BGer 9C_507/2018
 
BGer 9C_507/2018 vom 28.08.2018
 
9C_507/2018
 
Urteil vom 28. August 2018
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Matthias Gut,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 6. Juni 2018 (VV.2017.325/E).
 
Sachverhalt:
A. A.________ meldete sich im September 2014 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse (u.a. Gutachten MEDAS Interlaken Unterseen GmbH vom 10. August 2016) und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Thurgau mit Verfügung vom 13. Oktober 2017 eine halbe Rente ab 1. Februar 2016 zu.
B. Die Beschwerde der A.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 6. Juni 2018 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ zur Hauptsache, der Entscheid vom 6. Juni 2018 sei aufzuheben, und es sei festzustellen, dass sie ab 1. März 2013 Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 % habe; eventualiter sei die Sache zur erneuten Sachverhaltsfeststellung und Beurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
 
Erwägungen:
1. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (wie die Beweiswürdigung willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). In diesem Rahmen prüft es grundsätzlich frei, ob ein medizinisches Gutachten Beweiswert hat, d.h. den diesbezüglichen Anforderungen genügt (vgl. dazu BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; Urteil 9C_203/2018 vom 23. Juli 2018 E. 1 mit Hinweis).
2. Der Streit dreht sich um die Frage, ob die Beschwerdeführerin bereits ab 1. März 2013 und nicht erst ab 1. Februar 2015 Anspruch auf eine höhere als eine halbe Rente der Invalidenversicherung hat (Art. 107 Abs. 1 BGG).
3. Das kantonale Versicherungsgericht ist von einem Beginn der einjährigen Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG im Februar 2015 ausgegangen und hat folgerichtig aufgrund der IV-Anmeldung im September 2014 den Rentenbeginn auf den 1. Februar 2016 festgesetzt   (Art. 29 Abs. 1 und 3 IVG). Der Invaliditätsbemessung durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) hat es gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 10. August 2016, dem es Beweiswert zuerkannt hat, eine Arbeitsfähigkeit von 50 % in der angestammten Bürotätigkeit und in jeder anderen angepassten Tätigkeit zugrundegelegt. Den Invaliditätsgrad hat es ebenfalls auf 50 % beziffert, was Anspruch auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG).
4. 
4.1. Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass der Rentenanspruch erst im Februar 2016 entstanden sei. Ihre Vorbringen setzen sich indessen mit keinem Wort mit den diesbezüglichen Erwägungen im angefochtenen Entscheid auseinander, womit es sein Bewenden hat (Art. 42 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176).
4.2. Weiter wendet sich die Beschwerdeführerin gegen die Annahme, ab Februar 2016 habe ohne wesentliche Unterbrechung eine Arbeitsfähigkeit von 50 % bestanden. Das MEDAS-Gutachten sei (auch) insofern nicht beweiskräftig.
4.2.1. Das kantonale Versicherungsgericht hat u.a. festgestellt, auch die Psychiatrische Klinik B.________ bzw. die Externen Psychiatrische Dienste seien, mit Ausnahme der Zeit während den Spitalaufenthalten, von einer verwertbaren Restarbeitsfähigkeit ausgegangen. Die Klinikaufenthalte seien den Experten bekannt gewesen, was auf die Behandlungen vom 27. Mai bis 16. Juni 2016 und vom 7. Juli bis 25. September 2016 sowie diejenige im tagesstationären Rahmen ab 26. September bis 4. November 2016 indessen nicht zutrifft.
4.2.2. Bestand gemäss dem MEDAS-Gutachten im Zeitraum von Februar 2015 bis Februar 2016 eine vollständige Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Sachbearbeiterin Büro/KV, und ist für die Zeit vom 7. Juli bis 4. November 2016 von einer höheren Arbeitsfähigkeit als 50 % auszugehen, konnte nach Art. 88a Abs. 2 IVV ein höherer Rentenanspruch entstanden sein (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 11/00 vom 22. August 2001 E. 3, in: SVR 2002 IV Nr. 8  S. 19). Wie das kantonale Versicherungsgericht indessen in E. 3.4 des angefochtenen Entscheids dargelegt hat, lässt sich dem Austrittsbericht vom 8. November 2016 nichts entnehmen, was für eine höhere Arbeitsunfähigkeit als 50 % in diesem Zeitraum sprechen könnte. Was die Beschwerdeführerin hiegegen vorträgt, vermag die vorinstanzliche Verneinung einer höheren als 50 %-igen Arbeitsunfähigkeit nicht als offensichtlich unrichtig oder sonstwie bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen.
