BGE 104 Ia 278 |
44. Auszug aus dem Urteil vom 1. März 1978 i.S. Kantorik gegen Profina AG und Rekurskommission des Kantonsgerichts St. Gallen |
Regeste |
Art. 59 BV; Gerichtsstandsklausel. |
Sachverhalt |
Vilém Kantorik schloss am 22. November 1976 mit der Profina AG einen Vertrag über die Miete eines Personenwagens. In der Folge ergaben sich zwischen den Parteien Meinungsverschiedenheiten, und die Profina AG erlangte beim Bezirksgerichtspräsidium Oberrheintal provisorische Rechtsöffnung für den Betrag von Fr. 1746.-. Als Kantorik bei der Gerichtskommission Oberrheintal Aberkennungsklage einreichte, bestritt die Profina AG die Zuständigkeit des angerufenen Gerichts mit der Begründung, die Parteien hätten im erwähnten Mietvertrag Zürich 11 als Gerichtsstand vereinbart. Die Gerichtskommission Oberrheintal trat auf die Klage wegen örtlicher Unzuständigkeit nicht ein, und die Rekurskommission des Kantonsgerichts St. Gallen wies die dagegen erhobene Berufung ab. Sie nahm an, Kantorik habe im Vertrag vom 22. November 1976 gültig auf den Wohnsitzgerichtsstand verzichtet.
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Das Bundesgericht heisst die wegen Verletzung von Art. 59 BV erhobene staatsrechtliche Beschwerde gut.
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Aus den Erwägungen: |
3. Die Rekurskommission des Kantonsgerichts nahm an, der Beschwerdeführer habe mit der Eingehung des Mietvertrages vom 22. November 1976 gültig auf den Richter an seinem Wohnort verzichtet, da die im Vertrag enthaltene Gerichtsstandsklausel den von der Rechtsprechung umschriebenen Anforderungen genüge. Ein solcher Verzicht darf nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts nicht leichthin angenommen werden. Es bedarf dazu einer ausdrücklichen Erklärung, deren Inhalt unmissverständlich ist und den Willen, einen anderen Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringt. Befindet sich die Gerichtsstandsvereinbarung in einem Formularvertrag, so ist nach der Rechtsprechung erforderlich, dass die Klausel an einer für den Verzichtenden gut sichtbaren Stelle angebracht ist und hervortritt (BGE 93 I 327 f.; BGE 91 I 14; BGE 87 I 56 f., 51 f.; 85 I 150 E. 2; BGE 84 I 36 f. mit Hinweisen).
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Wie in BGE 91 I 15 dargelegt worden ist, hat das Bundesgericht beim Entscheid darüber, ob der Inhalt einer Gerichtsstandsklausel unmissverständlich sei und den Willen, einen anderweitigen Gerichtsstand zu begründen, klar und deutlich zum Ausdruck bringe, seit jeher besonders berücksichtigt, ob der Verzichtende geschäftlich erfahren und rechtskundig sei, oder ob er insoweit über keine genügenden Kenntnisse verfüge. Die Berücksichtigung dieses Umstandes kann zur Folge haben, dass eine bestimmte Gerichtsstandsklausel in einem Fall zu einer gültigen Gerichtsstandsvereinbarung führt, während sie in einem anderen nicht geeignet ist, einen Verzicht auf den Wohnsitzrichter zu bewirken. Grund für diese Rechtsprechung ist, dass Vereinbarungen prozessrechtlicher Natur gleich wie Verträge allgemein nach Massgabe des Vertrauensprinzips zu beurteilen sind. Ob ein gültiger Verzicht auf den Wohnsitzrichter vorliegt, hängt demnach davon ab, ob der Vertragspartner des Verzichtenden in guten Treuen annehmen durfte, sein Gegenkontrahent habe mit dem Akzept zum Vertrag auch der darin enthaltenen Gerichtsstandsvereinbarung zugestimmt (BGE 93 I 328). Da die in einem Formularvertrag oder in allgemeinen Geschäftsbedingungen enthaltene Gerichtsstandsklausel in der Regel eine geschäftsfremde und damit ungewöhnliche Bestimmung darstellt und zudem ein verfassungsmässiges Recht beschränkt, ist diese Annahme nur dann gerechtfertigt, wenn davon ausgegangen werden kann, der Verzichtende habe von der Gerichtsstandsklausel tatsächlich Kenntnis genommen und ihre Bedeutung richtig erkannt (vgl. dazu MERZ, Massenvertrag und allgemeine Geschäftsbedingungen, jetzt in: Ausgewählte Abhandlungen zum Privat- und Kartellrecht, 1977, S. 327 f.; SCHÖNENBERGER/JÄGGI, Komm., N. 498 ff. zu Art. 1 OR; ferner BGE 98 Ia 321). Ist der Verzichtende geschäftserfahren und rechtskundig, so darf sein Vertragspartner einen solchen bewussten Verzicht auf den Wohnsitzrichter in aller Regel dann annehmen, wenn die Klausel den formellen Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung entspricht, d.h. wenn sie unmissverständlich ist, sich an einer gut sichtbaren Stelle befindet und durch ihre drucktechnische Gestaltung hervortritt. Unter diesen Umständen kann von einem erfahrenen und rechtskundigen Geschäftspartner erwartet werden, dass er die Gerichtsstandsklausel beachtet und versteht, ferner, dass er sie ausdrücklich ablehnt, wenn er mit dem Verzicht auf den Wohnsitzrichter nicht einverstanden ist. Das gilt jedoch nicht in gleicher Weise, wenn der Verzichtende geschäftlich nicht gewandt und rechtsunkundig ist. Es entspricht der Erfahrung, dass ein solcher Vertragspartner die in einem Formularvertrag enthaltene Gerichtsstandsklausel häufig auch dann nicht bemerkt oder ihre Tragweite nicht richtig erkennt, wenn die Klausel an sich unmissverständlich abgefasst und von den übrigen Vertragsbestimmungen abgehoben ist. Damit der Gegenkontrahent einer geschäftlich unerfahrenen und rechtsunkundigen Partei annehmen kann, sein Vertragspartner habe auf die Garantie des Wohnsitzrichters bewusst verzichtet, kann deshalb über die formellen Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung hinaus notwendig sein, dass der Verzichtende auf die Gerichtsstandsklausel in besonderer Weise hingewiesen und dass ihm deren Bedeutung erklärt wird. In diesem Sinne ist die bisherige Rechtsprechung zu präzisieren.
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b) Der Inhalt dieser Gerichtsstandsvereinbarung ist unmissverständlich und entspricht in der Formulierung der Art und Weise, wie Gerichtsstandsklauseln üblicherweise abgefasst werden. Die Vereinbarung lässt sich offensichtlich nicht mit den Klauseln gleichsetzen, die das Bundesgericht als unklar bezeichnet hat und die aus diesem Grunde nicht zu einem gültigen Verzicht auf den Wohnsitzrichter führen konnten (vgl. BGE 93 I 329; BGE 91 I 14 E. 3b; BGE 85 I 150 E. 2). Was die äussere Gestaltung der Klausel betrifft, so fällt vorab auf, dass sie sich auf der Rückseite des Vertrages befindet, während die Unterschriften der Parteien auf der Vorderseite angebracht sind. Dieser Umstand steht der Verbindlichkeit der Vereinbarung jedoch nicht entgegen, denn vor der Unterschrift des Mieters befindet sich ein nicht zu übersehender Hinweis darauf, dass auch die Rückseite des Vertrages Bestimmungen enthalte, denen der Mieter mit seiner Unterschrift zustimme. In diesem Sinne hat das Bundesgericht bereits in BGE 93 I 328 entschieden (vgl. aber die in BGE 98 Ia 321 E. 5a geäusserten Bedenken für den Fall, dass die Gerichtsstandsklausel in allgemeinen Geschäftsbedingungen enthalten ist, auf die in der Vertragsofferte verwiesen wird und die dieser lediglich beiliegen). Die Gerichtsstandsklausel ist die letzte Bestimmung des rückseitigen Vertragstextes und steht unter der fettgedruckten Überschrift "Gerichtsstand". Sie ist zudem als einzige Bestimmung selber fettgedruckt. Insoweit