BGer 9C_191/2016 |
BGer 9C_191/2016 vom 18.05.2016 |
{T 0/2}
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9C_191/2016
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Urteil vom 18. Mai 2016 |
II. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
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Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
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Gerichtsschreiber Fessler.
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Verfahrensbeteiligte |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Massimo Aliotta,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Krankenkasse Schweizerischer Metallbaufirmen, Dielsdorferstrasse 1, 8173 Neerach,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Krankenversicherung
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(Prozessvoraussetzung; Einsprachefrist),
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Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
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vom 29. Januar 2016.
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Sachverhalt: |
A. Die Krankenkasse Schweizerischer Metallbaufirmen richtete A.________ ab 17. August 2012 Taggelder nach KVG aus. Nach Abklärungen stellte sie mit Verfügung vom 31. März 2014 die Leistungen auf den 1. des Monats ein, woran sie mit Einspracheentscheid vom 16. Juni 2014 festhielt.
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B. Die Beschwerde des A.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 29. Januar 2016 ab, soweit darauf eingetreten wurde, und zwar in dem Sinne, dass der Einspracheentscheid vom 16. Juni 2014 dahingehend geändert wird, dass auf die Einsprache nicht eingetreten wird.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 29. Januar 2016 sei aufzuheben und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich anzuweisen, auf die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 16. Juni 2014 einzutreten und sie materiell zu behandeln.
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Erwägungen:
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1. Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen ist, gegen die Leistungseinstellungsverfügung vom 31. März 2014 sei verspätet Einsprache erhoben worden, und mit dieser Begründung die Beschwerde gegen den Einspracheentscheid vom 16. Juni 2014 abgewiesen hat.
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2. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 61 lit. b ATSG bzw. Art. 10 Abs. 5 ATSV. Diese Verordnungsbestimmung (i.V.m. Art. 52 Abs. 1 erster Teilsatz ATSG) lautet wie folgt: Genügt die Einsprache den Anforderungen nach Absatz 1 [Rechtsbegehren und Begründung] nicht oder fehlt die Unterschrift, so setzt der Versicherer eine angemessene Frist zur Behebung der Mängel an und verbindet damit die Androhung, dass sonst auf die Einsprache nicht eingetreten wird. In sinngemässer Anwendung von Art. 61 lit. b zweiter Satz ATSG und der dazu ergangenen Rechtsprechung (BGE 134 V 162 und seitherige Urteile) hat der verfügende Versicherungsträger ganz allgemein eine Nachfrist zur Verbesserung einer den gesetzlichen Anforderun gen nicht genügenden Einsprache anzusetzen, also selbst dann, wenn Rechtsbegehren und Begründung überhaupt fehlen, sofern dadurch nicht in rechtsmissbräuchlicher Weise eine Verlängerung der Beschwerdefrist erreicht werden soll (Urteil 8C_259/2015 vom 24. Februar 2016 E. 2.3 mit Hinweisen [zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehen]).
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3. Nach den verbindlichen, im Übrigen unbestrittenen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) wurde die Verfügung vom 31. März 2014 am Folgetag dem Beschwerdeführer zugestellt. Unter Berücksichtigung des Fristenstillstands vor und nach Ostern lief die Einsprachefrist am (Freitag) 16. Mai 2014 ab (Art. 52 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 38 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a sowie Art. 39 ATSG). Mit Brief vom 2. April 2014 ersuchte die damalige Rechtsvertretung des Beschwerdeführers den Krankenversicherer um Zusendung sämtlicher Akten sowie um eine "Nachfrist von 30 Tagen zur Antragstellung und Begründung der hiermit erhobenen Einsprache", dies unter Hinweis auf ihre Abwesenheit von zwei Wochen ab 14. des Monats. Rund eine Woche später wurden die Akten zugestellt, wobei im Begleitschreiben vom 9. April 2014 festgehalten wurde, die Eingabefrist für die Einsprache werde bis zum 30. Mai 2014 verlängert. Am 20. Mai 2014 reichte die neue Rechtsvertretung des Beschwerdeführers eine mit einem Antrag und einer Begründung versehene Einsprache ein, welche die Beschwerdegegnerin mit Einspracheentscheid vom 16. Juni 2014 abwies.
