BGE 105 Ia 157
 
32. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 10. Juli 1979 i.S. Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke gegen Kernkraftwerk Kaiseraugst AG, Bezirksgericht Rheinfelden und Obergericht des Kantons Aargau (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 und 58 BV; Ausstand eines Gerichts in seiner Gesamtheit.
2. Aus Art. 58 Abs. 1 BV ergibt sich, dass der Ausstand eines Gerichts in seiner Gesamtheit nur aus erheblichen Gründen bewilligt werden soll (E. 6a und b).
3. Abwägung im konkreten Fall (E. 6c).
 
Sachverhalt
Die §§ 17 ff. der aargauischen Zivilprozessordnung (ZPO) regeln "Ausstand und Ablehnung des Richters und des Protokollführers". § 17 ZPO zählt in den lit. a-h die Gründe auf, in welchen Gerichtspersonen von Amtes wegen zum Austritt verhalten sind. Lit. g dieser Bestimmung nennt namentlich den Fall, in welchem der Richter in derselben Streitsache schon früher als Richter oder Schiedsrichter beim Erlass eines Urteils mitgewirkt hat. Die §§ 18 ff. ZPO befassen sich mit den Ablehnungsgründen. Gemäss § 18 Abs. 2 ZPO kann ein Richter wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Nach Abs. 4 derselben Vorschrift kann sich ein Richter ohne Ablehnungsgesuch einer Partei wegen Besorgnis der Befangenheit nur dann in den Austritt begeben, wenn das für die Erledigung eines Ablehnungsgesuches zuständige Gericht den Austritt gemäss § 18 Abs. 2 als gerechtfertigt erachtet. Die Ablehnung eines Mitgliedes oder des Protokollführers des Bezirksgerichtes geschieht laut § 21 Abs. 1 ZPO beim Bezirksgericht, die des Bezirksgerichtspräsidenten oder eines Bezirksgerichtes in seiner Gesamtheit oder in der Mehrzahl seiner Mitglieder beim Obergericht.
Am 5. Juni 1975 reichte das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke beim Bezirksgericht Rheinfelden Klage gegen die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG ein mit dem Antrag, es sei der Beklagten der Bau des Kernkraftwerkes Kaiseraugst zu verbieten; eventualiter sei der Bau nur mit solchen Auflagen zu gestatten, die Leben und Gesundheit der Bevölkerung und deren Nachkommen hinreichend sicherstellen. Die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG beantragte, die Klage abzuweisen.
Das Bezirksgericht führte den Schriftenwechsel durch und beschloss schliesslich am 15. November 1978, in allen mit dem Kernkraftwerk Kaiseraugst zusammenhängenden Straf- und Zivilprozessen in seiner Gesamtheit in den Ausstand zu treten. Es begründete diesen Beschluss mit dem Austrittsgrund des früheren Handelns in derselben Streitsache (§ 17 lit. g ZPO und § 41 Ziff. 3 StPO).
Das Obergericht des Kantons Aargau (I. Zivilabteilung) behandelte Disp. 2 dieses Beschlusses als den erwähnten Zivilprozess betreffendes Ausstandsbegehren und stellte es den Parteien zur Vernehmlassung zu. Das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke beantragte, das Gesuch abzulehnen; die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG erklärte, sie habe gegen das Begehren nichts einzuwenden.
Mit Beschluss vom 23. Februar 1979 bewilligte die I. Zivilabteilung des Obergerichtes das Ausstandsbegehren des Bezirksgerichts Rheinfelden und beauftragte das Bezirksgericht Bremgarten mit der Behandlung und Beurteilung des Zivilprozesses. Zur Begründung wurde ausgeführt, zwar sei der vom Bezirksgericht Rheinfelden genannte Ausstandsgrund von § 17 lit. g ZPO nicht gegeben, doch liege der Sinn des Ausstandsbegehrens offenbar darin, dass Besorgnis der Befangenheit im Sinne von § 18 Abs. 4 ZPO geltend gemacht werden sollte. Unter diesem Gesichtswinkel hielt das Obergericht das Gesuch für begründet. Es erschien ihm als glaubhaft, dass das Bezirksgericht Rheinfelden sich in seiner Gesamtheit befangen fühle, d.h. ernsthaft befürchte, den vorliegenden Zivilprozess nicht mehr unbeeinflusst von den im Zusammenhang mit dem geplanten Kernkraftwerkbau eingetretenen und allenfalls noch eintretenden politischen Ereignissen beurteilen zu können.
