BGE 104 Ia 9
 
4. Urteil vom 1. März 1978 i.S. Herzog gegen Ortsgemeinde Fruthwilen und Regierungsrat des Kantons Thurgau
 
Regeste
Art. 4 BV; Parteientschädigung im Verwaltungsbeschwerdeverfahren.
2. Auslegung von § 5 Abs. 2 des thurgauischen Gesetzes über die Administrativstreitigkeiten vom 14. März 1866, wonach der obsiegenden Partei eine "angemessene Kostenentschädigung" zugesprochen werden "kann" (E. 2).
 
Sachverhalt
August Herzog reichte durch einen Anwalt gegen eine Gemeindeabstimmung der Ortsgemeinde Fruthwilen Beschwerde ein, die der Bezirksrat Steckborn abwies. Gegen diesen Entscheid liess Herzog durch seinen Anwalt Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Thurgau einreichen, wobei er Gutheissung "unter Kosten- und Entschädigungsfolge für beide Instanzen" verlangte. Der Regierungsrat hiess die Beschwerde gut. Er sah davon ab, Verfahrenskosten zu erheben. Das Entschädigungsbegehren wies er mit der Begründung ab, gemäss konstanter Praxis werde auch im Fall der Gutheissung einer Beschwerde nur bei Vorliegen ausserordentlicher Umstände von der in § 5 Abs. 2 des Gesetzes über die Administrativstreitigkeiten vorgesehenen Möglichkeit, eine Parteientschädigung zuzusprechen, Gebrauch gemacht; ein solcher Fall liege hier nicht vor.
August Herzog führt gegen den Entscheid des Regierungsrates, soweit damit die Zusprechung einer Parteientschädigung verweigert wird, wegen Verletzung von Art. 4 BV staatsrechtliche Beschwerde. Das Bundesgericht weist diese ab aus folgenden
 