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4. |
4.1. Der Sinn der Nachfrist nach Art. 61 lit. b zweiter Satz ATSG besteht im Schutz der rechtsunkundigen Partei, welche erst kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist in Unkenntnis der formellen Anforderungen eine namentlich ungenügend begründete Beschwerdeschrift einreicht. Sie soll - bei klar bekundetem Anfechtungswillen - nicht deshalb um die Rechtsmittelmöglichkeit gebracht werden (BGE 134 V 162 E. 5.1 S. 167). Im Lichte dieser ratio legis waren im Zeitpunkt der Gesuchstellung am 2. April 2014 die Voraussetzungen für die Einräumung einer Nachfrist nach Art. 10 Abs. 5 ATSV für die Einreichung einer den Formerfordernissen in Bezug auf Antrag und Begründung genügenden Einsprache offensichtlich nicht gegeben, wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat. Die Frist von 30 Tagen nach Art. 52 Abs. 1 ATSG hatte am selben Tag erst zu laufen begonnen und nach Erhalt der mit Schreiben vom 9. April 2014 zugestellten Akten verblieben auch ohne den Fristenstillstand (Ostersonntag: 20. April 2014) immer noch mehr als zweieinhalb Wochen bis zum Ablauf der Frist am 16. Mai 2014, um eine formgültige Einsprache einzureichen. Unter diesen Umständen lief die Einräumung einer Nachfrist bis 30. Mai 2014 - gleichsam auf Vorrat - auf eine unzulässige Verlängerung der gemäss Art. 40 Abs. 1 ATSG nicht erstreckbaren Einsprachefrist hinaus, wie die Vorinstanz weiter zu Recht festhält. "Ein solches Nachfrist-Gesuch wird von der Rechtsprechung als rechtsmissbräuchlich gewertet, und die Beschwerdegegnerin hat ihm daher zu Unrecht entsprochen" (E. 4.4.2 i.f. des angefochtenen Entscheids).
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4.2. |
4.2.1. Nach der Rechtsprechung ist ein offenbarer Missbrauch, der einen Verzicht auf die gesetzlich vorgesehene Nachfrist rechtfertigt, zu bejahen, wenn ein Anwalt oder eine sonstige rechtskundige Person eine bewusst mangelhafte Rechtsschrift einreicht, um damit eine Nachfrist zur Begründung zu erwirken (BGE 134 V 162 E. 4.1 S. 164). Umgekehrt liegt in der Regel kein die Anwendung von Art. 10 Abs. 5 ATSV bzw. Art. 61 lit. b zweiter Satz ATSG ausschliessender Rechtsmissbrauch vor, wenn aufgrund der Sachlage eine rechtsgenügliche Einsprache- oder Beschwerdebegründung praktisch nicht ohne Aktenkenntnis möglich ist, die nicht rechtskundige versicherte Person, welche selber die Akten nicht besitzt, in gutem Glauben erst kurz vor Ablauf der Anfechtungsfrist einen Rechtsvertreter mandatiert, und diesem weder eine rechtzeitige Aktenbeschaffung noch eine sonstige hinreichende Beurteilung des Sachverhalts (z.B. aufgrund eines Instruktionsgesprächs mit dem Klienten) möglich ist. In solchen Fällen muss es als genügend erachtet werden, wenn der Anwalt oder die rechtskundige Person unverzüglich die Akten einholt und nach deren Eingang die innert Frist vorsorglich eingereichte Beschwerde mit einer Begründung ergänzt (BGE 134 V 162 E. 5.2 S. 168). Ob ein Missbrauchstatbestand gegeben ist oder nicht, beurteilt sich im Übrigen nach den konkreten Umständen (Urteile 8C_28/2011 vom 26. Mai 2011 E. 5 und 9C_248/2010 vom 23. Juni 2010 E. 3.3).