Das Nordwestschweizer Aktionskomitee gegen Atomkraftwerke führt staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, diesen Entscheid aufzuheben. Es stützt sich auf die Art. 4 und 58 BV, ferner auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK und auf Art. 55 der aargauischen Kantonsverfassung. Auf die Begründung der Beschwerde wird im übrigen im Zusammenhang mit den rechtlichen Erwägungen einzutreten sein, soweit dies erforderlich ist. Die Kernkraftwerk Kaiseraugst AG beantragt, die Beschwerde abzuweisen. Die I. Zivilabteilung des Obergerichtes hat eine kurze Vernehmlassung eingereicht, ohne einen ausdrücklichen Antrag zu stellen. Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.
 
Aus den Erwägungen:
Die Handhabung kantonaler Gesetzes- oder Verordnungsbestimmungen prüft das Bundesgericht, sofern nicht ein besonders schwerer Eingriff in ein verfassungsmässiges Recht vorliegt, nur unter dem Gesichtswinkel der Willkür. Frei prüft es dagegen, ob die als willkürfrei erkannte Auslegung des kantonalen Gesetzes- und Verordnungsrechts vor den angerufenen verfassungsmässigen Rechten des Bundes und des Kantons sowie vor den Garantien der Europäischen Menschenrechtskonvention standhält (BGE 103 Ia 431 E. 4a mit Verweisungen).
b) Weiter ist zu untersuchen, ob das Obergericht die Art. 17 ff. ZPO willkürlich ausgelegt hat, indem es den Ausstandsgrund der "Besorgnis der Befangenheit" (§ 18 Abs. 2 und 4 ZPO) als gegeben erachtet hat.
Nach § 18 Abs. 2 ZPO besteht Besorgnis der Befangenheit, wenn Gründe vorliegen, die geeignet sind, Misstrauen in die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Das Gesetz verlangt also nicht, das bereits eine konkrete Befangenheit vorliegt, sondern legt Gewicht darauf, jedes Handeln eines auch nur nach den Umständen als befangen erscheinenden Richters im vorneherein auszuschliessen.
Wann Besorgnis der Befangenheit vorliegt, lässt sich nach der Natur dieses Begriffs nicht in allgemeiner Form ausdrücken. Zwar kann die blosse Behauptung der Befangenheit für sich allein nicht genügen, sondern sie muss durch objektive Umstände gestützt sein. Da es sich bei der Befangenheit um einen inneren Zustand handelt, können an ihren Nachweis aber keine allzu strengen Anforderungen gestellt werden (GEISER, Über den Ausstand des Richters im schweizerischen Zivilprozessrecht, Winterthur 1957, S. 66).
Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Kampf um das Kernkraftwerk Kaiseraugst im Bezirk Rheinfelden mit besonderer Intensität geführt wird. Es ist daher durchaus denkbar, dass sich die im Bezirk wohnhaften Richter in einer dieses Kernkraftwerk betreffenden Streitsache nicht mehr völlig frei fühlen. Das Obergericht ist unter diesen Umständen nicht in Willkür verfallen, wenn es der im Ausstandsbegehren sinngemäss zum Ausdruck kommenden Erklärung sämtlicher Mitglieder des Bezirksgerichts Rheinfelden, sie fühlten sich ausserstande, den hängigen Rechtsstreit unvoreingenommen zu entscheiden, Glauben geschenkt und angenommen hat, die Besorgnis der Befangenheit sei begründet. Weitere Abklärungsmöglichkeiten bestanden bei dieser Sachlage für das Obergericht nicht. Es war daher vertretbar, das Interesse des Beschwerdeführers, den Prozess am Ort der gelegenen Sache auszutragen, aufgrund der §§ 18 und 21 ZPO zurücktreten zu lassen.
Lehre und Praxis haben den Art. 58 Abs. 1 BV vor allem nach zwei Richtungen hin entwickelt, was im folgenden näher zu betrachten ist:
a) Einerseits will Art. 58 Abs. 1 BV eine durch Rechtssatz bestimmte Gerichtsordnung garantieren. Es soll nicht durch die Auswahl von ad hoc und ad personam berufenen Richtern die Entscheidung selbst beeinflusst werden (MÜLLER, Die Garantie des verfassungsmässigen Richters in der Bundesverfassung, ZBJV 1970, 249 ff., 253; BEYELER, Das Recht auf den verfassungsmässigen Richter als Problem der Gesetzgebung, Zürich 1978, S. 24 ff.; ähnlich: GRAVEN, La garantie du juge naturel et l'exclusion des tribunaux d'exception, in: Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht, Zürich 1948, S. 209 ff., 219 f.). Dieser Grundsatz war historisch vor allem gegen Einwirkungen von aussen, namentlich gegen jede Form von Kabinettsjustiz gerichtet. In der Lehre wird heute indessen die Auffassung vertreten, die Garantie erfasse auch den Anspruch, dass niemand zufolge von Entscheiden innerhalb der Gerichtsorganisation vor einem willkürlich berufenen Richter Recht nehmen müsse (MÜLLER, a.a.O., S. 253; BEYELER, a.a.O., S. 24 ff., 48 f., 104 ff. und die dort angeführten Verweisungen auf die ausländische Literatur).