4.3. Sodann macht die Beschwerdeführerin geltend, das Valideneinkommen sei auf der Grundlage des durchschnittlichen Verdienstes der Jahre 2009 bis 2013 zu ermitteln.
4.3.1. Das kantonale Versicherungsgericht hat erwogen, die Beschwerdeführerin sei in ihrer angestammten Tätigkeit zu 50 % arbeitsfähig. Der Invaliditätsgrad betrage daher ebenfalls 50 %, da beim Valideneinkommen und beim Invalideneinkommen auf die gleichen Werte abzustellen sei. Der Umstand allein, dass (auch) in der angestammten Tätigkeit eine Arbeitsfähigkeit von 50 % besteht, genügt indessen nicht, um von der Regel abzuweichen, wonach das Valideneinkommen dem letzten vor Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung erzielten, der Teuerung sowie der realen Einkommensentwicklung angepassten Verdienst gleichzusetzen ist (BGE 139 V 28 E. 3.3.2 S. 30). Aus dem Urteil 9C_675/2016 vom 18. April 2017 E. 3. 2, worauf das kantonale Versicherungsgericht in diesem Zusammenhang hinweist, ergibt sich nichts anderes.
4.3.2. Die Validenkarriere der Beschwerdeführerin war seit dem Jahr 2000 gekennzeichnet durch häufige Stellenwechsel, kurze Zeiten von Arbeitslosigkeit sowie die gleichzeitige Ausübung mehreren Tätigkeiten. Ein Abstellen auf den Verdienst bei einem bestimmten Arbeitgeber, namentlich beim C.________, wo sie vom........ 2012 bis........ 2013 und vom........ bis........ 2013 tätig war, fällt damit ausser Betracht. Wird auf den Durchschnittsverdienst mehrerer Jahre abgestellt, was voraussetzt, dass die Stellenwechsel nicht in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen erfolgten, haben allfällige Arbeitslosenentschädigungen unberücksichtigt zu bleiben.
4.3.3. Gemäss dem IK-Auszug vom 25. September 2014 verdiente die Beschwerdeführerin in den Jahren 2008 bis 2012 im Durchschnitt   Fr. 75'451.-. Angepasst an die Nominallohnentwicklung 2010 bis 2016 ergibt sich ein Valideneinkommen von Fr. 78'909.50. Wird dieser Betrag dem auf tabellarischer Grundlage ermittelten Invalideneinkommen von Fr. 37'517.75 in der Verfügung vom 13. Oktober 2017 gegenüberstellt, ergibt sich ein Invaliditätsgrad von rund 52 %.
4.4. Schliesslich bringt die Beschwerdeführerin vor, aufgrund der eingeschränkten Feinmotorik der Hände als Folge der Polyarthritis und der psychischen Beeinträchtigungen, seien alle typischen Arbeiten im Büro wie solche am PC, Telefonieren, Ablage, Kundenempfang, Kundengespräche nicht möglich. Es komme dazu, dass der psychisch bedingte erhöhte Pausenbedarf, ein verlangsamtes Arbeitstempo sowie eine nur eingeschränkte Belastbarkeit von den Gutachtern der MEDAS offensichtlich vergessen worden seien. Eine Bürotätigkeit sei praktisch unmöglich, ebenso "die Aufnahme einer Arbeit im ersten Arbeitsmarkt".
4.4.1. Das kantonale Versicherungsgericht ist, ohne explizit auf die nämlichen Vorbringen in der Beschwerde einzugehen, von einer vollen Verwertbarkeit der Restarbeitsfähigkeit von 50 % in einer angepassten Bürotätigkeit sowie in jeder anderen adaptierten Tätigkeit auf dem (hypothetischen) ausgeglichenen Arbeitsmarkt (vgl. dazu BGE 134 V 64 E. 4.2.1 S. 70) ausgegangen. Es seien keine Faktoren ersichtlich, welche die Verwertbarkeit zusätzlich erschweren würden. Dabei verwies es auf die angefochtene Verfügung, wo die Beschwerdegegnerin festhielt, ein Abzug (vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75) wegen leidensbedingten Einschränkungen sei nicht angezeigt, da diese bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit bereits miteingeschlossen seien. Zudem seien keine Hinweise ersichtlich, wonach der Versicherten lediglich noch Hilfsarbeitertätigkeiten möglich sein sollten.
4.4.2. Die Gutachter der MEDAS führten unter den Diagnosen mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit im Wesentlichen eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ (ICD-10 F 60.31), eine Polyarthrose vom schubartig entzündlichen aktiven Typ vor allem der kleinen akralen Gelenke der oberen Extremität sowie ein intermittierendes Lumbovertebralsyndrom bei Facettengelenksreizung L5/S1 an. Sie schätzten die Arbeitsfähigkeit ab Februar 2016 auf 50 % in der bisherigen Tätigkeit (Sachbearbeitung, Büro/KV) und, "gesamthaft (...) überwiegend aus psychiatrischer Ursache", auch in einer angepassten Tätigkeit.
4.4.2.1. In der Konsensbeurteilung hielten die Experten unter "V. Konsistenz" fest, es habe sich eine ungestörte Beweglichkeit der Finger und eine gute Fingermotorik gezeigt. Allerdings habe die Untersuchung bei warmem Sommerwetter stattgefunden, und es habe sich lediglich um kurzdauernde Bewegungsabläufe gehandelt, z.B. Sortieren und Entnehmen von Papierblättern aus einem Aktenordner. Ebenfalls habe die Versicherte über das problemlose Entnehmen und Reinigen ihrer zahlreichen Ohrstecker berichtet. Das spreche nicht grundsätzlich gegen die beklagten Beschwerden, da die Fingerpolyarthrose durchaus im Schub und je nach Belastung und Temperaturen wechselnd verlaufen könne. Im rheumatologischen (Teil-) Gutachten vom 24. Mai 2016 wurde in der angestammten Tätigkeit eine Einschränkung von maximal 20 % festgehalten, bedingt durch einen vermehrten Pausenbedarf (zur Sicherstellung/Ermöglichung der Ausführung von Lockerungs-, Dehnungs- und Entspannungsübungen) und/oder ein verlangsamtes Arbeitstempo (allenfalls als Folge der Einhaltung ergonomischer Empfehlungen). Hinsichtlich einer Verweistätigkeit wurde keine Angabe zur Arbeitsfähigkeit (in Prozenten) gemacht. Bei der Umschreibung des Belastungsprofils wurde u.a. ausgeführt, dass die Exposition für Wechseltemperaturen prinzipiell vermieden werden sollte. Werkzeuge, Griffe, Knöpfe, Bedienelemente oder Ähnliches sollten bestmöglichen ergonomischen Empfehlungen entsprechend gestaltet und angepasst werden. Allenfalls könnten situativ Hilfsmittel im Gebrauch der Hände zum Einsatz kommen.
Die Gutachter trugen somit der Polyarthrose der Finger bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit (zeitlicher Umfang, Belastungsprofil, Leistungsfähigkeit) Rechnung. Unter diesen Umständen sind die Vorbringen der Beschwerdeführerin nicht geeignet, die von der Vorinstanz insoweit bejahte grundsätzliche Verwertbarkeit der verbliebenen Arbeitsfähigkeit als bundesrechtswidrig erscheinen zu lassen.
4.4.2.2. Im psychiatrischen Teilgutachten vom 10. Juni 2016 wurde eine Arbeitsunfähigkeit von etwa 50 % im erlernten Beruf KV und 40 % in einer anderen angepassten Tätigkeit hauptsächlich bedingt durch die emotional instabile Persönlichkeitsstörung, Borderline-Typ (ICD-10 F60.31) angegeben. Das bedeutet, dass aus interdisziplinärer Sicht die rheumatologisch bedingte Arbeitsunfähigkeit nicht dazu zu zählen war. Die diesbezüglichen gesundheitlichen Beeinträchtigungen führten somit gemäss den Experten zu keiner zusätzlichen Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit, sondern schränkten lediglich das Anforderungs- und Belastungsprofil aus psychiatrischer Sicht weiter ein, was indessen einen behinderungs- bzw. leidensbedingten Abzug vom Tabellenlohn (noch) nicht rechtfertigt (vgl. Urteil 9C_796/2013 vom 28. Januar 2014 E. 3.1.1).
4.5. Nach dem Gesagten verletzt der angefochtene Entscheid kein Bundesrecht. Die Beschwerde ist unbegründet.
5. Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Sie hat indessen der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und Rechtsanwalt Dr. iur. Matthias Gut wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, einstweilen indessen auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 28. August 2018
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler