63. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 9. Dezember 1980 i.S. Gemeinde Zuoz gegen Aemisegger und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden (staatsrechtliche Beschwerde)
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Regeste
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Überprüfung von Zonenplänen im Baubewilligungsverfahren.
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Die Rechtmässigkeit eines Zonenplanes kann grundsätzlich bloss im Anschluss an den Erlass bestritten werden. Eine nachträgliche Anfechtung auf einen Anwendungsakt hin ist nur dann zulässig, wenn der betroffene Eigentümer sich bei Planerlass über die ihm auferlegte Eigentumsbeschränkung nicht im klaren sein konnte oder ihm keine Verteidigungsmittel zur Verfügung standen oder wenn sich die Verhältnisse seit Planerlass derart geändert haben, dass das öffentliche Interesse an den bestehenden Beschränkungen dahingefallen sein könnte. Der Richter ist daher - von den erwähnten Ausnahmen abgesehen - nicht befugt, den Zonenplan vorfrageweise im Baubewilligungsverfahren auf seine Verfassungsmässigkeit zu prüfen (E. 3a-c).
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Sachverhalt
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Der geltende Zonenplan der Gemeinde Zuoz, der am 11. November 1975 durch die Gemeindeversammlung angenommen und am 21. Juni 1976 durch die Bündner Regierung genehmigt worden ist, weist das Gebiet "Sur Mulins" der Wohnzone 2A zu. Für diese Zone werden in Art. 51 des kommunalen Baugesetzes (BauG), das gleichzeitig mit dem Zonenplan in Kraft gesetzt worden ist, Vorschriften über die Art der Bebauung, den Ausnützungskoeffizienten, die Gebäudeabmessungen sowie die Grenz- und Gebäudeabstände aufgestellt; ausserdem erklärt Art. 51 Ziff. 6 den Quartierplan für obligatorisch.
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Bruno Aemisegger ist Eigentümer der in "Sur Mulins" gelegenen Parzelle Nr. 2592. Am 18. August 1977 reichte er ein Gesuch um Erteilung der Baubewilligung für ein Ferienhaus ein und bat den Gemeinderat Zuoz, ihm eine Ausnahmebewilligung zu erteilen und das Quartierplanverfahren zu erlassen. Der Gemeinderat wies das Baugesuch ab, da von der zwingenden Vorschrift der Quartierplanung nicht abgewichen werden könne. Gegen diesen Entscheid rekurrierte Aemisegger an das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden, welches seinen Rekurs guthiess und den Baubescheid der Gemeinde aufhob. Als Begründung wurde im wesentlichen angeführt, dass der Einbezug der Parzelle Nr. 2592 in ein Quartierplanverfahren und die Anwendung von Art. 51 Ziff. 6 BauG auf das vorliegende Baugesuch gegen das Prinzip der Verhältnismässigkeit verstosse.
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Die Gemeinde Zuoz hat gegen den Entscheid des Bündner Verwaltungsgerichtes staatsrechtliche Beschwerde erhoben. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, da das Verwaltungsgericht nicht befugt war, im Rahmen des Baubewilligungsverfahren vorfrageweise die Verfassungsmässigkeit der Zonenordnung zu überprüfen, und durch die Vornahme dieser Kontrolle ungerechtfertigterweise in den Autonomiebereich der Gemeinde eingegriffen hat.
