juli 2014 verlängerte es die Haft bis zum 14. Oktober 2014.
Am 5. September 2014 erhob die Staatsanwaltschaft Anklage beim Einzelrichter des Regionalgerichts Emmental-Oberaargau (im Folgenden: Einzelrichter).
Gleichzeitig beantragte sie dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung von Sicherheitshaft. Am 17. September 2014 gab dieses dem Antrag statt. Es beschränkte die Sicherheitshaft auf drei Monate.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Obergericht des Kantons Bern (Beschwerdekammer in Strafsachen) am 15. Oktober 2014 gut. Es hob den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. September 2014 auf und ordnete die unverzügliche Haftentlassung an. Es bejahte den dringenden Tatverdacht und Fluchtgefahr, erachtete die Haft jedoch als nicht mehr verhältnismässig.
B. Die Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Beschluss des Obergerichts sei aufzuheben und die Sache zum neuen Entscheid an dieses zurückzuweisen. Eventualiter sei festzustellen, dass die Haftentlassung bundesrechtswidrig gewesen sei.
C. Das Obergericht hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
A.________ hat sich vernehmen lassen. Er beantragt die Abweisung der Beschwerde.
 
Erwägungen:
1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben.
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig.
Die Beschwerdeführerin ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 3 BGG zur Beschwerde befugt (BGE 137 IV 22 E. 1 S. 23; 134 IV 36 E. 1.3 S. 38 f.; Urteil 6B_949/2013 vom 3. Februar 2014 E. 2; je mit Hinweisen).
Sie hat ein aktuelles praktisches Interesse an der Behandlung der Beschwerde (BGE 137 IV 230 E. 1 S. 232; 87 E. 1 ff. S. 88 ff.; Urteil 1B_270/2013 vom 22. Oktober 2013 E. 1, nicht publ. in BGE 139 IV 314).
Der angefochtene Beschluss stellt einen Zwischenentscheid dar, welcher der Beschwerdeführerin einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann (BGE 138 IV 92 E. 1.2 S. 94 f.; 137 IV 237 E. 1.1 S. 240).
Der von der Beschwerdeführerin gestellte Eventualantrag ist zulässig (BGE 137 IV 87 E. 1 S. 88 f.).
Art. 98 BGG, der eine Beschränkung der Beschwerdegründe vorsieht, ist hier nicht anwendbar (BGE 140 IV 57 E. 2.2 S. 60 mit Hinweisen).
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
 
2.
2.1. Der Beschwerdegegner befand sich im Zeitpunkt des angefochtenen Entscheids 6 Monate in Haft. Die Vorinstanz erwägt, er könne mit einer bedingten Freiheitsstrafe rechnen. Selbst wenn eine teilbedingte Freiheitsstrafe in Betracht käme, wäre davon auszugehen, dass er den unbedingten Teil durch die Haft bereits erstanden habe. Zur Sicherung der Strafvollstreckung sei die Haft daher nicht mehr erforderlich. Zwar stehe in Bezug auf die dem Beschwerdegegner vorgeworfenen Sexualdelikte Aussage gegen Aussage und habe der Einzelrichter deshalb ein Interesse daran, ihn persönlich anzuhören. Der Beschwerdegegner sei jedoch nicht zur Aussage verpflichtet. Im Übrigen könne bei seinem Fernbleiben das Abwesenheitsverfahren durchgeführt werden. Zur Sicherung der Anwesenheit des Beschwerdegegners im weiteren Verfahren sei die Haft daher nicht mehr zumutbar.
2.2. Der Einzelrichter kann eine Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren verhängen (Art. 19 Abs. 2 lit. b StPO; ANDREAS J. KELLER, in: Donatsch und andere [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 7 zu Art. 19 StPO). Welche Strafe die Staatsanwaltschaft beantragen wird, hat sie in der Anklageschrift noch nicht dargelegt, was zulässig ist (Art. 326 Abs. 1 lit. f StPO).