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4.2.2. Diese begrifflichen Umschreibungen helfen vorliegend nicht weiter, da der zu beurteilende Sachverhalt sich damit weder in diesem noch in jenem Sinne erfassen lässt. Das Gesuch um Zusendung sämtlicher Akten sowie um eine "Nachfrist von 30 Tagen zur Antragstellung und Begründung der hiermit erhobenen Einsprache" war nicht erst kurz vor Ablauf der nicht erstreckbaren Einsprachefrist am 16. Mai 2014, sondern bereits am ersten Tag der Frist am 2. April 2014 gestellt worden. Insbesondere konnte die Rechtsvertretung in diesem Zeitpunkt ohne Aktenkenntnis von vornherein keine bewusst mangelhafte Einsprache einreichen, um damit eine Nachfrist zur Begründung zu erwirken, wie der Beschwerdeführer vorbringt. Abgesehen davon hätte die Beschwerdegegnerin das Begehren ablehnen können und auch müssen, da die Voraussetzungen hierfür offensichtlich nicht gegeben waren. Stattdessen gewährte sie eine Nachfrist von zwei Wochen (17. bis 30. Mai 2016). Die vom Beschwerdeführer unter Hinweis auf den klaren Wortlaut von Art. 10 Abs. 5 ATSV bekundete Auffassung, eine Nachfrist hätte gleichsam von Amtes wegen selbst dann angesetzt werden müssen, wenn kein entsprechendes Gesuch gestellt worden wäre, "da die Einsprache vom 2. April 2014 keine Begründung enthielt", widerspricht Sinn und Zweck der Regelung (E. 4.1 hiervor) und führte im Ergebnis zu einer unzulässigen Verlängerung der nicht erstreckbaren Einsprachefrist (Art. 40 Abs. 1 ATSG). Das Argument, das Gesuch um Nachfristansetzung sei umsichtig im Sinne einer seriösen Mandatsführung gestellt worden, weil die damalige Rechtsvertretung nicht habe wissen können, wie lange es dauern würde, bis die Akten zugestellt würden, wurde mit dem effektiven Zugang der Unterlagen (auf CD) noch vor Beginn des Fristenstillstandes am 13. April 2014 hinfällig.
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4.3. Unter diesen Umständen kommt als Grundlage für die Rechtzeitigkeit der innerhalb der Nachfrist eingereichten (mit einem Antrag und einer Begründung versehenen) Einsprache vom 20. Mai 2014 einzig Treu und Glauben (Art. 9 BV; vgl. zur Abgrenzung von Art. 5 Abs. 3 BV Urteil 9C_52/2015 vom 3. Juli 2015 E. 2.1) in Betracht. Dazu hat die Vorinstanz erwogen, die damalige und auch die spätere Rechtsvertretung des Beschwerdeführers (Vollmachten vom 2. April bzw. 8. Mai 2014) hätten aufgrund ihrer Rechtskenntnisse nicht auf die unzulässige Nachfrist bzw. Fristverlängerung vertrauen dürfen. Die Einsprache vom 20. Mai 2014 sei daher verspätet und darauf wäre nicht einzutreten gewesen. Demgegenüber bringt der Beschwerdeführer vor, das Gesuch und die Gewährung der Fristerstreckung seien unter genauer Kenntnis des Sachverhalts beider Parteien erfolgt. Er und der Krankenversicherer seien davon ausgegangen, dass die Einsprache vom 2. April 2014 gültig erfolgt sei. Es wäre überspitzter Formalismus, wenn die Einsprache vom 2. April 2014 nicht als solche rechtsgültig und fristgerecht erhobene gewertet würde.