Erwägungen:
1. Der Beschwerdeführer erklärt, grundsätzlich ergebe sich ein Anspruch auf Ausrichtung einer Parteientschädigung schon direkt aus Art. 4 BV, und zwar auch im Verwaltungsverfahren und ohne entsprechende kantonale Bestimmung. Die Behauptung trifft in dieser allgemeinen Form keineswegs zu. Es ist an sich denkbar, dass das Bundesgericht im Einzelfall den eine Parteientschädigung ablehnenden Entscheid einer kantonalen Verwaltungsbehörde selbst dann wegen Verletzung des Art. 4 BV aufheben könnte, wenn keine kantonale Vorschrift die Ausrichtung einer Parteientschädigung vorsieht, nämlich dann, wenn die Ablehnung des Entschädigungsbegehrens in stossender Weise dem Gerechtigkeitsempfinden zuwiderliefe. Hingegen hat das Bundesgericht nie aus Art. 4 BV den allgemeinen Satz abgeleitet, im Rechtsmittelverfahren vor der Verwaltungsbehörde müsse der obsiegenden Partei, wenn sie durch einen Anwalt vertreten gewesen sei, eine Parteientschädigung zugesprochen werden.
Nach Art. 64 Abs. 1 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren (VwVG), auf den sich der Beschwerdeführer unter Hinweis auf ein Urteil des Bundesgerichts (BGE 98 Ia 506) beruft, kann die Beschwerdeinstanz der ganz oder teilweise obsiegenden Partei von Amtes wegen oder auf Begehren eine Entschädigung für ihr erwachsene notwendige und verhältnismässig hohe Kosten zusprechen. Der Bundesgesetzgeber sieht demnach nicht vor, dass im Verwaltungsbeschwerdeverfahren der obsiegenden Partei, die durch einen Anwalt vertreten war, stets eine Parteientschädigung zugesprochen werden müsste. Zunächst liegt es in der Natur der sogenannten Kann-Vorschrift, dass der Behörde beim Entscheid, ob eine Parteientschädigung zuzusprechen sei oder nicht, ein erheblicher Spielraum des Ermessens zusteht. Zudem brauchen nicht immer "verhältnismässig hohe" Kosten zu entstehen, wenn ein Anwalt tätig wird. Da der Bundesgesetzgeber in einem Erlass aus neuerer Zeit - das VwVG wurde 1968 geschaffen - nicht vorschreibt, im Verwaltungsbeschwerdeverfahren müsse der obsiegenden Partei bei Beizug eines Anwalts eine Entschädigung zugesprochen werden, scheint die These des Beschwerdeführers, ein solcher Anspruch lasse sich direkt aus Art. 4 BV herleiten, bereits erschüttert.
Es ist freilich einzuräumen, dass sich in der neuern kantonalen Gesetzgebung über die Verwaltungsrechtspflege eine gewisse Tendenz abzeichnet, wonach auch im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden der obsiegenden, durch einen Anwalt vertretenen Partei im allgemeinen eine Entschädigung zukommen soll. Doch enthalten auch neuere Gesetze ganz wesentliche Vorbehalte. So bestimmt das Luzerner Gesetz über die Organisation des Verwaltungsgerichts und die Verwaltungsrechtspflege vom 3. Juli 1972 in § 201 Abs. 2 für Fälle, in denen nicht Parteien mit gegensätzlichen Interessen beteiligt sind: "Wenn der Vorinstanz grobe Verfahrensfehler oder offenbare Rechtsverletzungen zur Last fallen, wird der obsiegenden Partei zu Lasten des Gemeinwesens, dem die Vorinstanz angehört, eine angemessene Vergütung für ihre Vertretungskosten zugesprochen". Nach dem Wortlaut der Vorschrift ist somit eine Parteientschädigung nicht zuzusprechen, wenn der Vorinstanz nicht einer der genannten groben Fehler zur Last fällt. Nach Art. 41 des Beschlusses des Walliser Staatsrates vom 11. Oktober 1966 über das Verwaltungsverfahren vor dem Staatsrat und seinen Departementen kann dem obsiegenden Beteiligten, "wo besondere Verhältnisse es rechtfertigen", eine angemessene Entschädigung zugesprochen werden. Nach Art. 98 des St. Galler Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 16. Mai 1965 besteht "in Klagefällen, in Beschwerdeverfahren vor Verwaltungsgericht und wenn das Bundesrecht es vorschreibt", Anspruch auf Ersatz der ausseramtlichen Kosten; in den übrigen Fällen - also auch und vorab im Verwaltungsbeschwerdeverfahren - werden in der Regel keine ausseramtlichen Kosten zugesprochen. Nach § 17 des Zürcher Gesetzes über den Rechtsschutz in Verwaltungssachen (Verwaltungsrechtspflegegesetz) vom 24. Mai 1959 werden im Verfahren vor den Verwaltungsbehörden keine Parteientschädigungen zugesprochen. Im Rekursverfahren (und im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht) kann indessen die unterliegende Partei oder Amtsstelle zu einer angemessenen Entschädigung für die Umtriebe des Gegners verpflichtet werden, wenn ihre Rechtsbegehren oder die angefochtene Verfügung offensichtlich unbegründet waren. Nach § 36 Abs. 2 des aargauischen Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 9. Juli 1968 ist dem Obsiegenden im Verwaltungsbeschwerdeverfahren eine angemessene Entschädigung für Anwaltskosten zuzusprechen, sofern der Beizug eines Anwalts nicht offensichtlich unbegründet war. Am weitesten scheint Art. 19 der Verordnung des Urner Landrats über die Gebühren und Entschädigungen in der Verwaltung vom 12. Dezember 1973 zu gehen, der lautet: "Dem teilweise oder ganz obsiegenden Beschwerdeführer, dem im Verwaltungsverfahren Anwaltskosten entstanden sind, ist eine Parteientschädigung zuzuerkennen" (vgl. dazu BGE 104 Ia 6).
Diese durchaus unvollständige Übersicht zeigt, dass sich bis jetzt in der Schweiz kein allgemein anerkannter Rechtsgrundsatz herausgebildet hat, wonach im Verwaltungsbeschwerdeverfahren der obsiegenden, durch einen Anwalt vertretenen Partei eine Parteientschädigung zugesprochen werden muss. Es wäre nicht angängig, einen derartigen Anspruch unmittelbar aus Art. 4 BV herzuleiten. Die Kantone können im Rahmen der ihnen zustehenden gesetzgeberischen Gestaltungsfreiheit die Lösung wählen, die sie für richtig und angemessen halten. Das thurgauische Recht sieht die Möglichkeit, im Verwaltungsbeschwerdeverfahren eine Parteientschädigung zuzusprechen, vor, und das Bundesgericht hat nur zu prüfen, ob der Regierungsrat die betreffende kantonalrechtliche Vorschrift willkürlich angewendet hat.
2. Nach § 5 Abs. 2 des thurgauischen Gesetzes über die Administrativstreitigkeiten vom 14. März 1866 "kann" der obsiegenden Partei eine "angemessene Kostenentschädigung" zugesprochen werden. Da es sich bei diesem Gesetz nicht um einen modernen, sondern um einen aus dem letzten Jahrhundert stammenden Erlass handelt, ist es nicht unhaltbar, wenn die thurgauischen Behörden die Kann-Vorschrift des § 5 Abs. 2 eng auslegen, nämlich in dem Sinne, dass eine Parteientschädigung nur zuzusprechen ist, wenn ausserordentliche Umstände vorliegen. Diese Auslegung entspricht unbestrittenermassen einer langjährigen gefestigten Praxis. Der Wortlaut der Vorschrift schliesst eine solche zurückhaltende Auslegung nicht aus, und es ist auch nicht nachgewiesen, dass die Praxis der thurgauischen Behörden klarerweise dem Willen des historischen Gesetzgebers widerspricht. Die Annahme, nach dem Sinn von § 5 Abs. 2 sei eine Parteientschädigung nur ausnahmsweise zuzusprechen, erscheint vertretbar.
Es bleibt einzig zu prüfen, ob der Regierungsrat im konkreten Fall das Vorliegen ausserordentlicher Umstände, welche die Zusprechung einer Parteientschädigung aufdrängen, ohne Willkür verneinen durfte. Die Arbeit, die der Anwalt vor den beiden kantonalen Instanzen zu leisten hatte, ist zwar nicht gering einzuschätzen. Es lässt sich aber nicht sagen, die Beschwerdesache sei überdurchschnittlich kompliziert oder umfangreich gewesen oder sie habe einen aussergewöhnlichen Zeit- und Arbeitsaufwand erfordert. Der Regierungsrat verfiel daher nicht in Willkür, wenn er die Zusprechung einer Parteientschädigung ablehnte.