BGer 9C_595/2018
 
BGer 9C_595/2018 vom 26.11.2018
 
9C_595/2018
 
Urteil vom 26. November 2018
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Philip Stolkin,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
vom 10. Juli 2018 (IV.2017.00336).
 
Sachverhalt:
A. A.________ meldete sich im Januar 2014 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug, Berufliche Integration/Rente, an. Nach Abklärungen (u.a. rheumatologisch-psychiatrisches Gutachten der MEDAS Zentralschweiz vom   29. August 2016, veranlasst durch den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Oktober 2015) und nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle des Kantons Zürich mit Verfügung vom 16. Februar 2017 den Anspruch der Versicherten auf IV-Leistungen, insbesondere eine Rente.
B. Die Beschwerde der A.________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nach Einholung von Stellungnahmen der Gutachter vom 27. November und 12. Dezember 2017 zu den im Einwand gegen den Vorbescheid formulierten Ergänzungsfragen mit Entscheid vom 10. Juli 2018 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 10. Juli 2018 sei aufzuheben und die Sache zur Neuabklärung an die Vorinstanz zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
1. Der angefochtene Entscheid verneint in Bestätigung der Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 16. Februar 2017 den Anspruch der Beschwerdeführerin auf Leistungen der Invalidenversicherung, insbesondere eine Rente. Die dagegen gerichtete Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, womit die Aufhebung dieses Erkenntnisses und Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zur Neuabklärung (und zu neuer Entscheidung) beantragt wird, ist zulässig, da das Bundesgericht ohnehin nicht reformatorisch entscheiden könnte (vgl. E. 4; Art. 107 Abs. 2 BGG und BGE 136 V 131 E. 1.2 S. 135).
2. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (wie die Beweiswürdigung willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). In diesem Rahmen prüft es grundsätzlich frei, ob ein medizinisches Gutachten Beweiswert hat, d.h. den diesbezüglichen (formellen und materiellen) Anforderungen genügt (Urteil 9C_507/2018 vom 28. August 2018 E. 1 mit Hinweisen).
3. Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat dem bidisziplinären MEDAS-Gutachten vom 29. August 2016 insbesondere unter Berücksichtigung der ergänzenden Stellungnahmen des rheumatologischen und des psychiatrischen Experten vom 27. November und 12. Dezember 2017 Beweiswert zuerkannt. Die Mitwirkungsrechte der Versicherten seien zwar verletzt worden, indem ihr Rechtsvertreter von der Begutachtung erst nach Vorliegen der Expertise im Rahmen der Akteneinsicht nach ergangenem Vorbescheid erfahren habe. Der Mangel könne jedoch als geheilt gelten, zumal ihre Ergänzungsfragen im Einwand gegen den Vorbescheid im Sinne der Vervollständigung des medizinischen Sachverhalts im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren den Gutachtern zur Beantwortung unterbreitet worden seien. Gestützt auf deren Einschätzung, wonach in der angestammten und auch in einer anderen Tätigkeit von einer vollständigen Arbeitsfähigkeit auszugehen sei, sei ein IV-relevanter Gesundheitsschaden zu verneinen (vgl. BGE 105 V 139 E. 1b S. 141). Es drängten sich somit auch bezüglich der Frage von Eingliederungsmassnahmen keine Weiterungen auf. Die angefochtene Verfügung sei daher zu bestätigen.
4. Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass die Verletzung ihrer Mitwirkungsrechte im Zusammenhang mit dem Administrativgutachten vom 29. August 2016 heilbar ist.
4.1. Nach Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 42 Satz 1 ATSG haben die Parteien Anspruch auf rechtliches Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheides dar, welcher in die Rechtsstellung des Betroffenen eingreift. Dazu gehört insbesondere das Recht, sich vorgängig zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und sich zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, die Entscheidung zu beeinflussen (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 618/04 vom  20. September 2006 E. 4.1). Der Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst als Mitwirkungsrecht somit alle Befugnisse, die einer Partei einzuräumen sind, damit sie in einem Verfahren ihren Standpunkt wirksam zur Geltung bringen kann. Wie weit dieses Recht geht, lässt sich nicht in allgemeiner Weise, sondern nur unter Würdigung der konkreten Umstände sagen (BGE 144 I 11 E. 5.3 S. 17).
Nach der Rechtsprechung kann selbst eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs geheilt werden, wenn und soweit die Rückweisung zu einem formalistischen Leerlauf und damit zu unnötigen Verzögerungen führen würde, die mit dem (der Anhörung gleichgestellten) Interesse der betroffenen Partei an einer beförderlichen Beurteilung der Sache nicht zu vereinbaren wären. Voraussetzung ist, dass die heilende Instanz selber in Bezug auf die vom Gehörsmangel betroffenen Aspekte die gleiche Kognition hat wie die untere Instanz (BGE 136 V 117 E. 4.2.2.2 S. 126). Unter diesen Umständen kann sogar eine Pflicht zur Heilung im Rechtsmittelverfahren bestehen (Urteil I 706/06 vom 1. September 2008 E. 4.2.1 mit Hinweisen, u.a. auf BGE 132 V 387 E. 5.1-2 S. 390).
4.2. Das kantonale Sozialversicherungsgericht hat im Zusammenhang mit der unbestrittenen Verletzung der Mitwirkungsrechte der Beschwerdeführerin bei der Anordnung der Begutachtung im Wesentlichen erwogen, es könne sowohl den Sachverhalt als auch die Rechtslage frei überprüfen (mit Hinweis auf BGE 137 I 195 E. 2.3.2 S. 197; vgl. auch Art 110 BGG i.V.m. Art. 62 Abs. 1 ATSG). Daher sei der Mangel, nicht bereits vorgängig sich zu den Gutachtensfragen äussern und Ergänzungsfragen stellen zu können, einer Heilung zugänglich. Darüber hinaus ziele ihr Rechtsvertreter mit seinen Ergänzungsfragen im Einwand gegen den Vorbescheid nicht auf die formell korrekte Durchführung des Abklärungsverfahrens ab, sondern stelle (lediglich) das psychiatrische (Teil-) Gutachten vom 23. Juni 2016 in Frage, was im Rahmen der Beweiswürdigung zu prüfen sei.
 
