BGer 8C_21/2018
 
BGer 8C_21/2018 vom 25.06.2018
 
8C_21/2018
 
Urteil vom 25. Juni 2018
 
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichterin Heine, Bundesrichter Wirthlin,
Gerichtsschreiber Jancar.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Remo Gilomen,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Bern, Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Teilerwerbstätigkeit, Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 20. November 2017 (200 17 4 IV).
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Die 1973 geborene A.________ erlitt am 8. Januar 2003 bei einem Velounfall u.a. ein Schädelhirntrauma. Am 24. März 2004 meldete sie sich bei der IV-Stelle Bern zum Leistungsbezug an. Diese sprach ihr mit Verfügung vom 17. Mai 2005 ab 1. Januar 2004 eine ganze Invalidenrente zu, wobei sie den Invaliditätsgrad von 72 % nach der gemischten Methode mit den Anteilen von 61 % Erwerb und von 39 % Haushalt ermittelte. Diese Rente bestätigte sie revisionsweise mit Mitteilungen vom 26. September 2008 und 25. Oktober 2013.
A.b. Am 10. Dezember 2013 gebar die Versicherte ihren zweiten Sohn. Am 7. November 2014 verfügte die IV-Stelle revisionsweise die Herabsetzung der ganzen Invalidenrente auf eine Dreiviertelsrente mit Wirkung ab dem ersten Tag des zweiten der Verfügungszustellung folgenden Monats; den Invaliditätsgrad von 62 % ermittelte sie nach der gemischten Methode mit Anteilen von je 50 % im Erwerb und Haushalt. Dies bestätigten das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. November 2015 und das Bundesgericht mit Urteil 8C_940/2015 vom 19. April 2016.
A.c. Nach der Geburt des dritten Sohnes der Versicherten am 15. September 2015 führte die IV-Stelle ein weiteres Rentenrevisionsverfahren durch. Mit Verfügung vom 17. November 2016 sprach sie ihr weiterhin eine Dreiviertelsrente zu, wobei sie den Invaliditätsgrad genau gleich wie am 7. November 2014 ermittelte.
B. Die gegen die Verfügung vom 17. November 2016 erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 20. November 2017 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei ihr ab 15. September 2015 eine ganze Invalidenrente auszurichten. Zudem verlangt sie die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Ein Schriftenwechsel wurde nicht angeordnet.
Erwägungen:
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1, Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen, die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Bei den aufgrund dieser Berichte getroffenen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit und bei der konkreten Beweiswürdigung geht es um Sachverhaltsfragen (nicht publ. E. 1 des Urteils BGE 141 V 585).
2. Das kantonale Gericht hat die rechtlichen Grundlagen betreffend die Erwerbsunfähigkeit (Art. 7 Abs. 1 ATSG), die Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG) sowie die Invaliditätsbemessung bei im Gesundheitsfall voll erwerbstätigen Versicherten nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG) und bei teilweise erwerbstätigen Versicherten nach der gemischten Methode (Art. 28a Abs. 3 IVG; BGE 141 V 15 E. 3 S. 20, 137 V 334, 133 V 504, 125 V 146) richtig dargelegt. Korrekt wiedergegeben hat es auch die Voraussetzungen des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 2 IVG) und der Rentenrevision (Art. 17 ATSG; BGE 141 V 9 E. 2.3 S. 10 und E. 6.1 S. 8, 134 V 131 E. 3 S. 132, 133 V 108). Gleiches gilt hinsichtlich der gestützt auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) in Sachen Di Trizio gegen die Schweiz (7186/09) vom 2. Februar 2016 ergangenen bundesgerichtlichen Rechtsprechung (E. 5.2.1 hiernach; BGE 143 I 50, 143 V 77 E. 3.2.2 S. 80; zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmtes Urteil 9C_358/2017 vom 2. Mai 2018 E. 4.2; vgl. auch IV-Rundschreiben Nr. 355 des BSV vom 31. Oktober 2016). Darauf wird verwiesen.
3. Streitig und zu prüfen ist, ob die von der IV-Stelle am 17. November 2016 verfügte und vorinstanzlich bestätigte Weiterausrichtung einer Dreiviertelsrente die EMRK, Bundesrecht oder kantonale verfassungsmässige Rechte verletzt (vgl. Art. 95 lit. a, b und c BGG).