b) Allerdings verbürgt die regelhafte Umschreibung der örtlichen und sachlichen Zuständigkeit der Gerichtsbehörden für sich allein noch nicht die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Rechtsprechung. Zur formellen Zuständigkeitsordnung treten vielmehr Bestimmungen hinzu, die verhindern sollen, dass Umstände, welche ausserhalb des Prozesses liegen, in sachwidriger Weise zugunsten oder zuungunsten einer Partei auf das Urteil einwirken. Die kantonalen Bestimmungen über den Ausstand und der aus Art. 58 Abs. 1 BV folgende, durch die bundesgerichtliche Rechtsprechung entwickelte Anspruch auf einen unabhängigen und unparteiischen Richter (BGE 104 Ia 273 E. 3 mit Verweisungen) wollen daher verhindern, dass jemand als Richter tätig ist, der unter solchen Einflüssen steht und deshalb kein "rechter Mittler" (BGE 33 I 146) mehr sein kann.
c) Zwar gehören auch die Bestimmungen über den Ausstand zu den Zuständigkeitsvorschriften. Wird aber zufolge Ausstandes oder Ablehnung ein Richter oder ein ganzes Gericht in einem bestimmten Fall von seiner Amtspflicht entbunden, so hat dies zur Folge, dass nicht der primär für diesen Streit vorgesehene, sondern ein gesetzlich nur subsidiär zuständiger oder sogar ein durch Einzelverfügung bestellter Richter in dieser Sache entscheiden muss. Der Anspruch auf einen unparteiischen Richter steht daher mit dem Anspruch auf den (primär) gesetzlich vorgesehenen Richter in einem gewissen Spannungsverhältnis, dem bei der Konkretisierung des Art. 58 Abs. 1 BV Rechnung zu tragen ist.
6. a) Umstände, die auf die Unparteilichkeit eines Richters einwirken, können zunächst in äusseren Tatbeständen wie früherem Mitwirken am Rechtsstreit, Abhängigkeits- oder Verwandschaftsverhältnissen oder in einem sonstwie gearteten Interesse am Prozessausgang liegen. Abgesehen von solchen Gegebenheiten, denen die gesetzlichen Ausstandsgründe im allgemeinen Rechnung tragen, können aber auch andere Einflüsse, wie etwa gesellschaftliche Sitten, Gewohnheiten, Werturteile, die öffentliche Meinung oder bestimmte politische Ereignisse, auf die Unabhängigkeit des richterlichen Urteils einwirken und die innere Freiheit des Richters beeinträchtigen (EICHENBERGER, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, Bern 1960, S. 49 ff.; BEYELER, a.a.O., S. 63 ff.). Kein Richter wird jemals restlos frei von solchen Einflüssen sein (vgl. MÜLLER, a.a.O., S. 255). Dies wäre nicht einmal wünschbar, denn vom Richter werden mit Recht Lebensnähe, Erfahrung und menschliches Verständnis erwartet. Insbesondere ist auch der Richter Staatsbürger; er darf und soll eine politische Meinung haben, und er darf diese, soweit er es mit seinem Amte vereinbaren kann, auch vertreten.