4.3.
4.3.1. Nach der Rechtsprechung gelten die rechtsstaatlichen Anforderungen bei polydisziplinären Gutachten, u.a. bezüglich der Partizipationsrechte, sinngemäss auch bei mono- und bidisziplinären medizinischen Begutachtungen (BGE 139 V 349 E. 5.4 S. 357). Weil hier die zufallsbasierte Zuweisung zu einer Gutachterstelle nicht zur Anwendung gelangt, ist die Beachtung der Verfahrensgarantien bei mono- und bidisziplinären Expertisen umso wichtiger (Urteil 8C_557/2014 vom 18. November 2014 E. 5.2.1). Zu diesen Garantien gehört namentlich das Recht der versicherten Person zur vorgängigen Fragestellung (BGE 139 V 349 E. 5.1, 5.2.3 und 5.4 S. 354 ff.). Ziel dieser Mitwirkungsmöglichkeit ist eine einzelfalladäquate Fragestellung, welche zur Qualität des Gutachtens wesentlich beiträgt (BGE 137 V 210 E. 3.4.2.9 S. 258). Dies bedeutet umgekehrt, dass allfällige Fragen der versicherten Person nicht unbesehen ihrer Quantität und Qualität den Experten zur Beantwortung vorzulegen sind. Vielmehr darf sich der Versicherungsträger oder das kantonale Versicherungsgericht darauf beschränken, lediglich die für den Einzelfall erheblichen Fragen weiterzuleiten (Urteil 8C_386/2014 vom 6. Oktober 2014 E. 4.3).
4.3.2. In beiden Fällen der vorgängigen oder nachträglichen Fragestellung geht es letztlich um dasselbe, nämlich die Qualität des Gutachtens und damit die Tragfähigkeit der tatsächlichen Entscheidungsgrundlage zu erhöhen. Es besteht indessen ein wesentlicher Unterschied, was die Schwere und damit die Heilbarkeit eines diesbezüglichen Mangels im Beschwerdeverfahren anbetrifft. Die nachträgliche Fragestellung betrifft in erster Linie das Recht der versicherten Person, sich zum Beweisergebnis zu äussern. Dabei geht es hauptsächlich darum, dass unklare Aussagen im Gutachten erläutert und präzisiert, offen gebliebene Fragen beantwortet und (scheinbare) Widersprüche aufgelöst werden. Demgegenüber steht bei der vorgängigen Fragestellung der Gesichtspunkt der Waffengleichheit und damit der Verfahrensfairness (mehr) im Vordergrund. In gleicher Weise wie die IV-Stelle soll die versicherte Person, gegebenenfalls zusammen mit ihrer Rechtsvertretung und allenfalls nach Rücksprache mit den behandelnden Ärzten oder ihrem Hausarzt die aus ihrer Sicht für die Beurteilung des Leistungsanspruchs bedeutsamen Fragen vorgängig den Gutachtern stellen können. Diese Möglichkeit besteht nach Vorliegen der Expertise nicht mehr in dieser Form, wie die Beschwerdeführerin sinngemäss geltend macht, wenn sie rügt, der Grundsatz der Waffengleichheit sei verletzt, "da die Ergänzungsfragen in der Form, wie sie das Sozialversicherungsgericht [eineinhalb Jahre nach der Begutachtung] gestellt hat, nicht mehr effektiv im Sinne von Art. 6 EMRK waren".
4.3.3. Der Mangel, dass der Versicherten und ihrem Rechtsvertreter nicht Gelegenheit gegeben wurde, den beiden Fachärzten der Medizinischen Abklärungsstelle im Rahmen der Auftragserteilung Fragen zu stellen, wiegt nicht leicht. Nachträglich Fragen zu formulieren, welche vor der Begutachtung gestellt werden wollten, wie wenn diese noch nicht stattgefunden hätte und das Gutachten nicht verfasst worden wäre, erscheint denn auch schwierig. Allerdings kann es nicht genügen, überhaupt nichts dazu zu sagen und lediglich (eigentliche) Ergänzungsfragen zur Expertise zu stellen, wie das die Beschwerdeführerin im Einwand gegen den Vorbescheid tat. Unter diesen Umständen durfte das kantonale Sozialversicherungsgericht, ohne in Willkür zu verfallen (E. 2), davon ausgehen, es gehe ihr nicht (in erster Linie) um die formell korrekte Durchführung des Abklärungsverfahrens, sondern (lediglich) darum, das psychiatrische (Teil-) Gutachten in Frage zu stellen (E. 4.2). Der daraus gezogene Schluss, der Mangel sei mit den Stellungnahmen der Experten vom 27. November und 12. Dezember 2017 zu den Ergänzungsfragen geheilt, verletzt kein Bundesrecht.
4.4. Die Vorbringen gegen die Stellungnahme des psychiatrischen Gutachters zu den Ergänzungsfragen sind nicht stichhaltig. Die Tatsache, dass keine neue Befragung der Versicherten stattfand, ist kein Grund, den Antworten des Gutachters keine Beweiskraft zuzuerkennen. Keine der gestellten Fragen (z. B. "1. Diagnose? [...] 6. Ist es normal, dass innerhalb einer 3.5 stündigen Exploration mindestens 3 Mal geweint wird ?" [...]) bedingte eine neue Untersuchung der Beschwerdeführerin, zumal ihre Einwände keine Aussagen zu einer allfälligen Verschlechterung ihres Zustandes seit der Begutachtung enthielten. Gleiches gilt in Bezug auf die Kritik, eine zeitliche Differenz von eineinhalb Jahren zwischen dem Gutachten und den Stellungnahmen zu den Ergänzungsfragen fielen ins Gewicht.
4.5. Die Beschwerde ist unbegründet.
5. Ausgangsgemäss wird die Beschwerdeführerin grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Sie hat indessen der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
 
 Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und Rechtsanwalt Philip Stolkin wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, einstweilen indessen auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4. Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.- ausgerichtet.
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 26. November 2018
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler