BGer 8C_156/2019 |
BGer 8C_156/2019 vom 11.09.2019 |
8C_156/2019 |
Urteil vom 11. September 2019 |
I. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter Maillard, Präsident,
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Bundesrichter Wirthlin, Abrecht,
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Gerichtsschreiber Nabold.
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Verfahrensbeteiligte |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle Solothurn,
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Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
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vom 29. Januar 2019 (VSBES.2018.82).
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Sachverhalt: |
A. Die 1988 geborene A.________ meldete sich am 8. Mai 2009 unter Hinweis auf Schulterbeschwerden bei der IV-Stelle Solothurn zur Früherfassung und am 12. Juni 2009 zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle sprach ihr ein Job-Coaching zu, verneinte indessen mit Verfügung vom 19. März 2010 einen Anspruch auf weitergehende berufliche Massnahmen oder auf Ausrichtung einer Invalidenrente.
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Am 23. August 2010 meldete sich A.________ unter Hinweis auf einen Velounfall erneut zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle sprach ihr mit Verfügung vom 15. März 2011 unter anderem eine Umschulung zur "Kauffrau E" zu. Für die Zeit vom 1. August 2012 bis 31. Juli 2013 war im Rahmen dieser Umschulung ein Praktikum vorgesehen; dieses wurde indessen per 16. November 2012 abgebrochen. Mit Vorbescheid vom 25. März 2013 stellte die Verwaltung A.________ die Abweisung ihrer Leistungsbegehren auf (weitere) berufliche Massnahmen und auf Ausrichtung einer Invalidenrente in Aussicht. Nachdem die Versicherte Einwände erhoben hatte, lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 24. Juli 2013 das Begehren um Ausrichtung einer Rente ab, sprach der Versicherten jedoch berufliche Massnahmen in Form einer Arbeitsvermittlung zu.
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Am 9. Januar 2014 wandte sich A.________ per E-Mail an den ihr zugeteilten Eingliederungsfachmann und ersuchte um eine Besprechung des weiteren Vorgehens. Diese E-Mail blieb offenbar unbeantwortet; der nächste Kontakt von A.________ mit der IV-Stelle erfolgte erst am 3. Juli 2017, als die Versicherte um eine Standortsanalyse ersuchte und darauf hinwies, es sei ihr gelungen, sich selbstständig in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Am 23. August 2017 fand bei der IV-Stelle ein "Erstgespräch" statt, wobei die Versicherte um Klärung ersuchte, ob ihre mittlerweile abgeschlossene Ausbildung zur systemischen Arbeitsagogin von der Invalidenversicherung übernommen werde. Tags darauf gingen bei der IV-Stelle verschiedene Unterlagen in diesem Zusammenhang ein. Daraufhin lehnte die IV-Stelle nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens das Gesuch der A.________ um rückwirkende Kostenübernahme der betreffenden Ausbildung mit Verfügung vom 7. Februar 2018 ab.
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B. Die von A.________ erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 29. Januar 2019 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt A.________ beantragen, die IV-Stelle sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides zu verpflichten, die Kosten für die Umschulung zur systemischen Arbeitsagogin zu übernehmen.
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Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: |
1. |
1.1. Die Voraussetzungen der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten sind grundsätzlich gegeben (Art. 82 lit. a, Art. 83
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1.2. Das Bundesgericht wendet das (Bundes-) recht von Amtes wegen (Art. 106 Abs. 1 BGG; BGE 143 V 19 E. 2.3 S. 23 f.) und mit uneingeschränkter (voller) Kognition an (Art. 95 lit. a BGG; BGE 141 V 234 E. 2 S. 236). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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1.3. Das Bundesgericht kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Überdies muss die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein (Art. 97 Abs. 1 BGG).
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Die beschwerdeführende Partei, welche die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz anfechten will, muss substanziiert darlegen, inwiefern die Voraussetzungen einer Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das Verfahren bei rechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen wäre; andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 140 III 16 E. 1.3.1 S. 18 mit Hinweisen).
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2. Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht Bundesrecht verletzt hat, als es in Bestätigung einer Verfügung der IV-Stelle einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf rückwirkende Kostenübernahme für die Ausbildung der Versicherten zur systemischen Arbeitsagogin durch die Invalidenversicherung verneinte.
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3. |
3.1. Die versicherte Person hat gemäss Art. 17 Abs. 1 IVG Anspruch auf Umschulung auf eine neue Erwerbstätigkeit, wenn die Umschulung infolge Invalidität notwendig ist und dadurch die Erwerbsfähigkeit voraussichtlich erhalten oder verbessert werden kann. Dieser Anspruch entsteht nach Art. 10 Abs. 1 IVG (in der seit 1. Januar 2008 in Kraft stehenden Fassung) frühestens mit der Geltendmachung des Leistungsanspruchs nach Art. 29 Abs. 1 ATSG (Anmeldung). Wird eine Anmeldung nicht formgerecht eingereicht, so ist für die Einhaltung der Fristen und für die an die Anmeldung geknüpften Rechtswirkungen trotzdem der Zeitpunkt massgebend, in dem sie der Post übergeben oder bei der unzuständigen Stelle eingereicht wird (Art. 29 Abs. 3 ATSG).
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3.2. Meldet sich die versicherte Person nach einer rechtskräftigen Leistungsablehnung erneut zum Leistungsbezug an, so hat sie glaubhaft zu machen, dass sich die massgeblichen tatsächlichen Verhältnisse seit der letzten leistungsablehnenden Verfügung geändert haben. Im Verfahren der Neuanmeldung kommt der Untersuchungsgrundsatz (Art. 43 Abs. 1 bzw. Art. 61 lit. c ATSG) erst zum Tragen, nachdem der versicherten Person diese Glaubhaftmachung gelungen ist (BGE 130 V 64 E. 5.2.5 S. 68 f.; Urteil 8C_389/2018 vom 8. Januar 2019 E. 3.2).
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3.3. Inhalt und Tragweite einer Verfügung ergeben sich in erster Linie aus dem Dispositiv. Ist das Verfügungsdispositiv unklar, unvollständig, zweideutig oder widersprüchlich, so muss die Unsicherheit durch Auslegung behoben werden. Zu diesem Zweck kann auf die Begründung der Verfügung zurückgegriffen werden. Verwaltungsverfügungen sind nicht nach ihrem bisweilen nicht sehr treffend verfassten Wortlaut, sondern - vorbehältlich des Vertrauensschutzes - nach ihrem wirklichen rechtlichen Bedeutungsgehalt zu verstehen (BGE 141 V 255 E. 1.2 S. 257; 132 V 74 E. 2 S. 76; 120 V 496 E. 1a S. 497; Urteile 9C_727/2010 vom 27. Januar 2012 E. 2.2, nicht publ. in: BGE 138 V 23, aber in: SVR 2012 EL Nr. 13 S. 40; 9C_472/2016 vom 29. November 2016 E. 4.2; 9C_774/2010 vom 16. August 2011 E. 2.2). Eine Verfügung darf nur so ausgelegt werden, wie sie der Empfänger aufgrund aller Umstände, die ihm im Zeitpunkt der Eröffnung bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen, in guten Treuen verstehen durfte und musste (BGE 115 II 415 E. 3a S. 421; Urteil 1A.42/2006 vom 6. Juni 2006 E. 2.3 sowie 8C_652/2016 vom 21. Februar 2017 E. 4.3).