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4.3.1. Wird, da letztlich nicht entscheidend, ausser Acht gelassen, dass das Gesuch um Nachfrist von der damaligen Rechtsvertretung des Beschwerdeführers gestellt worden war, kann in Bezug auf Treu und Glauben als Grundlage für eine vom materiellen Recht abweichende Behandlung (BGE 121 V 65 E. 2a S. 66) sinngemäss die Rechtsprechung im Zusammenhang mit einer unrichtigen Belehrung über den Rechtsmittelweg oder die Rechtsmittelfrist herangezogen werden. Danach wird das Vertrauen einer anwaltlich vertretenen Partei in eine diesbezüglich fehlerhafte Angabe nicht geschützt, wenn eine "Grobkontrolle" durch Konsultierung der anwendbaren Verfahrensbestimmungen oder eine systematische Lektüre des Gesetzes genügte, um den Fehler zu erkennen. Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird (BGE 141 III 270 E. 3.3 S. 273; 138 I 49 E. 8.3.2 S. 53 mit Hinweisen; Urteil 8C_122/2013 vom 7. Mai 2013 E. 4.1).
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4.3.2. In ihrer Eingabe vom 2. April 2014 ersuchte die damalige Rechtsvertretung um Zusendung sämtlicher Akten sowie eine "Nachfrist von 30 Tagen zur Antragstellung und Begründung der hiermit erhobenen Einsprache". Diese Formulierung zeigt, dass ihr Art. 10 Abs. 5 ATSV (i.V.m. Art. 52 Abs. 1 ATSG; vgl. E. 2 hiervor) durchaus bekannt war. Rein nach dem Wortlaut dieser Verordnungsbestimmung waren die Voraussetzungen für die Einräumung einer Nachfrist gegeben (vgl. auch BGE 134 V 162 E. 2 S. 163, wonach ein klar bekundeter Einsprachewille grundsätzlich genügt). Der damaligen anwaltlichen Rechtsvertretung musste indessen auch bekannt sein, dass die Einsprachefrist als eine gesetzliche Frist nicht erstreckbar war (Art. 40 Abs. 1 ATSG), insbesondere eine allfällige Abwesenheit den Fristenlauf nicht hinderte, sondern lediglich unter ganz bestimmten - aufgrund der Akten hier allerdings nicht gegebenen - Voraussetzungen die Wiederherstellung einer versäumten Frist erlaubte (vgl. Art. 41 ATSG). Dabei handelt es sich um allgemeine Rechtsgrundsätze (Kathrin Amstutz/Peter Arnold, in: Basler Kommentar, Bundesgerichtsgesetz, 2. Aufl. 2011, N. 4 zu Art. 47 BGG; Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, Rz. 2 zu Art. 40 ATSG; BGE 117 Ia 297 E. 3c i.f. S. 301; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts K 54/82 vom 29. Juli 1983 E. 2a, in: RKUV 1984 Nr. K 577 S. 102). Demgemäss lief die Einsprachefrist unter Berücksichtigung des Fristenstillstands um Ostern am 16. Mai 2014 ab (E. 3 hiervor).
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Im Lichte der klaren Regelung der Fristen im ATSG kann Art. 10 Abs. 5 ATSV auch ohne Blick in die Rechtsprechung nur in dem Sinne verstanden werden, dass eine Nachfrist lediglich dann anzusetzen ist, wenn für die Behebung der Mängel nicht (mehr) genügend Zeit innerhalb der nicht erstreckbaren Einsprachefrist besteht. Diese Voraussetzungen waren vorliegend offensichtlich nicht gegeben. Nach Zustellung der Akten am 10. oder 11. April 2014 verblieben - die Zeit während des Fristenstillstands nicht mitgerechnet - noch mehr als zweieinhalb Wochen, um eine formgültige Einsprache einzureichen (E. 4.1 hiervor). Daraus folgt, dass der Beschwerdeführer bzw. seine (damalige und jetzige) anwaltliche Rechtsvertretung in ihrem Vertrauen in die gesetzwidrige Einräumung einer Nachfrist nicht zu schützen sind, wie die Vorinstanz richtig erkannt hat, was zur Abweisung der Beschwerde führt.
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5. Ausgangsgemäss wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 18. Mai 2016
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Glanzmann
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Der Gerichtsschreiber: Fessler
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