BGE 104 Ia 187
 
32. Auszug aus dem Urteil vom 8. November 1978 i.S. X. gegen Regierung des Kantons Graubünden
 
Regeste
Art. 4 BV; Zulassung zur kantonalen Grundbuchverwalterprüfung.
 
Sachverhalt
Der im Jahre 1955 geborene X. leistete einem Aufgebot für den am 10. Januar 1977 beginnenden Wiederholungskurs seiner Einheit keine Folge. Er wurde deshalb am 3. Mai 1977 vom Divisionsgericht 12 der Dienstverweigerung im Sinne von Art. 81 Ziff. 2 MStG schuldig gesprochen und zu drei Monaten Gefängnis, vollziehbar in den Formen der Haftstrafe, verurteilt, unter Gewährung des bedingten Strafvollzuges; ferner wurde er aus dem Heere ausgeschlossen.
X. hatte eine Lehre beim Grundbuchamt Landquart absolviert und vom 1. Mai 1974 bis zum 31. März 1977 beim Grundbuchinspektorat des Kantons Graubünden als Bereinigungsbeamter gearbeitet. Das Anstellungsverhältnis wurde mit Rücksicht auf die Verweigerung des Militärdienstes aufgelöst.
X. meldete sich zu der für den Mai 1978 vorgesehenen Prüfung zur Erlangung des Fähigkeitsausweises der Grundbuchverwalter (Patentprüfung) an. Die Regierung des Kantons Graubünden entschied am 12. Juni 1978, X. sei zur Prüfung nicht zuzulassen.
Das Bundesgericht heisst die gegen diesen Entscheid erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut.
 