Gerade weil der Richter nicht losgelöst von der sozialen Wirklichkeit urteilen kann, muss von ihm andererseits eine gewisse Festigkeit gegenüber solchen Einflüssen verlangt werden (GEISER, a.a.O., S. 26; HAUSER, Die Rechtsprechung des Bundesgerichts auf dem Gebiete des Gerichtsverfassungsrechts, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, Basel 1975, S. 540 ff.; EICHENBERGER, a.a.O., S. 52; BEYELER, a.a.O., S. 66 ff.). "Vom Richter kann und muss erwartet werden, dass er seine Unvoreingenommenheit wahrt" (BGE 104 Ia 274). Nicht jeder beliebige Einfluss dieser Art, dem der Richter im täglichen Leben ausgesetzt ist, vermag eine Befangenheit zu begründen, welche ihn unfähig macht, in einer Streitsache als Richter zu amten. Das Postulat der richterlichen Unparteilichkeit verlangt insbesondere nicht, dass er wegen des blossen Umstandes, dass er sich in einer bestimmten Sachfrage eine Meinung gebildet hat, in einem Prozess, der mit dieser Frage zusammenhängt, in den Ausstand treten muss. Aus dem Wortlaut des Art. 58 Abs. 1 BV ist im Gegenteil zu folgern, dass der Ausstand nicht leichthin, sondern nur aus erheblichen Gründen bewilligt werden soll. Insbesondere darf sich ein Richter nicht ihm unbequemer Prozesse entschlagen. Der Ausstand muss Ausnahme bleiben (vgl. GEISER, a.a.O., S. 65, 96; HAUSER/HAUSER, Erläuterungen zum Gerichtsverfassungsgesetz des Kantons Zürich, Zürich 1978, S. 382), denn sonst bestünde die Gefahr, dass die regelhafte Zuständigkeitsordnung für die Gerichte bis zu einem gewissen Grade illusorisch und die Garantie des verfassungsmässigen Richters von dieser Seite her ausgehölt werden könnte. In diesem Sinne muss zwischen den in Art. 58 Abs. 1 BV angelegten gegenläufigen Prinzipien ein vernünftiger Ausgleich gefunden werden.
b) Im Gegensatz zur Mehrheit der schweizerischen Kantone sieht § 21 der aargauischen ZPO vor, dass der Ausstand nicht bloss einzelnen Gerichtspersonen, sondern auch einem Gericht in seiner Gesamtheit bewilligt werden kann. Ähnliche Regeln finden sich beispielsweise in Art. 42 Abs. 3 der waadtländischen und in § 69 Abs. 1 der thurgauischen Zivilprozessordnung. Ausserdem wird dieses Vorgehen in einzelnen weiteren Kantonen (z.B. Wallis) praktiziert, ohne dass eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage dafür bestünde. Andere Kantone treffen Vorsorge für den Fall, dass wegen Ablehnung einer Mehrzahl der Richter eines Gerichts dieses nicht mehr vollzählig amten kann, und sehen unter dieser Voraussetzung die Ernennung ausserordentlicher Stellvertreter oder die Überweisung der Sache an ein anderes Gericht vor (z.B. Art. 13 Abs. 2 des St. Galler Zivilrechtspflegegesetzes; § 103 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes). Der Kanton Zug endlich sieht die Möglichkeit der Zuteilung einer Streitsache an ein anderes Gericht vor, wenn das zuständige Gericht beharrlich Recht verweigert (§ 43 des Gerichtsverfassungsgesetzes; ähnlich früher Zürich, § 114 aGVG; heute etwas veränderte Fassung in § 108 Abs. 1 rev. GVG). Das historische Vorbild für diese Regelungen dürfte im französischen Zivilprozessrecht liegen, welches im Zuge der Revolution neu geordnet wurde (sog. "renvoi [d'un tribunal à un autre] pour cause de suspicion légitime ou de sûreté publique"; vgl. Art. 65 der Verfassung der französischen Republik vom 22. Frimaire des Jahres VIII und Art. 27 des Gesetzes vom 27. Ventôse des Jahres VIII; heute ersetzt durch Art. 356 ff. der neuen Zivilprozessordnung vom 5. Dezember 1975; vgl. Vincent, Procédure civile, 18. Auflage, Paris 1976, S. 202 f.).
Die Kantone sind kraft ihrer verfassungsmässigen Zuständigkeit für das Gerichtswesen befugt, solche Regeln zu erlassen. Diese verstossen als solche nicht gegen Art. 58 Abs. 1 BV. Ihre Anwendung im Einzelfall kann jedoch diese Bestimmung verletzen, wenn sie ohne triftige Gründe erfolgt. Insbesondere wird sie in der Regel strenger sein müssen, als dies bei der Bewilligung des Ausstandes einzelner Gerichtspersonen der Fall ist, da eine solche Zuteilung einer Streitsache an ein anderes als das primär zuständige Gericht die Garantie des Art. 58 Abs. 1 BV stärker tangiert als der Ausstand eines einzelnen Gerichtsmitgliedes. Wie es sich damit im vorliegenden Fall verhält, wird im folgenden zu untersuchen sein. Das Bundesgericht ist - wie erwähnt - bei der Prüfung dieser Fragen grundsätzlich frei, übt aber bei der Würdigung der besonderen örtlichen, sachlichen und persönlichen Verhältnisse des Einzelfalles Zurückhaltung (BGE 101 Ia 256 f. E. 3c, 481 E. 5c).