Die Vorinstanz äussert sich nicht zur Höhe der vom Beschwerdegegner zu gewärtigenden Strafe. Er ist geständig; dies mit Ausnahme des Vorwurfs der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung. Insoweit steht Aussage gegen Aussage. Das bedeutet nicht, dass es zu einem Freispruch kommen muss. Die Vorinstanz bejaht auch insoweit den dringenden Tatverdacht (angefochtener Entscheid S. 3 E. 3). Die von ihr dafür gegebene Begründung ist nicht zu beanstanden. Der Beschwerdegegner muss daher auch in Bezug auf den Vorwurf der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung einen Schuldspruch gewärtigen. Die ihm vorgeworfenen Straftaten wiegen insgesamt schwer. Nebst den Sexualdelikten werden ihm namentlich mehrere Versicherungsbetrüge mit einem erheblichen Deliktsbetrag und ein Einbruchdiebstahl zur Last gelegt. Angesichts dessen muss der Beschwerdegegner damit rechnen, dass der Einzelrichter seine Kompetenz ausschöpfen und eine Freiheitsstrafe von zwei Jahren aussprechen könnte.
Zwar kommen bei einer solchen Strafe der bedingte und der teilbedingte Vollzug nach Art. 42 f. StGB in Betracht. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung - welche die Vorinstanz übergeht - ist dies bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit jedoch grundsätzlich ausser Acht zu lassen (BGE 139 IV 270 E. 3.1 S. 275; 125 I 60 E. 3d S. 64; 124 I 208 E. 6 S. 215; Urteil 1P.686/1995 vom 22. Dezember 1995 E. 3, publ. in: EuGRZ 1998 S. 514). Im vorliegenden Fall besteht kein Anlass, davon abzuweichen. Zwar ist der Beschwerdegegner nicht vorbestraft. Dass der Einzelrichter auf eine bedingte Strafe erkennen wird, kann gleichwohl nicht als sicher angenommen werden. Gemäss Art. 42 Abs. 3 StGB kann die Gewährung des bedingten Vollzugs verweigert werden, wenn der Täter eine zumutbare Schadensbehebung unterlassen hat (vgl. dazu GÜNTER STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allgemeiner Teil II, 2. Aufl. 2006, S. 141 f. N. 43 f.). Dass der Beschwerdegegner den durch die eingestandenen Vermögensdelikte verursachten Schaden, soweit zumutbar, behoben hätte, stellt die Vorinstanz nicht fest. Sie geht im Übrigen selber davon aus, dass auch eine teilbedingte Strafe in Betracht kommt. Mit einer solchen rechnet der Beschwerdegegner (Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. September 2014 S. 4). Bei einer teilbedingten Strafe von zwei Jahren beträgt nach Art. 43 Abs. 2 f. StGB der unbedingte Teil 6-12 Monate. Dass der Einzelrichter hier auf das Mindestmass von 6 Monaten erkennen würde, steht nicht fest. All dies ist Spekulation. Deshalb lehnt die bundesgerichtliche Rechtsprechung die Berücksichtigung des bedingten bzw. teilbedingten Vollzugs in einem Fall wie hier ab (Urteil 1B_6/2007 vom 20. Februar 2007 E. 2.5).
Die Vorinstanz hätte demnach die Verhältnismässigkeit der Haft zur Sicherung der Strafvollstreckung bejahen müssen. Die Dauer der Haft rückte noch nicht in grosse zeitliche Nähe der im Falle einer Verurteilung zu erwartenden Freiheitsstrafe.
