BGer 9C_48/2016 |
BGer 9C_48/2016 vom 25.02.2016 |
{T 0/2}
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9C_48/2016
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Urteil vom 25. Februar 2016 |
II. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
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Bundesrichter Meyer, Parrino,
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Gerichtsschreiber Fessler.
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Verfahrensbeteiligte |
vertreten durch Fürsprecher Gerhard Lanz,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung
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(Invalidenrente; Rückerstattung; Erlass),
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Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 1. Dezember 2015.
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Sachverhalt: |
A. |
A.a. Mit Verfügung vom 23. September 1999 sprach die IV-Stelle Bern A.________ eine halbe Invalidenrente ab 1. Januar 1996 zu. Mit Entscheid vom 9. Januar 2001 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, diesen Verwaltungsakt auf und verneinte den Anspruch auf eine Invalidenrente. Mit Urteil I 116/01 vom 27. November 2001 hob das Eidg. Versicherungsgericht dieses Erkenntnis und die Verfügung vom 23. September 1999 auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie die Versicherte begutachten lasse und anschliessend über den Rentenanspruch neu verfüge.
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Mit Verfügung vom 7. April 2004 verneinte die IV-Stelle gestützt auf ein interdisziplinäres Gutachten vom 24. Februar 2004 den Anspruch von A.________ auf eine Invalidenrente, woran sie mit Einspracheentscheid vom 23. Januar 2006 festhielt. Mit Entscheid vom 18. April 2007 hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, diesen Verwaltungsakt auf und wies die Akten zum weiteren Vorgehen im Sinne der Erwägungen (d.h. Durchführung weiterer Abklärungen) an die IV-Stelle zurück.
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Mit Verfügung vom 25. Juli 2012 verneinte die IV-Stelle erneut u.a. gestützt auf ein Gutachten vom 29. März 2012 einen Rentenanspruch, was vom Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 22. Januar 2013 und letztinstanzlich vom Bundesgericht mit Urteil 9C_161/2013 vom 29. Oktober 2013 bestätigt wurde.
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A.b. Mit Verfügung vom 23. Mai 2013 forderte die IV-Stelle von A.________ die im Zeitraum vom 1. März 2007 bis 31. März 2012 ausgerichteten Leistungen in der Höhe von Fr. 116'316.- zurück. In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der Versicherten setzte das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 6. Februar 2014 den rückzuerstattenden Betrag auf Fr. 85'461.- herab. Die dagegen erhobene Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten wies das Bundesgericht mit Urteil 9C_195/2014 vom 3. September 2014 ab.
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Mit Verfügung vom 3. Juni 2015 wies die IV-Stelle das Gesuch von A.________ um Erlass der Rückerstattung ab.
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B. Die Beschwerde der A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, mit Entscheid vom 1. Dezember 2015 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 1. Dezember 2015 sei aufzuheben; die Sache sei wegen Verletzung der Begründungspflicht an die Vorinstanz, eventualiter an die IV-Stelle zur Prüfung der Erlassvoraussetzung der grossen Härte zurückzuweisen.
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Erwägungen: |
1. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es prüft die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 137 V 57 E. 1.3 S. 60; 136 I 49 E. 1.4.1 S. 53). Das Rechtsgleichheitsgebot nach Art. 8 Abs. 1 BV im Besonderen ist verletzt, wenn Gleiches nicht nach Massgabe seiner Gleichheit gleich und Ungleiches nicht nach Massgabe seiner Ungleichheit ungleich behandelt wird (BGE 140 I 77 E. 5.1 S. 80; 134 I 23 E. 9.1 S. 42).
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2. Die Beschwerdegegnerin hat den Erlass der Rückerstattung der unrechtmässig bezogenen Leistungen (halbe Rente der Invalidenversicherung) in der Höhe von Fr. 85'461.- gemäss Urteil 9C_195/2014 vom 3. September 2014 wegen Fehlens des hierfür vorausgesetzten guten Glaubens nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG abgelehnt, was das kantonale Verwaltungsgericht bestätigt hat. Dieses ist in Anwendung der Rechtsprechung (statt vieler BGE 138 V 218 E. 4 S. 220) zum Ergebnis gelangt, die Beschwerdeführerin habe während des zu beurteilenden Zeitraums vom Juni 2008 bis März 2012 jederzeit damit rechnen müssen, dass sie die ohne rechtliche Grundlage (rechtskräftige Verfügung) ausbezahlte Rente zurückerstatten müsse. Der Umstand, dass selbst die Verwaltung diesen offensichtlichen Fehler nicht bemerkt habe, vermöge die anfänglich nicht vorhandene Gutgläubigkeit nicht wiederherzustellen.