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4. |
4.1. Das kantonale Gericht hat zunächst erwogen, ein Umschulungsanspruch der Versicherten sei von der IV-Stelle bereits mit Verfügung vom 24. Juli 2013 verneint worden. Entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin ist diese Auslegung der Verfügung nicht bundesrechtswidrig und widerspricht insbesondere nicht dem Grundsatz, wonach Verfügungen nach Treu und Glauben auszulegen sind; ebenso wenig beruht sie auf einer offensichtlich unrichtigen Tatsachenfeststellung. Zwar trifft es zu, dass bei rein formalistischer Betrachtung einzig des Dispositivs der Verfügung der Umschulungsanspruch als von diesem nicht mitumfasst interpretiert werden könnte. Indessen ist es unbestritten, dass die IV-Stelle der Versicherten mit Vorbescheid vom 25. März 2013 die Abweisung des Leistungsbegehrens sowohl in Bezug auf die Ausrichtung einer Invalidenrente als auch auf weitere Eingliederungsmassnahmen - und damit auch in Bezug auf einen Umschulungsanspruch - in Aussicht gestellt hatte. Die Versicherte führte daraufhin in ihrem Einwand vom 7. Mai 2013 aus, weshalb sie auch weiterhin einen Anspruch auf Arbeitsvermittlung habe; einen Anspruch auf eine weitere Umschulung machte sie dabei nicht geltend. Aus diesem Verfahrensablauf ergibt sich, dass die IV-Stelle in ihrer Verfügung vom 24. Juli 2013 zwar den Anspruch auf Arbeitsvermittlung im Sinne von Art. 18 IVG anerkannte, im Übrigen aber das Leistungsbegehren abwies. Demgegenüber ist kein Grund ersichtlich, weshalb die IV-Stelle einen endgültigen Entscheid über weitere berufliche Massnahmen - insbesondere über einen weiteren Umschulungsanspruch - hätte aufschieben sollen.
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4.2. Hat die IV-Stelle einen Umschulungsanspruch mit Verfügung vom 24. Juli 2013 rechtskräftig verneint, so ist ein neues Leistungsgesuch als Neuanmeldegesuch entgegenzunehmen und es stellt sich mit Blick auf Art. 10 Abs. 1 IVG (vgl. E. 3.1 hievor) die Frage, zu welchem Zeitpunkt die Versicherte sich erneut zum Leistungsbezug anmeldete. Dabei genügte zur Fristwahrung grundsätzlich auch eine mit formalen Mängeln behaftete Anmeldung. Die Beschwerdeführerin beruft sich in diesem Zusammenhang auf ihre E-Mail vom 9. Januar 2014, in dem sie den ihr zugeteilten Eingliederungsfachmann um eine Besprechung des weiteren Vorgehens bat. Das kantonale Gericht verneinte jedoch den fristwahrenden Charakter dieser E-Mail, da es sich hiebei nicht um die Geltendmachung eines Umschulungsanspruchs, sondern um den Versuch einer Inanspruchnahme der ihr zugesprochenen Arbeitsvermittlung gehandelt habe. Inwiefern diese vorinstanzliche Interpretation der E-Mail offensichtlich unrichtig oder bundesrechtswidrig sein sollte, ist entgegen den Ausführungen der Versicherten nicht ersichtlich. Insbesondere hat sie in ihrer E-Mail ausdrücklich Bezug auf das "Schreiben vom 24. Juli 2013", mithin auf die Arbeitsvermittlung zusprechende Verfügung Bezug genommen und ein Treffen entsprechend diesem Schreiben (folglich entsprechend dieser Verfügung) verlangt.
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4.3. Somit ist nicht zu beanstanden, dass die Vorinstanz von einer Geltendmachung des Anspruchs auf Umschulung der Versicherten frühestens im Zeitpunkt der Besprechung zwischen dieser und der Beschwerdegegnerin am 23. August 2017 ausging. In diesem Zeitpunkt hatte die Versicherte ihre Ausbildung zur systemischen Arbeitsagogin bereits abgeschlossen. Da der Anspruch auf Umschulung frühestens im Zeitpunkt der Geltendmachung entsteht (Art. 10 Abs. 1 IVG), eine weitergehende rückwirkende Kostenübernahme mithin ausgeschlossen ist, hat das kantonale Gericht kein Bundesrecht verletzt, als es die leistungsablehnende Verfügung der IV-Stelle bestätigte. Die Beschwerde der Versicherten ist somit abzuweisen.
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5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 11. September 2019
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Maillard
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Der Gerichtsschreiber: Nabold
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