BGer 9C_229/2016 |
BGer 9C_229/2016 vom 23.11.2016 |
{T 0/2}
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9C_229/2016
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Urteil vom 23. November 2016 |
II. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
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Bundesrichterinnen Pfiffner, Moser-Szeless,
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Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
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Verfahrensbeteiligte |
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Walter Keller,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 10. Februar 2016.
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Sachverhalt: |
A. A.________, geboren 1970, Mutter zweier 2002 und 2005 geborener Kinder, ist seit 1. Januar 2006 als selbständige Physiotherapeutin tätig. Am 29. Mai 2009 meldete sie sich unter Hinweis auf ein Halswirbelsäulen-Trauma ("HWS-Trauma") nach Frontalkollision vom 27. Juli 2008 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch. Darüber hinaus zog sie die Akten der Unfallversicherung bei. Am 22. September 2009 teilte die IV-Stelle A.________ mit, es seien keine beruflichen Eingliederungsmassnahmen nötig, nunmehr werde der Rentenanspruch geprüft. In der Folge fand eine Abklärung bei A.________ zu Hause statt (Abklärungsbericht für Selbständigerwerbende vom 20. April 2011). Zusätzlich veranlasste die IV-Stelle eine polydisziplinäre Begutachtung im BEGAZ Begutachtungszentrum, Binningen (nachfolgend: BEGAZ), die am 24. Januar 2012 (psychiatrisch), 20. März 2012 (neurologisch) sowie am 11. Juni 2012 (psychiatrisch) erfolgte; das Gesamtgutachten datiert vom 10. Juli 2012. Nachdem der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) dazu am 27. August 2012 Stellung genommen hatte, erliess die IV-Stelle am 11. September 2012 einen leistungsabweisenden Vorbescheid (IV-Grad: 32,14 %). Dagegen liess A.________ Einwände erheben. Mit einem weiteren, nach zusätzlichen Abklärungen ergangenen Vorbescheid vom 8. November 2013 verneinte die IV-Stelle einen Leistungsanspruch, da es an einem relevanten Gesundheitsschaden fehle. Nach weiteren Einwänden von A.________ verfügte die IV-Stelle am 13. Februar 2014 entsprechend dem zweiten Vorbescheid.
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B. Die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 10. Februar 2016 ab.
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C. A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Zusprechung der gesetzlichen IV-Leistungen beantragen.
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Erwägungen: |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Mit Blick auf diese Kognitionsregelung ist auf Grund der Vorbringen in der Beschwerde an das Bundesgericht zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen (u.a.) Bundesrecht verletzt (Art. 95 lit. a BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob die vorinstanzlich geschützte Leistungsabweisung bundesrechtskonform erfolgte. Die massgeblichen Rechtsgrundlagen zur Invaliditätsbemessung und zur Prüfung einer Rentenberechtigung bei psychsomatischen und vergleichbaren Leiden (BGE 141 V 281) werden im angefochtenen Entscheid zutreffend dargelegt. Es kann darauf verwiesen werden.
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2.1. Das kantonale Gericht stellte in Würdigung des BEGAZ-Gutachtens fest, für die vorrangige Kopfschmerzproblematik habe klinisch-neurologisch kein organisches Substrat festgestellt werden können. In Anwendung der massgebenden Standardindikatoren gemäss BGE 141 V 281 gelangte es zum Schluss, die diagnoserelevanten Befunde seien mittelgradig ausgeprägt. Mit Blick auf die dokumentierten, recht konsequent verfolgten verschiedenen Therapieformen sei eine gewisse Behandlungsresistenz der Schmerzproblematik zu erkennen. Eine Komorbidität bestehe weder aus physischer noch aus psychischer Sicht. Die persönlichen und sozialen Ressourcen seien, unter Berücksichtigung des gut funktionierenden Familienlebens, der grundsätzlich positiven Einstellung und der psychischen Unauffälligkeit der Versicherten, intakt. In der Alltagsgestaltung inklusive Freizeit zeigten sich nur rudimentäre Einschränkungen. So habe die Beschwerdeführerin die sportlichen Aktivitäten etwas eingeschränkt und das Joggen durch Crosstraining ersetzt. Dass sich die Therapiebemühungen nunmehr auf die bedarfsgerechte Einnahme eines Schmerz- und eines Migränemittels beschränkten, deute an sich auf einen nicht besonders ausgeprägten Leidensdruck hin, könne aber auch Folge von zuletzt nicht mehr erfolgreich gewesenen Therapiebemühungen sein. Gesamthaft spreche namentlich das faktische Aktivitätsniveau mit praktisch inexistenter Anpassung der Alltagsaktivitäten gegen eine Unüberwindbarkeit der Schmerzproblematik.