kann ihre formelle Gestaltung nicht bemängelt werden. Zu beanstanden ist jedoch, dass sich die Klausel trotz des Fettdrucks vom gesamten Schriftbild des Vertrages nur relativ geringfügig unterscheidet, da die meisten Vertragsbestimmungen mit Überschriften versehen sind, deren Druck jenem der Gerichtsstandsklausel und ihrer Überschrift entspricht. Ferner sind die Titel, die den drei rückseitigen Vertragsabschnitten vorangestellt sind (Beendigung des Mietvertrages, Folgen von Vertragsverletzungen, Nebenbestimmungen), sogar erheblich auffälliger gedruckt als die Gerichtsstandsklausel und ihre Überschrift. Bei dieser Sachlage kann man sich mit guten Gründen fragen, ob die Klausel vom übrigen Vertragstext genügend abgehoben sei. Berücksichtigt man indes, dass die Rückseite des Vertrages weder überladen noch sonstwie unübersichtlich wirkt, sondern im Gegenteil graphisch locker gestaltet und gut gegliedert ist, so lässt sich gleichwohl sagen, dass die formelle Gestaltung der Klausel den Anforderungen der bundesgerichtlichen Rechtsprechung genügt. Wäre der Vertrag von einem erfahrenen Geschäftsmann abgeschlossen worden, so müsste dieser die Gerichtsstandsvereinbarung deshalb als verbindlich gegen sich gelten lassen.
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c) Im vorliegenden Fall verhält es sich jedoch anders. Der Beschwerdeführer ist im Sommer 1974 als Flüchtling aus der Tschechoslowakei in die Schweiz eingereist. Er ist von Beruf Maschineningenieur und es erscheint daher glaubhaft, dass er bei Unterzeichnung des Mietvertrages im November 1976 mit den sich stellenden Rechtsfragen nicht vertraut war. In der staatsrechtlichen Beschwerde wird zudem geltend gemacht, der Beschwerdeführer habe im Zeitpunkt des Vertragsschlusses nur minimale Deutschkenntnisse besessen. Die Beschwerdegegnerin bestreitet das und behauptet, der Beschwerdeführer habe die deutsche Sprache genügend beherrscht, um den Vertragstext zu verstehen. Wie es sich damit verhält, kann hier dahingestellt bleiben. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen wollte, der Beschwerdeführer habe im Zeitpunkt des Vertragsschlusses bereits gut Deutsch verstanden und den ganzen Vertrag durchgelesen, so konnte er glaubhafterweise nicht wissen, was die am Schluss des Vertrages stehende Gerichtsstandsklausel bedeute. Bei dieser Sachlage konnte die Gegenkontrahentin nach Treu und Glauben nicht annehmen, der Beschwerdeführer habe mit seiner Unterschrift zum Vertrag bewusst auch auf die Garantie des Wohnsitzrichters verzichtet. Sie hätte davon nur dann ausgehen können, wenn zusätzliche Gewähr dafür bestanden hätte, dass der Beschwerdeführer die Bedeutung der Gerichtsstandsklausel richtig erfasse. Das war jedoch nicht der Fall. Zwar macht die Beschwerdegegnerin geltend, mit dem Beschwerdeführer seien die wichtigsten Bestimmungen des Mietvertrages besprochen worden, und sie beantragt, es sei ihr Sachbearbeiter als Zeuge einzuvernehmen. Davon kann indes abgesehen werden, weil die Beschwerdegegnerin selber nicht behauptet, ihr Sachbearbeiter habe neben den das Mietobjekt betreffenden Bestimmungen auch die Gerichtsstandsvereinbarung als wichtige Vertragsbestimmung erachtet und er habe den Beschwerdeführer aus diesem Grunde auf die Klausel und ihre Tragweite besonders aufmerksam gemacht. Es ergibt sich deshalb, dass durch die Unterschrift des Beschwerdeführers zum Mietvertrag vom 22. November 1976 kein gültiger Verzicht auf die Garantie des Wohnsitzrichters zustande kam, weshalb die staatsrechtliche Beschwerden gutzuheissen ist.
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