Aus den Erwägungen:
2. a) Gemäss Art. 1 der Verordnung über den Fähigkeitsausweis der Grundbuchverwalter vom 18. Juli 1957 werden zur Grundbuchverwalterprüfung nur Personen zugelassen, die - neben anderen persönlichen und fachlichen Voraussetzungen - einen guten Leumund besitzen. In der Notariatsverordnung vom 25. November 1958 lautet die entsprechende Bestimmung von Art. 9 Abs. 1 Ziff. 7, der Anwärter müsse "einen unbescholtenen Lebenswandel führen", was als gleichbedeutend gelten kann. Die Regierung des Kantons Graubünden hält dafür, dieses Erfordernis sei beim Beschwerdeführer nicht vorhanden. Sie stützt sich dabei ausschliesslich auf das militärgerichtliche Urteil vom 3. Mai 1977. Im übrigen ist der Ruf des Beschwerdeführers, wie sich aus einem Bericht des Grundbuchinspektorates Graubünden vom 3. April 1978 ergibt, ungetrübt, und seine fachliche Qualifikation sogar ausgezeichnet.
b) Es gibt keinen bundesrechtlichen Begriff des "guten Leumundes". Im allgemeinen wird darunter das Fehlen nicht gelöschter Vorstrafen verstanden; es ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass der Leumund einer Person auch bei Fehlen solcher Eintragungen im Strafregister getrübt sein kann (BGE 100 Ia 197 f. E. 5a). Geht es indessen nicht um die Ausstellung eines Leumundzeugnisses, sondern um die Frage, ob ein Gesuchsteller mit Rücksicht auf seinen Leumund zu einer Prüfung oder zu einem der Bewilligungspflicht unterstehenden Beruf zuzulassen sei, so darf sich die beurteilende Behörde nicht mit einer rein formellen Betrachtungsweise begnügen. In solchen Fällen ist vielmehr auf Grund des aus Art. 4 BV abgeleiteten Grundsatzes der Verhältnismässigkeit konkret zu prüfen, ob die Lebensführung des Anwärters mit einem Makel behaftet sei, der ihn als zur Ausübung des betreffenden Berufes ungeeignet erscheinen lasse. Das Erfordernis des guten Leumundes ist somit verfassungsgemäss, d.h. unter dem Gesichtswinkel der Zweckangemessenheit auszulegen (vgl. U. ZIMMERLI, Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit im öffentlichen Recht, ZSR 1978, II. Halbband, S. 45 und S. 96; P. MÜLLER, Le principe de la proportionnalité, a.a.O., S. 225 f.). Für den Beruf eines Grundbuchverwalters darf zweifellos gefordert werden, dass der Anwärter nicht wegen eines Tatbestandes vorbestraft sei, der seinen Charakter und namentlich seine Vertrauenswürdigkeit in Frage stellen würde.
c) Prüft man das Urteil des Divisionsgerichtes 12 vom 3. Mai 1977 in diesem Lichte, so geht schon aus dem Dispositiv hervor, dass dem Beschwerdeführer ein Handeln aus einer religiös-ethischen Überzeugung und in schwerer Gewissensnot zugebilligt wurde; deshalb gelangte der seit der Revision vom 5. Oktober 1967 privilegierte Tatbestand von Ziffer 2 des die Dienstversäumnis regelnden Art. 81 MStG zur Anwendung. Dass das Gesetz einen Täter, der unter diese Vorschrift fällt, nicht als von vornherein mit einem Charakterfehler behaftet betrachtet, ergibt sich aus der Ausgestaltung der strafrechtlichen Folgen seines Verhaltens. Die Strafdrohung ist geringer, und eine allfällige Gefängnisstrafe ist in der milderen Form der Haft zu vollziehen. Der Täter kann richterlich aus dem Heere ausgeschlossen werden, um ihn nicht nochmals in einen gleichartigen Gewissenskonflikt zu bringen. Von der Einstellung in der bürgerlichen Ehrenfähigkeit konnte schon abgesehen werden, bevor diese Nebenstrafe durch die Revision vom 4. Oktober 1974 überhaupt aus dem MStG gestrichen wurde. Dies alles zeigt, dass der Gesetzgeber den Dienstverweigerer aus Gewissensgründen zwar bestraft, jedoch nicht gleich wie irgend einen anderen Rechtsbrecher beurteilt sehen wollte. Es geht daher nicht an, auf Grund einer Verurteilung gemäss Art. 81 Ziff. 2 MStG allein den Leumund des Bestraften für den zivilen Bereich als getrübt zu betrachten. Besondere Gründe, die geeignet wären, auf den Beschwerdeführer ein schlechtes Licht zu werfen, führt die Regierung nicht an, und sie ergeben sich auch nicht aus den Motiven des militärgerichtlichen Urteils. Dort wird vielmehr zugunsten des Beschwerdeführers dargelegt, seine schwere Gewissensnot und der Ernst seiner Haltung gingen u.a. daraus hervor, dass er es in Kauf genommen habe, seiner Dienstverweigerung wegen die Anstellung als kantonaler Beamter zu verlieren. Auch bei der Strafzumessung wird auf das einwandfreie Vorleben hingewiesen.
d) Die Regierung führt aus, der Beschwerdeführer zeige "eine negative Einstellung zur Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflichten". Dieser Satz lässt sich unter Berücksichtigung des bereits Gesagten in derart allgemeiner Form nicht aufrechterhalten. Der Beschwerdeführer hat nicht "staatsbürgerliche Pflichten" nicht erfüllt, sondern nur eine bestimmte Pflicht, nämlich diejenige zur Leistung von Militärdienst, und das unter vom Militärgericht ausdrücklich anerkannten mildernden Umständen. Das Gericht hat im Zusammenhang mit der Frage der Gewährung des bedingten Strafvollzuges ausdrücklich erklärt, dem Beschwerdeführer könne "eine ausgezeichnete Prognose hinsichtlich der Einhaltung anderer Gebote der Rechtsordnung gestellt werden". Die erwähnte Feststellung der Regierung hinsichtlich der Haltung des Beschwerdeführers zu seinen staatsbürgerlichen Pflichten findet somit in den Akten keine ausreichende Stütze und erscheint demgemäss als willkürlich.
Auch diese Formulierung erscheint im Hinblick auf den Verhältnismässigkeitsgrundsatz als hart. Ob sie geradezu unhaltbar sei und damit gegen Art. 4 BV verstiesse, kann indessen dahingestellt bleiben. Der Beschwerdeführer hat seine Entlassung aus dem Staatsdienst nicht angefochten, und er hat sich in dem Verfahren, das Gegenstand der vorliegenden Beschwerde bildet, nicht neuerdings um eine Staatsstelle beworben. Er ersucht einzig um Zulassung zu einer Prüfung, die ihm die Möglichkeit gibt, sich um die Stelle eines Grundbuchverwalters zu bewerben; ein Anspruch auf die Wahl an eine solche Stelle steht ihm nach Bestehen der Prüfung nicht zu. Es wird gegebenenfalls Sache der Gemeinde sein, in der sich der Beschwerdeführer um eine Anstellung als Grundbuchverwalter bewirbt, darüber zu befinden, ob sie ihm ungeachtet seiner militärgerichtlichen Verurteilung und der darin zum Ausdruck kommenden inneren Haltung ihr Vertrauen schenken wolle oder nicht. Ein Sachzusammenhang, der einen Dienstverweigerer gerade für das Amt eines Grundbuchverwalters im vornherein als untragbar erscheinen liesse, wird von der Regierung nicht dargetan (vgl. zu dieser Frage auch BGE 103 Ia 552 E. 6d).
Der angefochtene Beschluss der Regierung des Kantons Graubünden widerspricht somit Art. 4 BV und ist demgemäss aufzuheben.