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2.2. Die Beschwerdeführerin rügt im Wesentlichen, das kantonale Gericht habe die persistierenden Beschwerden zu Unrecht als somatoforme Schmerzstörung qualifiziert. Selbst wenn von einer Schmerzstörung auszugehen wäre, sei auch im Lichte von BGE 141 V 281 an der Schlüssigkeit der BEGAZ-Expertise nicht zu zweifeln. Die Vorinstanz habe zum einen die neue Schmerzrechtsprechung falsch angewendet und dieser zum andern offensichtlich unhaltbare Sachverhaltsfeststellungen zu Grunde gelegt. Willkürlich sei die Abweichung von der Beurteilung im BEGAZ-Gutachten.
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Eventualiter bringt die Versicherte vor, die Sachverhaltsfeststellungen bezüglich Qualifikation und zumutbarem Invalideneinkommen seien offensichtlich unhaltbar und schliesslich sei die Anwendung der gemischten Methode in der vorliegenden Konstellation nunmehr unzulässig.
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3. Die das rheumatologische Teilgutachten verfassende Dr. med. B.________, FMH Rheumatologie, diagnostizierte am 11. Juni 2012 ein persistierendes Zervikozephalsyndrom (mit/bei HWS-Distorsion Grad II nach Auffahrunfall, wechselnd stark ausgeprägtem myofaszialem Bild im Bereich der HWS und der schulterstabilisierenden Muskulatur und diskreter thoracal rechtskonvexer Skoliose sowie thorakalem Flachrücken). Sie führte aus, eine exakte Bemessung der Arbeitsfähigkeit bei einem vorwiegend muskulär bzw. myofaszial bedingten Schmerzsyndrom mit entsprechend variablen Befunden sei schwierig. Wesentliche strukturelle Veränderungen im Bereich der Hals- und Brustwirbelsäule bestünden nicht. Es sei jedoch durchaus nachvollziehbar, dass die teils körperlich belastende, teils mit längeren Zwangshaltungen verbundene Tätigkeit als Physiotherapeutin zu Schmerzexazerbationen führen könne. Die Belastungsgrenzen würden von der Versicherten adäquat geschildert, die aktuell 50 %ige Arbeitsfähigkeit scheine realistisch.
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Der Neurologe Dr. med. C.________, FMH Neurologie, diagnostizierte ein chronisches posttraumatisches Kopfschmerzsyndrom nach HWS-Distorsion (International Headache Society [IHS] Code 5.4) mit im Vordergrund stehendem cervicogenem Schmerz sowie intermittierenden migräniformen Exazerbationen. Es fänden sich keine Hinweise für massgebliche unfallfremde Faktoren, die Entwicklung des Schmerzsyndroms sei überwiegend wahrscheinlich unfallbedingt. Aus psychiatrischer Sicht konnte Dr. med. D.________, Spezialarzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, keine Beeinträchtigung feststellen.
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4.
