BGE 100 Ia 242
 
34. Auszug aus dem Urteil vom 3. Juli 1974 i.S. Erben Piai gegen Kantone Zürich und Tessin
 
Regeste
Doppelbesteuerung, alternierender Wohnsitz.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Ein sog. Sommer- oder Saisonaufenthalt ausserhalb des Kantons des zivilrechtlichen Wohnsitzes begründet nach Lehre und Praxis dann ein sekundäres Steuerdomizil, wenn der Steuerpflichtige am Aufenthaltsort während jährlich mindestens 90 Tagen ohne wesentlichen Unterbruch mit seiner Familie in einem eigenen oder einem nahen Verwandten gehörenden oder auf längere Zeit gemieteten Hause wohnt, dorthin regelmässig zurückkehrt, dort einen eigenen Haushalt führt und so feste persönliche Beziehungen zum Aufenthaltsort knüpft, dass der Zusammenhang mit dem ordentlichen Wohnsitz vorübergehend in den Hintergrund tritt (BGE 71 I 155 E. 2 und 3, mit Hinweisen; SCHLUMPF, Bundesgerichtspraxis zum Doppelbesteuerungsverbot, 3. A. S. 102 ff.; LOCHER, Das interkantonale Doppelbesteuerungsrecht, Bd. 1 § 3, II C); die Frist von 90 Tagen hat im übrigen auch in § 3 Abs. 2 des Zürcher und Art. 8 Ziff. 1 lit. b des Tessiner Steuergesetzes Aufnahme gefunden. Das Spezialdomizil des Saisonaufenthalters gibt dem Aufenthaltskanton - pro rata temporis des Aufenthaltes - das Recht zur Besteuerung des beweglichen Vermögens und des Ertrages daraus sowie grundsätzlich auch des Renteneinkommens (BGE 99 Ia 228, BGE 74 I 37, mit Hinweisen).
b) Einen alternierenden Wohnsitz hat ein Steuerpflichtiger ausnahmsweise dann, wenn er den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen in regelmässigen Abständen vom einen nach einem andern Ort und von diesem wieder an den ersteren verlegt. So verhält es sich, wenn die Beziehungen zu den beiden Orten ungefähr von gleicher Intensität sind, etwa weil der Pflichtige an beiden Orten berufstätig ist, seine Angehörigen ihn regelmässig begleiten und der Aufenthalt an beiden Orten ungefähr von gleicher Dauer ist (LOCHER, a.a.O. § 3, I A, 3; SCHLUMPF, a.a.O. S. 101 f. sowie die dort angeführten, nicht publizierten Bundesgerichtsentscheide). Zu prüfen sind hier also die familiären und beruflichen Verhältnisse des Steuerpflichtigen sowie die Dauer der beiden Aufenthalte; es kommt dabei letzlich auf die Gesamtkeit der Umstände an. Ist ein alternierender Wohnsitz zu bejahen, so ist in der Regel eine hälftige Teilung der Steuerhoheit vorzunehmen, sofern nicht besondere Gründe für eine andere Teilung sprechen. Im Gegensatz zum sekundären Steuerdomizil wird hier auch das Erwerbseinkommen aus unselbständiger Tätigkeit miteinbezogen. In den Fällen eines alternierenden Wohnsitzes beansprucht der Steuerpflichtige eben in zwei Kantonen gleichermassen die öffentlichen Einrichtungen und verursacht Lasten, die aus Steuermitteln getragen werden müssen; es wäre deshalb unbillig, nur dem einen Kanton eine unbeschränkte Steuerhoheit zuzuerkennen.
In manchen Fällen mag die Abgrenzung von sekundärem Steuerdomizil und alternierendem Wohnsitz schwierig sein. Das Unterscheidungskriterium liegt in der Aufenthaltsdauer und in der Intensität der Lebensbeziehungen zum Aufenthaltsort. Letztere müssen, damit ein alternierender Wohnsitz vorliegt, zu beiden Aufenthaltsorten ungefähr gleichwertig sein und zudem so stark, dass während der Dauer des regelmässigen Aufenthaltes der betreffende Ort zum eigentlichen Lebens-Mittelpunkt wird. Deswegen gelten hier hinsichtlich der Dauer des Aufenthaltes und der beruflichen Tätigkeit des Pflichtigen strengere Anforderungen (nämlich Gleichwertigkeit an beiden Orten) als im Falle eines sekundären Steuerdomizils des Saisonaufenthaltes.