BGE 106 Ia 7 |
3. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 18. Juni 1980 i.S. X. gegen Direktion der kantonalen Strafanstalt Regensdorf und Direktion der Justiz des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde) |
Regeste |
Art. 4 BV; Strafverfahren. |
Dies gilt auch dann, wenn die Strafuntersuchung gegen den Betroffenen noch nicht formell eröffnet ist, aber unmittelbar bevorsteht. |
Anstaltsrechtlich begründete Aussagepflicht eines Strafgefangenen, der eines Offizialdelikts verdächtigt wird? |
Sachverhalt |
X. verbüsste in den Jahren 1978 und 1979 eine Freiheitsstrafe in der kantonalen Strafanstalt Regensdorf/ZH. Am 6. April 1979 unternahm der ebenfalls dort inhaftierte Y. einen Fluchtversuch. Zur Zeit seines Spazierganges im Hof wurde diesem über die Mauer der Anstalt hinweg eine mit einem roten Tuch gekennzeichnete Strickleiter zugeworfen. Der Fluchtversuch misslang. Ungefähr gleichzeitig sah ein Aufseher am Zellenfenster des X. ein rotes Tuch. Dieser wurde deshalb verdächtigt, Y. bei seiner Flucht durch Setzen eines Signals behilflich gewesen zu sein.
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X. wurde am 9. April 1979 durch einen Beamten der Kantonspolizei in der Strafanstalt Regensdorf zu diesem Sachverhalt angehört. Er verweigerte jegliche Aussage.
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Der Direktor der Strafanstalt verhängte gegen X. eine 15tägige Arreststrafe. Er erwog, durch seine Aussageverweigerung habe X. den § 56 der Verordnung über die kantonale Strafanstalt Regensdorf verletzt. Diese Vorschrift lautet:
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"Die Gefangenen sind verpflichtet, die Vorschriften dieser Verordnung, der darauf basierenden Hausordnung und zusätzliche Weisungen zu befolgen und auf dienstliche Fragen wahrheitsgemäss Auskunft zu geben."
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Die Direktion der Justiz des Kantons Zürich wies einen von X. erhobenen Rekurs mit Entscheid vom 20. September 1979 ab, soweit sie darauf eintrat.
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X. führt staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV, der persönlichen Freiheit und des Art. 6 Ziff. 2 EMRK. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde in der Hauptsache gut.
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Aus den Erwägungen: |
4. Es ist als allgemeiner Grundsatz des Strafprozessrechts anerkannt, dass niemand gehalten ist, zu seiner Belastung beizutragen ("nemo tenetur se ipsum prodere vel accusare"; HAUSER, Kurzlehrbuch des Strafprozessrechts, Basel 1978, S. 83). Der in einem Strafverfahren Beschuldigte ist nicht zu Aussagen verpflichtet. Er darf deshalb auch nicht mit Sanktionen belegt werden, wenn er die Aussage verweigert. Seltene Ausnahmen von diesem Grundsatz können hier unbeachtet bleiben (vgl. WALDER, Die Vernehmung des Beschuldigten, Hamburg 1965, S. 82 ff.).
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Im vorliegenden Fall wurde der Beschwerdeführer offensichtlich von vorneherein der Mithilfe beim Fluchtversuch des Y. verdächtigt. Seine früheren Kontakte zu diesem als fluchtgefährlich bekannten Mitgefangenen und das rote Tuch vor dem Zellenfenster liessen diesen Verdacht als naheliegend erscheinen. Ob die Strafuntersuchung zur Zeit der Einvernahme des Beschwerdeführers in Regensdorf vom 9. April 1979 formell bereits im Gange war, geht aus den Akten nicht hervor. Sie war aber, da Art. 310 StGB ein Offizialdelikt ist, klarerweise zu erwarten, und es ist nur folgerichtig, dass sie schliesslich durchgeführt wurde. Das Verhör vom 9. April 1979 wurde durch einen Polizeibeamten vorgenommen. Es hatte offensichtlich den Charakter einer ersten polizeilichen Befragung im Vorfeld oder Anfangsstadium einer Strafuntersuchung.
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Der Beschwerdeführer befand sich zumindest faktisch in der Stellung eines Beschuldigten. Er war daher als solcher zu behandeln und durfte nicht disziplinarisch bestraft werden, wenn er jegliche Aussage im Zusammenhang mit dem Fluchtversuch des Y. verweigerte. Dies hätte übrigens auch dann gelten müssen, wenn der Beschwerdeführer nicht durch einen Polizeibeamten, sondern durch ein Organ der Strafanstalt selbst einvernommen worden wäre, falls ein Strafverfahren eröffnet war oder unmittelbar bevorstand.
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Der angefochtene Entscheid verletzt offensichtlich einen klaren, unumstrittenen Rechtsgrundsatz und verstösst somit gegen Art. 4 BV (vgl. BGE 102 Ia 3 E. 2a mit Verweisungen). Die Beschwerde ist daher im Hauptpunkt gutzuheissen und der Entscheid der Justizdirektion des Kantons Zürich vom 20. September 1979 ist aufzuheben.
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