BGE 102 Ia 69 |
13. Urteil vom 21. Januar 1976 i.S. Gemeinde Bergün/Bravuogn gegen Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. |
Regeste |
Gemeindeautonomie (Graubünden). Rückwirkung von Erlassen. |
2. Rückwirkende Erhebung von Stromanschlussgebühren. Fehlendes Vorliegen "triftiger Gründe" für die Rückwirkung (E. 3). |
Sachverhalt |
Die zuständige Stelle der Gemeinde Bergün/Bravuogn erteilte G. Bächtold im September 1971 die Bewilligung, die Elektroheizung seines Hauses an das örtliche Stromnetz anzuschliessen, unter der Voraussetzung, dass der Gesuchsteller die vollen Kosten des Anschlusses bezahle und ausserdem eine "allfällige" Anschlussgebühr entrichte. Nach dem damals in Bergün geltenden kommunalen Reglement über die Abgabe von elektrischer Energie aus dem Jahre 1966 konnte der Grundeigentümer unter bestimmten Bedingungen lediglich zu einem Beitrag an die Anschlusskosten herangezogen werden; eine Anschlussgebühr war nicht vorgesehen. - Nachdem die fragliche Elektroheizung im Dezember 1971 angeschlossen und in Betrieb genommen worden war, stimmte die Gemeindeversammlung von Bergün am 23. November 1972 einer neuen Verordnung zu. Diese sah nunmehr auch die Erhebung von Anschlussgebühren vor, und zwar, entsprechend einem an der Gemeindeversammlung beschlossenen Zusatz, "rückwirkend für alle Anschlüsse, die in den Jahren 1971/72 unter der Voraussetzung bewilligt wurden, dass dann diese Taxen nachbezahlt werden müssten".
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Die Gemeinde Bergün verlangte in der Folge von G. Bächtold eine Anschlussgebühr von Fr. 6'500.-- sowie die Übernahme der Anschlusskosten von rund Fr. 4'600.--. Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hiess einen Rekurs Bächtolds gut, und zwar sowohl in bezug auf die Bemessung des Anschlusskostenbeitrages (die nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet) als auch in bezug auf die Anschlussgebühr, deren rückwirkende Erhebung als unzulässig bezeichnet wurde. Die Gemeinde Bergün führt in diesem letzteren Punkt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung der Gemeindeautonomie. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab aus folgenden
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Erwägungen: |
2. Nach Art. 40 Abs. 2 der Bündner Kantonsverfassung steht jeder Gemeinde "das Recht der selbständigen Gemeindeverwaltung, mit Einschluss der niedern Polizei, zu. Sie ist befugt, die dahin einschlagenden Ordnungen festzusetzen, welche jedoch den Bundes- und Kantonsgesetzen und dem Eigentumsrechte Dritter nicht zuwider sein dürfen". Das Gemeindegesetz vom 28. April 1974 rechnet die Wasser- und Energieversorgung dem kommunalen Aufgabenbereich zu (Art. 4 lit. e); es erklärt sodann die Gemeinden ausdrücklich für befugt, von den Benützern kommunaler Werke, Unternehmungen und Einrichtungen Gebühren zu erheben (Art. 46). Da das kantonale Recht die kommunale Elektrizitätsversorgung selber nicht näher regelt, ist ohne weiteres anzunehmen, dass den Bündner Gemeinden in diesem Sachbereich eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit zusteht und dass daher die vorliegend in Frage stehenden Reglemente autonomes Gemeinderecht darstellen. Die Gemeinde Bergün geniesst somit gegenüber dem kantonalen Verwaltungsgericht, welches als Rechtsmittelinstanz über die Anwendung der kommunalen Vorschriften über die Elektrizitätsabgabe zu befinden hatte, den Schutz der Gemeindeautonomie. Sie kann sich dagegen zur Wehr setzen, dass die kantonale Rechtsmittelinstanz autonomes Gemeinderecht unrichtig handhabt oder die ihr nach kantonalem Recht zustehende Prüfungsbefugnis überschreitet (BGE 101 Ia 265 E. 2, BGE 100 Ia 203 E. 2a, mit Hinweisen). Soweit jedoch nicht die Auslegung und Anwendung spezieller Normen des eidgenössischen oder kantonalen Verfassungsrechtes in Frage steht, prüft das Bundesgericht den Entscheid der kantonalen Behörde nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür (BGE 101 Ia 395 E. 2, 265 E. 2, 261 E. 2, mit Hinweisen).
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Im vorliegenden Fall ist unbestritten, dass dem Verwaltungsgericht als Rekursinstanz lediglich eine Rechtskontrolle zustand (Art. 53 des Verwaltungsgerichtsgesetzes). Die Beschwerdeführerin behauptet nicht, dass das Gericht seine Überprüfungsbefugnis überschritten habe. Sie macht vielmehr geltend, die kantonale Rekursinstanz habe ihre Rechtskontrolle willkürlich ausgeübt und zu Unrecht angenommen, dass die Erhebung der streitigen Anschlussgebühr gegen das Rückwirkungsverbot verstosse. Die vom Verwaltungsgericht herangezogenen Regeln über die Rückwirkung von Erlassen gelten zwar, ebenso wie etwa das Prinzip der Legalität, der Grundsatz der Verhältnismässigkeit und das Gebot von Treu und Glauben, als allgemeine Grundsätze des eidgenössischen Verfassungsrechtes (GRISEL, L'application du droit public dans le temps, ZBl 75/1974 S. 245 ff.). Soweit jedoch diese Grundsätze nicht in Zusammenhang mit einem speziellen, seinerseits eine freie Prüfung erfordernden Verfassungsrechtssatz angerufen werden, prüft das Bundesgericht ihre Handhabung nur unter dem Gesichtswinkel von Art. 4 BV, d.h. nach Massgabe der Rechtsgleichheit und des Willkürverbotes (BGE 100 Ia 347 E. 4, BGE 99 Ia 67 E. 4, BGE 98 Ia 369 E. 6; GRISEL, a.a.O. S. 245 f.). Entsprechendes gilt, wenn eine Gemeinde im Rahmen einer Autonomiebeschwerde die Verletzung bzw. unrichtige Handhabung solcher Grundsätze rügt (BGE 99 Ia 67 E. 4).
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Da sich im vorliegenden Fall die Frage, ob die kantonale Instanz einen Verstoss gegen die Regeln über die Rückwirkung annehmen durfte, nicht in Zusammenhang mit der Auslegung oder Anwendung anderweitiger, spezieller Verfassungsvorschriften stellt, prüft das Bundesgericht das angefochtene Urteil auch in diesem Punkt nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür.
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Die Anschlussgebühr ist eine öffentlichrechtliche Gegenleistung für die Gewährung des Anschlusses an die Leitung eines öffentlichen Werkes. Die rechtlichen Voraussetzungen für ihre Erhebung bestimmen sich daher grundsätzlich nach dem Zeitpunkt, in dem der Anschluss vollzogen wird (Urteil vom 28. Januar 1976 i.S. Schoop u. Assarson; IMBODEN, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, 3. A. Bd. I S. 154, Nr. 312 IIIc). Mit der Einführung einer Anschlussgebühr für bereits angeschlossene Grundstücke wurde die Abgabepflicht an ein in der Vergangenheit liegendes, einmaliges Ereignis geknüpft (GRISEL, a.a.O. S. 242). Das Verwaltungsgericht verfiel somit nicht in Willkür, wenn es den vorliegenden Tatbestand nach den Grundsätzen über die Rückwirkung von Abgabeerlassen behandelte. Es bleibt zu prüfen, ob seine Annahme, wonach die vorerwähnten Voraussetzungen für eine rückwirkende Abgabeerhebung hier nicht erfüllt seien, haltbar ist.
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a) Dass auch für die in den Jahren 1971/72 angeschlossenen Grundstücke eine Anschlussgebühr zu leisten ist, wurde durch eine ergänzende Bestimmung der Verordnung vom 23. November 1972 ausdrücklich angeordnet. Die Rückwirkung beruht somit auf einer klaren Grundlage und ist vom Gesetzgeber eindeutig gewollt.
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b) Für den Beschwerdegegner Bächtold, der den Gemeindebeschluss vom 23. November 1972 nicht angefochten hat, liegt der Anschluss nicht einmal ein Jahr zurück (Dezember 1971). Dass die Verordnung eine Rückwirkung für eine Zeitspanne von zwei Jahren anordnete, ist im vorliegenden Zusammenhang ohne Belang. Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle kann nur noch berücksichtigt werden, ob die Vorschrift hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf den betroffenen Grundeigentümer verfassungsmässig ist (BGE 96 I 566 E. 2; BGE 90 I 91 E. 1 und 80 E. 1). Eine Rückwirkung von nicht einmal ganz einem Jahr sprengt indessen den Rahmen des Zulässigen nicht. Die gegenteilige Auffassung des Verwaltungsgerichtes ist insoweit nicht zutreffend.
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c) Das Verwaltungsgericht verneinte die Zulässigkeit der Rückwirkung auch mit der Begründung, dass die Gemeinde für ihr Vorgehen lediglich fiskalische Gründe geltend machen könne. Fiskalische Gründe reichten indessen nicht aus, um Abgaben rückwirkend zu erheben (vgl. dazu BGE 95 I 10; GRISEL, a.a.O. S. 247; IMBODEN, a.a.O. S. 161, Nr. 313 Ib).
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In der staatsrechtlichen Beschwerde wird demgegenüber geltend gemacht, es seien für die Gemeinde nicht fiskalische Erwägungen, sondern solche der rechtsgleichen Behandlung massgebend gewesen. Hiezu ist jedoch zu bemerken, dass jede Änderung von Abgabeerlassen, durch die eine Abgabe erhöht oder neu eingeführt wird, notwendigerweise zur Folge hat, dass diejenigen günstiger behandelt werden, für die sich der abgabepflichtige Sachverhalt vor dem Inkrafttreten der Änderung ereignet hat. Wollte man das Gebot der rechtsgleichen Behandlung so verstehen wie die Beschwerdeführerin, könnte für alle Abgabeerlasse eine Rückwirkung angeordnet werden. Die Rückwirkung muss indessen durch "triftige Gründe" gerechtfertigt sein, d.h. durch Gründe besonderer Art, die nicht nur den selbstverständlichen Folgen entgegentreten wollen, die mit jeder derartigen Rechtsänderung verbunden sind. Blosse allgemeine Überlegungen der Rechtsgleichheit wären immer auch von einem mindestens gleich starken und gleichlaufenden, kaum unterscheidbaren fiskalischen Interesse an der Rückwirkung begleitet. Eine Rückwirkung lässt sich auch nicht schon allein damit begründen, dass man den Bürger daran hindern will, noch rechtzeitig seine Dispositionen auf eine kommende Abgabeerhöhung hin zu treffen (BGE 95 I 10).
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Die Rückwirkung von Erlassen steht im Widerspruch zu dem - im Legalitätsprinzip enthaltenen - Grundsatz der Voraussehbarkeit staatlicher Massnahmen (GIACOMETTI, Allgemeine Lehren des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 190; BGE 92 I 232). Ob eine Rückwirkung im Einzelfall zulässig ist, hängt insoweit auch davon ab, ob das besondere öffentliche Interesse an der rückwirkenden Inkraftsetzung des Erlasses das entgegenstehende Interesse des Bürgers an der Voraussehbarkeit der Rechtsordnung überwiegt (BGE BGE 92 I 232; vgl. auch BGE 95 I 10). Es ist daher im vorliegenden Fall nicht ohne Belang, dass die Rückwirkung nach dem Wortlaut der Verordnung nur jene in den Jahren 1971/72 angeschlossenen Grundstücke betrifft, bei denen der Anschluss unter dem Vorbehalt bewilligt wurde, dass später festzulegende Anschlusstaxen noch zu bezahlen seien. Im Schreiben vom 13. September 1971, mit dem das Ingenieurbüro Graf dem Beschwerdegegner den Anschluss bewilligt hatte, war nur von einer durch die "EW-Kommission" noch festzusetzenden "allfälligen Anschlussgebühr" die Rede, was an sich auch dahin verstanden werden konnte, dass es sich um eine im Reglement bereits vorgesehene Abgabe handle. Selbst wenn man annehmen wollte, es sei damit die Erhebung einer erst künftig einzuführenden Anschlussgebühr vorbehalten worden, würde dies die Rechtslage nicht grundlegend ändern. Wenn es im Zeitpunkt des Anschlusses an einer gesetzlichen Grundlage für die Erhebung der fraglichen Abgabe fehlte, konnte dieser Mangel nicht dadurch behoben werden, dass man den Anschluss nur unter dem Vorbehalt bewilligte, dass der Grundeigentümer eine in einem späteren Erlass eventuell vorgesehene Abgabe von irgendwelcher Höhe nachzubezahlen habe (vgl. ZBl 74/1975 S. 495 f). Ein derartiges Vorgehen müsste auf einer entsprechenden gesetzlichen Grundlage beruhen, und es vermöchte die spätere Einführung einer rückwirkenden Abgabepflicht auch nur dann zu rechtfertigen, wenn zugleich die Höhe der künftigen Abgabe bereits bestimmt oder wenigstens begrenzt worden wäre. Im vorliegenden Fall stand indessen die Höhe der möglichen Anschlussgebühr keineswegs fest, als der Beschwerdegegner gestützt auf die erteilte Bewilligung den Anschluss an das kommunale Netz vornahm. Die Lage ist insoweit dieselbe, wie wenn bei der Bewilligungserteilung überhaupt kein Vorbehalt gemacht worden wäre; die nachträgliche Belastung war im wesentlichen nicht voraussehbar. Die Auffassung des Verwaltungsgerichtes, die Rückwirkung sei durch keine triftigen Gründe gerechtfertigt, hält somit dem Vorwurf der Willkür stand.
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d) Schliesslich konnte das Verwaltungsgericht ebenfalls ohne Willkür annehmen, dass die fragliche Anschlussgebühr auch im anwendbaren Regulativ von 1966 keine Grundlage habe. Wohl kann danach in gewissen Fällen "der Energiepreis vom Tarif abweichend" festgesetzt (Art. 3) und der Grundeigentümer zu einem "Beitrag an die Kosten der Zuleitung" verpflichtet werden (Art. 6), doch ist klar, dass eine eigentliche Anschlussgebühr, wie sie hier in Frage steht, in diesen Bestimmungen nicht vorgesehen ist. Was die Gemeinde hiegegen vorbringt, dringt ebenfalls nicht durch. Ihre Beschwerde erweist sich damit als unbegründet.
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