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4.1. Die medizinischen Akten zeigen, und es wird im Übrigen auch von der Beschwerdeführerin nicht substantiiert in Abrede gestellt, dass die Kopfschmerzproblematik nicht auf ein hinreichendes organisches Korrelat zurückgeführt werden konnte (vorangehende E. 3). Soweit die Versicherte geltend macht, es sei aus der rheumatologisch attestierten Arbeitsfähigkeit von 50 % und aus der zweifelsfrei unfallbedingten, seit der Frontalkollision persistierenden Schmerzproblematik ohne Weiteres auf einen erheblichen Gesundheitsschaden zu schliessen, kann ihr nicht gefolgt werden. Das strukturierte Beweisverfahren nach BGE 141 V 281 knüpft nicht an eine fachärztlich attestierte erhebliche Arbeitsunfähigkeit an, sondern daran, dass ein Schmerzleiden nicht hinlänglich somatisch erklärbar ist (Urteil 9C_899/2014 vom 29. Juni 2015 E. 4.2.1, in: SVR 2015 IV Nr. 38 S. 121, mit Hinweis auf BGE 139 V 547 E. 7.1.3 S. 561 f.). Es findet im Übrigen auch sinngemäss Anwendung, wenn bei natürlich und adäquat unfallkausalen pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage der Anspruch auf eine Rente der obligatorischen Unfallversicherung zu beurteilen ist (BGE 141 V 574 E. 5.2 S. 581 f.). Die Rechtsprechung zu psychosomatischen und vergleichbaren Leiden (BGE 141 V 281) wurde im konkreten Fall zu Recht angewendet (vgl. auch Urteile U 328/06 vom 25. Juli 2007 E. 7.1, in: SVR 2008 UV Nr. 23, und 8C_680/2010 vom 4. Februar 2011 E. 3.2).
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4.2. |
4.2.1. Bezüglich der konkreten Indikatorenprüfung rügt die Beschwerdeführerin zunächst, die vorinstanzliche Feststellung einer mittelgradigen Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde sei unvereinbar mit der neuen Schmerzrechtsprechung und entstamme der "Schleudertrauma-Praxis". Auch dieser Einwand ist unbegründet, zumal die Ausprägung der diagnoserelevanten Befunde, also deren Schwere (z.B. Urteil 9C_168/2015 vom 13. April 2016 E. 4.1), als erster Indikator im Komplex Gesundheitsschädigung eine wesentliche Rolle spielt (BGE 141 V 281 E. 4.3.1.1). Nicht nachvollziehbar ist die Rüge, das kantonale Gericht habe aktenwidrig und willkürlich festgestellt, die verbliebene Schmerzproblematik lasse "eine gewisse Behandlungsresistenz" erkennen. Im angefochtenen Entscheid wurde korrekt als Indiz
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4.2.2. Inwiefern die vorinstanzliche Feststellung einer nur rudimentären Einschränkung in Alltag und Freizeit willkürlich sein soll, legt die Beschwerdeführerin nicht rechtsgenüglich dar. Die Vorinstanz hat für das Bundesgericht verbindlich festgestellt (E. 1 hievor), die Versicherte pflege weiterhin einen - (auch) ausserberuflich - aktiven Lebensstil (mit Hundespaziergängen, Essenszubereitung für sich und die Kinder, Erwerbs- und Hausarbeit, Fahrdiensten für die Kinder sowie mit sportlichen Aktivitäten). Die dokumentierten Konzessionen bei den sportlichen Freizeitaktivitäten (E. 2.1 hievor) lassen eindeutig nicht auf erhebliche Einschränkungen des Aktivitätsniveaus schliessen. Was schliesslich die vorinstanzlichen Erwägungen zum Leidensdruck betrifft, hat das kantonale Gericht wie dargelegt berücksichtigt, dass die Versicherte verschiedenste Therapieansätze durchaus konsequent verfolgt hatte, weshalb es auch zum Schluss kam, die nunmehr erfolgte Beschränkung auf bedarfsgerechte Einnahme eines Schmerz- und eines Migränemittels deute "an sich" auf einen nicht besonders ausgeprägten Leidensdruck hin, könne aber auch nachvollziehbare Folge der zuletzt nicht mehr erfolgreich gewesenen Therapiebemühungen sein. Von einer unsachlichen und unhaltbaren Entscheidbegründung kann keine Rede sein.
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5. Fehlt es an einem relevanten Gesundheitsschaden, erübrigen sich jegliche Weiterungen zur Methode der Invaliditätsbemessung und zu den für die Festsetzung des Invaliditätsgrades massgeblichen übrigen Parametern.
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6. Die Beschwerde ist abzuweisen und die Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 23. November 2016
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Präsidentin: Glanzmann
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Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle
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