BGer 8C_77/2020
 
BGer 8C_77/2020 vom 17.03.2020
 
8C_77/2020
 
Urteil vom 17. März 2020
 
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Maillard, Präsident,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Elmiger-Necipoglu.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Horschik,
Beschwerdeführerin,
gegen
VAUDOISE ALLGEMEINE, Versicherungs-Gesellschaft AG, Place de Milan, 1007 Lausanne,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Unfallversicherung (Prozessvoraussetzung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. November 2019 (VBE.2019.115).
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Die 1970 geborene A.________ bezog für die Folgen einer am 11. Juni 1994 erlittenen Auffahrkollision von der Vaudoise Allgemeine (ehemals: Waadt-Versicherungen) seit dem 1. September 1995 eine Invalidenrente der Unfallversicherung für einen Invaliditätsgrad von 50 %.
A.b. Nachdem ein erstes Revisionsverfahren zu keiner Änderung des Anspruchs auf eine Invalidenrente geführt hatte, leitete die Vaudoise Allgemeine am 9. März 2017 ein weiteres Revisionsverfahren ein. Gestützt auf ein polydisziplinäres Gutachten des Begutachtungszentrums BL (BEGAZ) vom 30. Mai 2018 hob sie den Rentenanspruch mit Wirkung ab dem 1. Februar 2018 auf (Verfügung vom 22. Juni 2018). Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 21. Dezember 2018 fest.
B. Auf eine von der Versicherten dagegen erhobene Beschwerde trat das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. November 2019 nicht ein. Gleichzeitig wies es das Fristwiederherstellungsgesuch ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt die Versicherte beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Angelegenheit an die Vorinstanz zur weiteren Behandlung zurückzuweisen, eventualiter sei unter Gutheissung des Fristwiederherstellungsgesuchs die Angelegenheit an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Das Bundesgericht holte die vorinstanzlichen Akten ein. Auf einen Schriftenwechsel verzichtete es.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Das Bundesgericht prüft seine Zuständigkeit und die (weiteren) Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 144 V 97 E. 1 mit Hinweis).
1.2. Beim Entscheid, mit dem das kantonale Gericht infolge Fristversäumnisses auf die Beschwerde nicht eintritt, handelt es sich um einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG (vgl. BGE 143 V 363 E. 1 S. 365; 135 V 153 E. 1.3 S. 156). Da auch die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind, ist auf die Beschwerde einzutreten.
 
2.
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG), doch prüft es, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht im Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), nur die geltend gemachten Vorbringen, falls allfällige weitere rechtliche Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 145 V 57 E. 4.2 S. 61 mit Hinweis).
2.2. Im Verfahren um die prozessuale Frage, ob der kantonale Nichteintretensentscheid rechtens ist, geht es nicht um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen. Die Ausnahmeregelung des Art. 105 Abs. 3 i.V.m. Art. 97 Abs. 2 BGG kommt demnach nicht zur Anwendung (vgl. Urteil 8C_751/2018 vom 6. Mai 2019 E. 2.2). Bezüglich Sachverhaltsfeststellungen gilt deshalb hier die eingeschränkte Kognition (BGE 135 V 412; Urteile 8C_548/2019 vom 10. Januar 2020 E. 1.2 mit Hinweis). Das Bundesgericht kann demnach eine für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn diese offensichtlich unrichtig ist oder aber auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Ansonsten legt es seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG).
3. Streitig ist, ob der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid wegen Fristversäumnis vor Bundesrecht standhält. Im Einzelnen ist es zu prüfen, ob die versuchte Abgabe der Beschwerdeschrift bei der Kantonspolizei Zürich als fristwahrend gilt.
 
4.
4.1. Gemäss den unstreitigen Feststellungen der Vorinstanz wurde der vom 21. Dezember 2018 datierte Einspracheentscheid dem damaligen Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin am 7. Januar 2019 zugestellt. Somit begann die dreissigtägige Frist gemäss Art. 60 Abs. 1 ATSG am 8. Januar 2019 zu laufen und endete am 6. Februar 2019. Sodann ist unstrittig, dass an diesem Tag, um 23.20 Uhr, der Ehemann der Versicherten sich zum Polizeistützpunkt der Kantonspolizei Zürich an der Kasernenstrasse in Zürich begab, um die Beschwerde zur Weiterleitung zu übergeben. Gemäss den Angaben der Beschwerdeführerin suchte ihr Ehemann die Kantonspolizei deshalb auf, weil er die Öffnungszeiten der Sihlpost knapp verpasst hatte. Es steht ausweislich der Akten auch fest, dass die zuständige Person bei der Kantonspolizei Zürich die Annahme der Postsendung infolge interner Weisungen verweigerte. Die Beschwerde wurde schliesslich am Folgetag, am 7. Februar 2019, der Vorinstanz überbracht.
4.2. Gestützt auf diese Feststellungen erwog die Vorinstanz, dass es der Kantonspolizei Zürich offen gestanden habe, die Annahme zu verweigern. Es handle sich bei der Kantonspolizei weder um einen Teil der Schweizerischen Post noch um eine schweizerische diplomatische oder konsularische Vertretung im Sinne von Art. 39 Abs. 2(richtig: Abs. 1) ATSG, die zur Annahme und alsdann zur Weiterleitung verpflichtet gewesen wäre. Zudem habe die Beschwerdeführerin die Postsendung auch nicht mit einem Vermerk von unabhängigen Zeugen auf dem Briefumschlag, dass die Zustellung vor Fristablauf erfolgt sei, in einen Briefkasten geworfen, was ihr offen gestanden wäre. Daraus schloss die Vorinstanz, dass die versuchte Zustellung keinerlei Rechtswirkung entfalte.
5. 
5.1. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung der Art. 58 Abs. 3 ATSG i.V. m. Art. 60 Abs. 2 und Art. 39 Abs. 2 ATSG. Sie macht im Wesentlichen geltend, die Kantonspolizei Zürich sei, wie die Schweizerische Post, eine staatliche Behörde mit hoheitlichen Aufgaben und insofern zur Weiterleitung ihrer Eingabe verpflichtet gewesen.
5.2. Gemäss Art. 60 ATSG ist die Beschwerde innerhalb von 30 Tagen nach der Eröffnung des Einspracheentscheides oder der Verfügung, gegen welche eine Einsprache ausgeschlossen ist, einzureichen. Die Art. 38 - 41 sind sinngemäss anwendbar (Art. 60 Abs. 2 ATSG).
Unter den Gesetzesbestimmungen, auf die Art. 60 Abs. 2 ATSG verweist, ordnet Art. 39 Abs. 1 ATSG die Fristwahrung. Schriftliche Eingaben müssen spätestens am letzten Tag der Frist dem Versicherungsträger eingereicht oder zu dessen Handen der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung übergeben werden (Art. 39 Abs. 1 ATSG). Gelangt eine Partei rechtzeitig an einen unzuständigen Versicherungsträger, so gilt die Frist als gewahrt (Art. 39 Abs. 2 ATSG).
5.3. Aus diesen Bestimmungen vermag die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten abzuleiten. Art. 39 Abs. 2 ATSG regelt gemäss seinem Wortlaut die Fristwahrung durch Eingabe an einen unzuständigen Versicherungsträger. Um einen solchen handelt es sich beim betreffenden Polizeistützpunkt fraglos nicht. Art. 58 Abs. 3 ATSG richtet sich sodann in erster Linie an unzuständige Versicherungsgerichte (JEAN MÉTRAL, in: Dupont/Moser-Szeless [Hrsg.]; Commentaire Romand, Loi sur la Partie générale des assurances sociales, 2018, N. 19 zu Art. 58); und soweit die Bestimmung im Schrifttum in einem weiteren Sinne verstanden wird, indem auch Versicherungsträger darunter fallen sollen (UELI KIESER, Kommentar zum Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrecht [ATSG], 4. Aufl., 2020, N. 43 zu Art. 58; vgl. im Übrigen auch Urteil 9C_885/2009 vom 1. Februar 2009 E. 4.1), gilt das soeben Gesagte. Nebst diesen Bestimmungen existiert ein allgemeiner Grundsatz, wonach Fristen als gewahrt gelten, wenn die Partei mit ihrer Eingabe rechtzeitig an eine unzuständige Behörde gelangt. Dieser Gedanke hat seinen Niederschlag nicht nur in zahlreichen Verfahrensordnungen gefunden (vgl. für das Verwaltungsverfahren des Bundes: Art. 21 Abs. 2 i.V.m. Art. 8 Abs. 1 VwvG sowie für das Verfahren vor Bundesgericht: Art. 48 Abs. 3 BGG), sondern das Bundesgericht hat ihn darüber hinaus als allgemeinen Rechtsgrundsatz anerkannt, der im ganzen Verwaltungsrecht zum Tragen kommen (BGE 130 III 515 E. 4 S. 517) bzw. sich auf die gesamte Rechtsordnung beziehen soll (BGE 121 I 93 E. 1d S. 95 mit Hinweis; zum Ganzen: Urteil 1C_140/2013 vom 23. Juli 2013 E. 5.3.2). Letzteres hat das (damalige) Eidg. Versicherungsgericht ausgehend