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3. Die Beschwerdeführerin rügt eine stossende mit Art. 8 Abs. 1 und Art. 29 Abs. 1 BV unvereinbare Ungleichbehandlung in dem Sinne, dass in Bezug auf die Sorgfalt bzw. Aufmerksamkeit, eine unrechtmässige Leistungsausrichtung zu erkennen, bei der Frage nach dem guten Glauben nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG als eine Erlassvoraussetzung höhere Anforderungen an sie gestellt würden, als bei der Frage nach dem Beginn der relativen einjährigen Verwirkungsfrist für die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs nach Art. 25 Abs. 2 ATSG an die Beschwerdegegnerin (vgl. dazu BGE 124 V 380 E. 1 S. 383). Werde der Verwaltung zugebilligt, sie hätte erst aufgrund des Gutachtens vom 29. März 2012 erkennen können, dass Leistungen ohne hinreichende Grundlage geflossen seien, müsse dasselbe auch für sie gelten. Zu diesem bereits im vorangegangenen Verfahren vorgetragenen Argument habe die Vorinstanz nicht einlässlich Stellung genommen, was indessen zwingend erforderlich gewesen wäre, da es sich dabei um den einzigen entscheidenden Punkt handle. Schliesslich führe das Verwaltungsgericht unter Hinweis auf den eine Meldepflichtverletzung betreffenden, somit nicht einschlägigen BGE 118 V 214 E. 2b S. 219 ihre "anfänglich nicht vorhandene Gutgläubigkeit" ins Feld, ohne zu sagen, worin diese zu erblicken sei, womit es auch insofern seine Begründungspflicht verletze.
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4.
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4.1. Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass die Frage nach dem Zeitpunkt, ab welchem bei der gebotenen und zumutbaren Aufmerksamkeit ein Fehler der Verwaltung hätte erkannt werden müssen - durch diese selber (Art. 25 Abs. 2 ATSG) bzw. durch die grundsätzlich rückerstattungspflichtige Person (Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG) - insofern dieselbe ist. Sie stellt sich indessen in verschiedenem Kontext, dort bei der Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen und der Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs in zeitlicher Hinsicht, hier beim Erlass der Rückerstattung. Ebenso sind die Normadressaten nicht dieselben noch sind deren Stellung und Aufgaben im sozialversicherungsrechtlichen Verfahren vergleichbar. Während der Versicherungsträger ein Gesetzesvollzugsorgan ist, obliegen der versicherten Person im Wesentlichen einzig Mitwirkungspflichten (Art. 28 und 43 ATSG) und Meldepflichten (Art. 31 ATSG). Es kommt dazu, dass die Versicherungsträger gleichzeitig mit einer Vielzahl von Versicherten in einer Rechtsbeziehung stehen, was einen gewissen Schematismus in den Abläufen erfordert und entsprechend das Risiko von Fehlern erhöht. Die Beschwerdeführerin vermag nicht substanziiert darzutun (E. 1 vorne), inwiefern trotz dieser Unterschiede aus Gründen der Gleichbehandlung der gute Glaube nach Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG betreffend die Rechtmässigkeit des Leistungsbezugs mindestens solange als gegeben zu betrachten ist, als die relative einjährige Frist zur Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs nach Art. 25 Abs. 2 ATSG nicht begonnen haben konnte, wie sie geltend macht. Abgesehen davon ist diese Rechtsauffassung schon aus grundsätzlichen Überlegungen abzulehnen. Es bedeutete, dass die Erlassvoraussetzung des guten Glaubens praktisch regelmässig zu bejahen wäre, mithin die Rückerstattung der unrechtmässig bezogenen Leistungen lediglich noch bei Fehlen einer grossen Härte nicht ausser Betracht fiele. Dies widerspräche nicht nur dem klaren Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 Satz 2 ATSG und der Rechtsprechung, sondern auch Sinn und Zweck der Erlassregelung, namentlich bei offensichtlicher leichter Erkennbarkeit der Unrechtmässigkeit des Leistungsbezugs bzw. der Leistungsausrichtung ohne rechtliche Grundlage, wenn sich die versicherte Person auf das bessere Wissen bzw. Wissen-Müssen des Versicherungsträgers berufen könnte, um der Rückerstattungspflicht zu entgehen.
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4.2. Ebenfalls unbegründet ist die Rüge, die Vorinstanz habe (auch) insofern ihre Begründungspflicht (vgl. Art. 61 lit. h ATSG und Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG) verletzt, als sie die "anfänglich nicht vorhandene Gutgläubigkeit" ins Feld führe, ohne zu sagen, worin diese zu erblicken sei:
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Mit Entscheid vom 9. Januar 2001 hatte die Vorinstanz, nach vorgängiger Androhung einer reformatio in peius, die eine halbe Invalidenrente ab 1. Januar 1996 zusprechende Verfügung vom 23. September 1999 aufgehoben und einen Rentenanspruch verneint. Mit Urteil I 116/01 vom 27. November 2001 hob das Eidg. Versicherungsgericht beide Rechtsanwendungsakte auf und wies die Sache an die IV-Stelle zurück, damit sie die Versicherte begutachten lasse und anschliessend über den Rentenanspruch neu befinde (womit es das Verfahren in den Zustand vor Erlass der Verfügung zurückversetzte; vgl. auch BGE 137 V 314 E. 3.1 S. 318).
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In E. 3.3 des angefochtenen Entscheids wird unter Hinweis auf das Urteil 9C_805/2008 vom 13. März 2009 E. 2.4 u.a. festgehalten: "Wenn das kantonale Gericht - wie im vorliegenden Fall - nach Androhung einer reformatio in peius die von der Verwaltung zugesprochene Rente reduziert oder aufhebt, muss die versicherte Person ab Eröffnung des kantonalen, in peius reformierenden Entscheides damit rechnen, dass sie die ihr während des Beschwerdeverfahrens vor dem Bundesgericht weiterhin ausgerichtete Rente bei Abweisung des Rechtsmittels zurückzuerstatten hat; mit anderen Worten ist ab diesem Zeitpunkt der gute Glaube zu verneinen." Dies gelte, so das kantonale Verwaltungsgericht weiter, umso mehr, als auch das Bundesgericht die entsprechende Verfügung (vom 23. September 1999) aufgehoben habe und die Rechtsprechung gemäss BGE 137 V 314 noch nicht gegolten habe.
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Somit durfte nach Auffassung der Vorinstanz die Beschwerdeführerin spätestens nach Eröffnung des Entscheids vom 9. Januar 2001 bzw. des Urteils I 116/01 des Eidg. Versicherungsgerichts vom 27. November 2001 in dem Sinne nicht mehr in gutem Glauben von einem rechtmässigen Rentenbezug ausgehen, dass sie je nach Ausgang des Verfahrens mit der Rückerstattung von Leistungen rechnen musste. Daran änderte sich in der Folge nichts mehr. Im Gegenteil verneinte die Beschwerdegegnerin gestützt auf das von ihr eingeholte interdisziplinäre Gutachten vom 24. Februar 2004 mit Verfügung vom 7. April 2004 und Einspracheentscheid vom 23. Januar 2006 den Anspruch auf eine Invalidenrente, nachdem sie ursprünglich noch eine halbe Rente zugesprochen hatte. Unter diesen Umständen hätte der gute Glaube nur dann wiederhergestellt werden können, wenn die Beschwerdeführerin die IV-Stelle auf das Fehlen einer (rechtskräftigen) Verfügung als Grundlage für die Ausrichtung der Rente hingewiesen hätte, was sie jedoch nicht tat, und trotzdem weiterhin Leistungen ausgerichtet worden wären.
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4.3. Der angefochtene Entscheid verletzt kein Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Die Beschwerde ist unbegründet.
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5. Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 4'500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 25. Februar 2016
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Glanzmann
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Der Gerichtsschreiber: Fessler
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