2.3. Damit hätte die Vorinstanz nicht mehr prüfen müssen, ob die Haft zur blossen Sicherung der Anwesenheit des Beschwerdegegners im weiteren Verfahren verhältnismässig sei. Diese Frage stellte sich der Vorinstanz nur, weil sie die Verhältnismässigkeit zur Sicherung der Strafvollstreckung verneinte. Wäre der Auffassung der Vorinstanz, wonach der Beschwerdegegner mit einer Strafe von 6 Monaten zu rechnen hat und deshalb Überhaft droht, zu folgen gewesen, hätte sie im Übrigen keine längeren Ausführungen zur Verhältnismässigkeit mehr machen müssen. Gemäss Art. 212 Abs. 3 StPO dürfen Untersuchungs- und Sicherheitshaft nicht länger dauern als die zu erwartende Strafe. Dabei handelt es sich um eine absolute Höchstgrenze der Haft (BGE 124 I 208 E. 6 S. 215 mit Hinweisen). Auch bei Fluchtgefahr darf dem Beschuldigten keine Überhaft zugemutet werden.
2.4. Mildere Ersatzmassnahmen anstelle von Sicherheitshaft hätten nach der zutreffenden Ansicht der Beschwerdeführerin (Beschwerde S. 6 Ziff. 15) und des Zwangsmassnahmengerichts (Entscheid vom 17. September 2014 S. 7) die Fluchtgefahr nicht hinreichend bannen können. Insbesondere ist nicht ersichtlich, wie der Beschwerdegegner in Anbetracht seiner finanziellen Verhältnisse eine Fluchtkaution hätte leisten können.
2.5. Waren demnach der dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr gegeben und die Haft unter jedem Gesichtswinkel verhältnismässig, hätte die Vorinstanz die Beschwerde abweisen müssen. Die Haftentlassung verletzt Bundesrecht.
2.6. Zur Haftentlassung in Abweichung von der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hatte die Vorinstanz umso weniger Anlass, als der Beschwerdegegner die Verhältnismässigkeit der Haftdauer gar nicht in Frage gestellt hatte. Vielmehr hatte er eingeräumt, dass die Möglichkeit des bedingten bzw. teilbedingten Vollzugs bei der Prüfung der Verhältnismässigkeit grundsätzlich ausser Betracht bleibt (Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 17. September 2014 S. 7).
 
3.
3.1. Die Beschwerde ist danach gutzuheissen.
3.2. Das Bundesgericht gibt eine von der Beschwerdeführerin abweichende Begründung. Dies ist zulässig, da es gemäss Art. 106 Abs. 1 BGG das Recht von Amtes wegen anwendet (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254 mit Hinweisen).
3.3. Die beantragte Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz ist nicht zweckmässig. Das Zwangsmassnahmengericht hat am 17. September 2014 die Sicherheitshaft auf 3 Monate beschränkt. Die Haftdauer wäre im Zeitpunkt der Neubeurteilung durch die Vorinstanz somit voraussichtlich abgelaufen, womit diese die Beschwerde wohl als gegenstandslos abzuschreiben hätte. In Gutheissung des Eventualantrags wird deshalb festgestellt, dass die Haftentlassung bundesrechtswidrig war.
3.4. Die Staatsanwaltschaft hat grundsätzlich die Möglichkeit, den Beschwerdegegner erneut festnehmen zu lassen und dem Zwangsmassnahmengericht die Anordnung von Sicherheitshaft zu beantragen. Ob sich die neuerliche Versetzung des Beschwerdegegners in Sicherheitshaft rechtfertigt, hängt weitgehend von seinem Verhalten nach der Haftentlassung ab. Sollte er nicht geflohen oder untergetaucht sein und dazu keine Anstalten getroffen haben, spräche dies erheblich gegen Fluchtgefahr.
3.5. Der Beschwerdegegner ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG. Diese kann bewilligt werden. Es werden ihm deshalb, obgleich er unterliegt, keine Kosten auferlegt und seinem Vertreter wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung ausgerichtet.
Eine Änderung der vorinstanzlichen Kostenverlegung (Art. 67 BGG) rechtfertigt sich nicht.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. In Gutheissung der Beschwerde wird festgestellt, dass die Haftentlassung bundesrechtswidrig war.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
3. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4. Dem Vertreter des Beschwerdegegners, Rechtsanwalt Daniel Gränicher, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- ausgerichtet.
5. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. Dezember 2014
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Härri