Das kantonale Gericht erwog im Wesentlichen, ein Statuswechsel verbunden mit einer Herabsetzung der ganzen Invalidenrente auf eine Dreiviertelsrente sei bei der Beschwerdeführerin erfolgt, nachdem sie am 10. Dezember 2013 ihren zweiten Sohn geboren habe. Mit Verfügung vom 7. November 2014 habe die IV-Stelle nämlich nach der gemischten Methode die Anteile Erwerb und Haushalt nicht mehr - wie in der Verfügung vom 17. Mai 2005 - mit 61 % und 39 %, sondern mit je 50 % gewichtet. Dies sei letztinstanzlich vom Bundesgericht mit Urteil 8C_940/2015 vom 19. April 2016 bestätigt worden. Soweit die Beschwerdeführerin vorbringe, diese Revision sei im Sinne des EGMR-Urteils Di Trizio vom 2. Februar 2016 diskriminierend gewesen, könne dies nicht nochmals überprüft werden, da es sich um eine abgeurteilte Sache (res iudicata) handle. Weiter erwog das kantonale Gericht, im massgebenden Zeitraum seit der Verfügung vom 7. November 2014 bis zu derjenigen vom 17. November 2016 sei eine Veränderung lediglich mit der Geburt des dritten Sohnes der Beschwerdeführerin am 15. September 2015 eingetreten. Dies könne - vorbehältlich der gestützt auf das Urteil Di Trizio ergangenen Rechtsprechung - geeignet sein, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch der Beschwerdeführerin zu verändern. Sie habe allerdings im Rahmen der von der IV-Stelle veranlassten Haushaltsabklärung vom 22. September 2016 angegeben, dass es ihr bei hypothetisch guter Gesundheit wichtig wäre, Zeit mit den Kindern zu verbringen. Dabei könne sie sich aber eine halbtägige Arbeit vorstellen, wobei sie die Kinder in dieser Zeit einer Tagesmutter oder Kindertagesstätte überlassen würde. Korrekterweise sei die Abklärungsperson deshalb von einer unveränderten hypothetischen 50%igen Erwerbstätigkeit ausgegangen. Mangels eines Statuswechsels und einer daraus folgenden Methodenänderung sei die Geburt des dritten Sohnes damit von Vornherein kein Revisionsgrund, der sich auf den Rentenanspruch auswirke. Es sei gerade kein Sachverhalt eingetreten, wie er Grundlage des Di Trizio-Urteils gewesen sei. Unbeheflich sei der Einwand der Beschwerdeführerin, die IV-Stelle habe gegen des Gebot des fairen Verfahrens verstossen, indem sie mit dem Erlass der strittigen Verfügung vom 17. November 2016 zugewartet habe, obwohl die Geburt des dritten Sohnes bereits im September 2015 bekannt gewesen sei. Denn es sei nicht zu beanstanden, dass die IV-Stelle habe abwarten wollen, bis aus höchstrichterlicher Sicht definitiv Klarheit über den von ihr angenommenen Status von je 50 % Erwerb und Haushalt bestanden habe. So habe sie denn auch unmittelbar nach Vorliegen des bundesgerichtlichen Urteils 8C_940/2015 vom 19. April 2016 die Revision eingeleitet.
4. Die Beschwerdeführerin beanstandet erneut die Revisionsverfügung vom 7. November 2014. Sie rügt, dieser Statuswechsel mit nachfolgender Rentenherabsetzung sei allein aufgrund der Geburt ihres zweiten Sohnes im Jahre 2013 erfolgt. Die gemischte Methode hätte somit erst gar nicht angewendet werden dürfen. Das Urteil des EGMR in Sachen Di Trizio sei jedoch bedauerlicherweise erst später ergangen. In der Folge hätte die IV-Stelle aber die Diskrepanz zwischen der unveränderten Sachlage und der neuen Rechtsprechung zwingend beseitigen müssen. Da dies nicht geschehen sei, liege eine Verletzung des Willkürverbots nach Art. 9 BV vor.
Dem kann nicht gefolgt werden. Die Vorinstanz hat richtig erkannt, dass das Bundesgericht die Verfügung vom 7. November 2014 mit Urteil 8C_940/2015 vom 19. April 2016 bestätigte. In diesem Urteil hat es in E. 5 auf das EGMR-Urteil in Sachen Di Trizio Bezug genommen und entschieden, es könne offen bleiben, welche Auswirkungen dieses auf die Rechtsprechung des Bundesgerichts in Zukunft haben werde. Denn betreffend die Anwendung der gemischten Methode an sich erhebe die Beschwerdeführerin keine Diskriminierungsrüge (Art. 106 Abs. 2 BGG). Hinsichtlich der Verfügung der IV-Stelle vom 7. November 2014 liegt somit eine abgeurteilte Sache vor (sog. res iudicata; BGE 144 I 11 E. 4.2 S. 13), die nicht nochmals überprüft werden kann. Insoweit ist auf die entsprechenden Vorbringen in der Beschwerde nicht weiter einzugehen.
 