c) Dem Bezirksgericht Rheinfelden wurde der Ausstand bewilligt, weil der geplante Bau eines Kernkraftwerks in Kaiseraugst zu grossen Spannungen und heftigen Streitigkeiten zwischen Kernkraftgegnern und der Kernkraftwerk Kaiseraugst AG geführt hatte, welche nach den Feststellungen des Obergerichts einen erheblichen Teil der Bevölkerung in ihren Bann gezogen haben. Das Obergericht hält es unter diesen Umständen für verständlich, dass das Bezirksgericht Rheinfelden in seiner Gesamtheit befürchtet, den vorliegenden Zivilstreit nicht mehr unbeeinflusst von diesen politischen Ereignissen beurteilen zu können. Diese Argumentation ist nicht unproblematisch. Art. 58 Abs. 1 BV sollte historisch gerade in politisch bewegten Zeiten den Bürgern die ordentliche Gerichtsbarkeit gewährleisten (vgl. MÜLLER, a.a.O., S. 255 ff.). Es ist nun aber glaubhaft, dass der Streit um das Kernkraftwerk Kaiseraugst im Standortbezirk zu einer besonders emotionsgeladenen Atmosphäre und zu politischen Auseinandersetzungen geführt hat, an denen - im Gegensatz zu anderen kurzfristig aktuell gewordenen Sachfragen - weite Kreise der Bevölkerung mehr oder weniger dauernd beteiligt sind. Eine derartige Situation hebt sich von den in den letzten Jahrzehnten sonst mehrheitlich ruhigen politischen Verhältnissen in der Schweiz deutlich ab und ist daher durch die Betroffenen auch entsprechend schwerer zu bewältigen. Dass Richter, welche - wie die Mehrzahl der Mitglieder des Bezirksgerichts Rheinfelden - nicht juristisch ausgebildet sind und das Richteramt neben ihrer eigentlichen Erwerbstätigkeit ausüben, solchen Spannungen noch stärker ausgesetzt sind als dies in der Regel bei Berufsrichtern der Fall sein dürfte, erscheint ebenfalls als verständlich. Ferner lässt sich - wie dies im vorliegenden Fall geschehen ist - für ein erstinstanzliches Gericht in einem Kanton mit mehreren Gerichtsbezirken leichter eine Stellvertretung durch ein ordentliches Gericht der gleichen Stufe finden als für ein Gericht, welches als einzige Instanz für einen ganzen Kanton tätig ist. Hinzu kommt schliesslich, dass das Bezirksgericht Rheinfelden aus freien Stücken um die Bewilligung des Ausstandes nachgesucht hat. Wie bereits früher dargelegt wurde, ist Befangenheit zunächst ein innerer Zustand, an dessen Nachweis der Natur der Sache nach keine überhöhten Anforderungen gestellt werden dürfen (vgl. GEISER, a.a.O., S. 66). Ein Beweisverfahren über diese Frage ist praktisch ausgeschlossen. Der Richter, der nach bestem Wissen und Gewissen erkennt, dass er eine Streitsache nicht mehr unvoreingenommen beurteilen kann, begeht keine Pflichtverletzung, wenn er unter diesen Umständen den Ausstand beantragt (vgl. die Regelung in § 100 Abs. 2 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes: "Verlangt der Justizbeamte selbst den Ausstand, so darf er ihm auf die gewissenhafte Erklärung hin, dass ein Ausstandsgrund vorliege, nicht verweigert werden"). Das Obergericht hält die Befürchtung des Bezirksgerichts Rheinfelden, es könne den streitigen Zivilprozess nicht mehr unvoreingenommen beurteilen, angesichts der konkreten Umstände für ernstlich begründet. Diesem Schluss kommt für das Bundesgericht grosse Bedeutung zu, da das Obergericht die Verhältnisse im Kanton und seinen Bezirken und ihre Auswirkungen besser beurteilen kann als das Bundesgericht. Werden alle Umstände des vorliegenden Falles gesamthaft betrachtet, so erscheint daher der angefochtene Entscheid des Obergerichts als vor Art. 58 Abs. 1 BV haltbar.
Das Obergericht hat aber zu Recht den Ausstand nur für den vorliegenden Zivilprozess bewilligt. Sollten später weitere mit dem Kernkraftwerk zusammenhängende Verfahren anhängig werden, so muss die Frage des Ausstandes, falls sie aufgeworfen wird, erneut und für jeden Fall gesondert geprüft werden. Es ist nicht auszuschliessen, dass sich dannzumal die Situation beruhigt hat oder dass die Mitglieder des Gerichts in der Zwischenzeit eine gewisse Distanz zu den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit gewonnen haben. Von Richtern muss verlangt werden, dass sie sich nach Kräften bemühen, ihre solchen Anfechtungen ausgesetzte innere Freiheit wieder zu erlangen.