von einem kantonalen Beschwerdeverfahren ausdrücklich in Zusammenhang mit der Eingabe an einen Polizeistützpunkt im Kanton Baselland erwogen und dabei bekräftigt, dass es (vorbehältlich des Rechtsmissbrauchs) nicht wesentlich darauf ankomme, ob die angegangene Behörde im Einzelfall in einer gewissen Beziehung zum konkreten Streitfall stehe (Urteil U 179/01 vom 3. August 2001 E. 2 mit Hinweis auf BGE 111 V 408; vgl. auch Urteil 9C_885/2009 vom 1. Februar 2009 E. 4.1 und 4.2). Zugleich hat das Gericht jedoch vermerkt, es hätte dem betreffenden Polizeistützpunkt offen gestanden, die Annahme der Eingabe zu verweigern und den Rechtsvertreter des Versicherten an das zuständige Versicherungsgericht zu verweisen (E. 2d). Genau diese Konstellation liegt hier vor, wie das kantonale Gericht zu Recht erkannt hat. Mit der Entgegennahme der Beschwerde (und deren Weiterleitung) durch die zuständigen Personen im aufgesuchten Polizeistützpunkt wäre eine Fristwahrung zwar grundsätzlich möglich gewesen. Hingegen ist weder dargetan noch ersichtlich, dass und weshalb die stattdessen - offenbar gestützt auf interne Anordnungen - verweigerte Annahme und die vorinstanzliche Verneinung der Fristwahrung Bundesrecht verletzen würde, während die Frage nach einer allfälligen Verletzung kantonalen Rechts mangels entsprechender Prüfungszuständigkeit des Bundesgerichts (vgl. Art. 95 BGG) ohne Weiteres dahin stehen kann. Die Beschwerdeführerin bzw. ihr Ehemann befand sich hier eben gerade nicht in einer Situation, in der wie bei einer erfolgten Entgegennahme darauf vertraut werden durfte, dass alles seinen geordneten Gang nehmen würde. Insbesondere fand im vorliegenden Fall keine Hinterlegung innert der Beschwerdefrist statt. Vielmehr hielt der Ehemann die Beschwerde nach wie vor in Händen, womit die Möglichkeit einer Weiterleitung von vornherein entfiel, aber über den Fristablauf hinaus weiterhin auf den Inhalt der Beschwerdeschrift eingewirkt werden konnte. Daher hätte er unter den gegebenen Umständen alles daran setzen müssen, in der ihm noch verbleibenden Zeit den Nachweis einer rechtzeitigen Postaufgabe zu sichern, was ihm mithilfe von Zeugen und einem Einwurf in einen gewöhnlichen Briefkasten (vgl. BGE 142 V 389 E. 2.2 S. 391 mit Hinweis) fraglos möglich gewesen wäre.
5.4. Fehl geht auch die Rüge des überspitzten Formalismus. Ein solcher liegt als eine besondere Form der Rechtsverweigerung vor, wenn für ein Verfahren rigorose Formvorschriften aufgestellt werden, ohne dass die Strenge sachlich gerechtfertigt wäre, oder wenn die Behörde formelle Vorschriften mit übertriebener Schärfe handhabt. Prozessuale Formen sind jedoch unerlässlich, um die ordnungsgemässe Abwicklung des Verfahrens sowie die Durchsetzung des materiellen Rechts zu gewährleisten (BGE 118 V 311 E. 4 S. 315; 114 Ia 34 E. 3 S. 40). Überspitzter Formalismus ist daher nur gegeben, wenn die strikte Anwendung der Formvorschriften durch keine schutzwürdigen Interessen gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder verhindert (BGE 142 V 152 E 4.2 S. 158; Urteil 8C_757/2019 vom 24. Januar 2020 E. 6.2 je mit Hinweisen). Dies trifft hier klarerweise nicht zu. Wie zuvor ausgeführt (vgl. hiervor E. 5.3) hätte der Beschwerdeführerin bzw. ihrem Ehemann spätestens bei der Empfangsverweigerung von Seiten der Kantonspolizei Zürich bewusst sein müssen, dass ihre Beschwerde nach Treu und Glauben nicht als fristgemäss aufgegeben gelten kann. Zu Recht wies die Vorinstanz denn auch darauf hin, dass ihr bzw. ihrem Ehemann zu diesem Zeitpunkt noch offen gestanden hätte, die Postsendung vor Fristablauf in Anwesenheit von Zeugen in einen Briefkasten zu werfen (vgl. hiervor E. 5.3) und so die Frist zu wahren. Es kann mithin keine Rede davon sein, dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin den Rechtsweg in unzulässiger Weise versperrt hätte. Aus den gleichen Gründen und zudem wegen Verspätung hat die Vorinstanz auch das erst im Rahmen der Replik vom 28. März 2019 eingereichte Fristwiederherstellungsgesuch (Art. 40 Abs. 3 i.V.m. Art. 60 Abs. 2 ATSG) abgewiesen.
5.5. Nach dem Gesagten ergibt sich, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht, insbesondere auch nicht das Willkürverbot (Art. 9 BV) oder das rechtliche Gehör mangels hinreichender Begründung (Art. 29 Abs. 2 BV) verletzte, indem sie auf die Beschwerde infolge Fristversäumnisses nicht eintrat.
6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 17. März 2020
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Maillard
Die Gerichtsschreiberin: Elmiger-Necipoglu