5.
5.1. Weiter bringt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, es sei unzulässig und willkürlich (Art. 9 BV) gewesen, dass die IV-Stelle mit Verfügung vom 17. November 2016 aufgrund der Geburt ihres dritten Sohnes am 15. September 2015 erneut die gemischte Methode angewendet habe. Das kantonale Gericht habe das bundesgerichtliche Urteil 8C_940/2015 vom 19. April 2016 bestätigt, ohne die geänderte Rechtslage gemäss dem EGMR-Urteil in Sachen Di Trizio vom 2. Februar 2016 zu beachten. Die Beibehaltung eines Status, der unter Anwendung der gemischten Methode ergangen und diskriminierend sei, sei nicht rechtens, insbesondere angesichts des dauernden Charakters der Leistung. Insgesamt würden Art. 17 ATSG, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 und Art. 14 BV, Art. 8 und Art. 14 EMRK sowie Art. 11 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 der Berner Kantonsverfassung verletzt.
 
5.2.
5.2.1. In Nachachtung des EGMR-Urteils in Sachen Di Trizio vom 2. Februar 2016 kann die gemischte Methode nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung bei Teilzeiterwerbstätigen keine Anwendung mehr finden, wenn allein familiäre Gründe, das heisst die Geburt eines Kindes und eine damit einhergehende Reduktion des Erwerbspensums, für einen Statuswechsel von "vollerwerbstätig" zu "teilerwerbstätig mit Aufgabenbereich" sprechen und die darauf beruhende neue Invaliditätsbemessung zu einer revisionsweisen Aufhebung oder Herabsetzung einer bis anhin gewährten Invalidenrente im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG führen würde (BGE 144 I 21 E. 4.2 S. 26; 143 I 50 und 60; 143 V 77 E. 3.2.2 S. 80; Urteil 8C_782/2016 vom 12. Oktober 2017 E. 3). In Fällen, die ausserhalb dieser Konstellation liegen, ist die Invalidität auch weiterhin nach der gemischten Methode zu ermitteln (BGE 143 I 50 E. 4.4 S. 60; SVR 2017 IV Nr. 53 S. 158, 9C_615/2016 E. 5.2; Urteil 8C_793/2017 vom 8. Mai 2018 E. 7.1).
5.2.2. Vorliegend ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin als Gesunde im massgebenden Vergleichszeitraum seit der Verfügung vom 7. November 2014 bis zu derjenigen vom 17. November 2016 je zu 50 % erwerbstätig und im Haushalt beschäftigt gewesen wäre. Aus diesem gleich gebliebene Status resultierte weder eine Aufhebung noch eine Herabsetzung der bisher ausgerichteten Dreiviertelsrente. Somit liegt keine Konstellation im Sinne der in E. 5.2.1 hiervor dargelegten Rechtsprechung vor. Demnach hat es die Vorinstanz zu Recht bei der Dreiviertelsrente belassen. Eine Verletzung der EMRK, von Bundesrecht oder von verfassungsmässigen kantonalen Rechten (Art. 95 lit. a-c BGG) liegt entgegen der Beschwerdeführerin somit nicht vor.
6. Aufmerksam zu machen ist die Beschwerdeführerin immerhin auf die am 1. Dezember 2017 beschlossene Änderung der IVV, in Kraft ab 1. Januar 2018 (vgl. AS 2017 7581 f.; vgl. auch Urteil 8C_588/2017 vom 22. Dezember 2017 E. 5). In diesem Rahmen wurde für Teilerwerbstätige, die sich zusätzlich im Aufgabenbereich Haushalt betätigen, in Art. 27 bis Abs. 2-4 IVV ein neues Berechnungsmodell statuiert. Nach der dazu ergangenen Übergangsbestimmung Ziff. II Abs. 1 ist für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung vom 1. Dezember 2017 laufenden Dreiviertelsrenten, halben Renten und Viertelsrenten, die in Anwendung der gemischten Methode zugesprochen wurden, innerhalb eines Jahres nach Inkrafttreten dieser Änderung eine Revision einzuleiten. Eine allfällige Erhöhung der Rente erfolgt auf den Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung.
Art. 27bis Abs. 2-4 IVV bereits auf den massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses a m 17. November 2016 anzuwenden liefe im Ergebnis auf eine Anwendung noch nicht in Kraft stehenden Rechts hinaus, was einer unzulässigen positiven Vorwirkung gleichkäme (vgl. dazu BGE 129 V 455 E. 3 S. 459 mit Hinweisen; Urteil 9C_553/2017 vom 18. Dezember 2017 E. 6.2).
7. Die unterliegende Versicherte trägt die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die unentgeltliche Rechtspflege kann ihr gewährt werden (Art. 64 BGG). Sie hat der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen. Rechtsanwalt Remo Gilomen wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 25. Juni 2018
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Maillard
Der Gerichtsschreiber: Jancar