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Aus den Erwägungen:
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Im Entscheid Hitz gegen Gemeinde Parpan vom 20. September 1978 (BGE 104 Ia 181 ff.) ist die bündnerische Praxis, wonach sowohl die Regierung als auch - anschliessend an den Regierungsentscheid - das Verwaltungsgericht zur Überprüfung der Zonenpläne berufen seien, als verfassungswidrig erklärt und festgestellt worden, dass es gemäss kantonalem Recht sowie aufgrund von Art. 4 und 22ter BV ausschliesslich der Regierung obliege, einen Zonenplan im Genehmigungsverfahren auf seine Rechtmässigkeit hin zu überprüfen. Am 25. März 1980 hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung i.S. Ernst gegen Gemeinde Klosters-Serneus (BGE 106 Ia 310) bestätigt und zusätzlich entschieden, das Bündner Verwaltungsgericht sei auch zur Beurteilung sich direkt gegen Zonenpläne richtender Beschwerden, die nach Abschluss des Genehmigungsverfahrens erhoben werden, nicht befugt. In den beiden zitierten Entscheiden ist indessen die Frage ausdrücklich offengelassen worden, ob und inwieweit das Verwaltungsgericht auf Rekurse gegen individuell-konkrete Anwendungsakte der Gemeinde hin - namentlich im Baubewilligungsverfahren - vorfrageweise die Gesetz- und Verfassungsmässigkeit der durch den Zonenplan auferlegten Eigentumsbeschränkungen noch überprüfen könne (BGE 104 Ia 187 E. 2d in fine; BGE 106 Ia 314).
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Diese Frage ist hier zu beantworten, da die Gemeinde Zuoz vorbringt, das Verwaltungsgericht habe die Rechtmässigkeit der umstrittenen Zonenvorschrift auch nicht akzessorisch prüfen dürfen und habe schon durch die Vornahme dieser Kontrolle in den Autonomiebereich der Gemeinde eingegriffen. Das Verwaltungsgericht ist demgegenüber bei seinem Entscheid davon ausgegangen, dass mit dem Mangel der Verfassungswidrigkeit behaftete Rechtssätze keine Anwendung finden dürften und dass der Richter nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht habe, die anzuwendenden Normen auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu untersuchen.
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a) Nach herrschender Auffassung in Lehre und Rechtsprechung sind die kantonalen Gerichte verpflichtet, auf Verlangen des Rechtsuchenden vorfrageweise das anzuwendende kantonale Recht auf seine Übereinstimmung mit der Bundesverfassung und der Bundesgesetzgebung zu prüfen. Ob auch die Verwaltungsbehörden hiezu befugt seien, ist umstritten und braucht hier nicht entschieden zu werden (BGE 104 Ia 82 f. E. 2a mit Hinweisen auf die Literatur, BGE 92 I 481 f., BGE 91 I 314, BGE 82 I 219 mit weiteren Verweisungen; IMBODEN/RHINOW, Schweiz. Verwaltungsrechtsprechung, Bd. II S. 1059 f. Nr. 143 B I). Dieser nachträglichen Überprüfung unterstehen Rechtssätze, das heisst Anordnungen genereller und abstrakter Natur, die für eine unbestimmte Vielheit von Menschen gelten und eine unbestimmte Vielheit von Tatbeständen regeln ohne Rücksicht auf einen bestimmten Einzelfall oder auf eine Person (BGE 101 Ia 74 E. 3a und dort zitierte Literatur). Dagegen kann die Rechtmässigkeit von Verfügungen im Rahmen der Anfechtung eines späteren Vollzugs- oder Bestätigungsaktes nicht mehr in Frage gestellt werden, es sei denn, der Beschwerdeführer rüge die Verletzung unverzichtbarer und unverjährbarer Rechte oder mache geltend, die Verfügung sei geradezu nichtig (BGE 104 Ia 173 ff. mit zahlreichen Hinweisen).
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Die Verfassungsmässigkeit einer Rechtsnorm kann demnach nicht nur im Anschluss an deren Erlass, sondern auch auf einen konkreten Anwendungsakt hin bestritten werden, während eine nachträgliche Anfechtung von Verfügungen grundsätzlich ausgeschlossen ist. Diese Regel hat das Bundesgericht in seiner bis ins letzte Jahrhundert zurückreichenden Rechtsprechung, dem Grundgedanken von Art. 89 OG folgend, stets damit erklärt, dass der Einzelne bei Erlass einer Rechtsnorm im allgemeinen noch nicht wisse, ob und wie ihn diese eines Tages treffen werde, und er sich erst auf einen konkreten Anwendungsakt hin veranlasst sehe, die diesem Akt zugrundeliegende Vorschrift anzufechten (BGE 104 Ia 175, 90 I 353; 15, 203; 106 Ia 316 E. 3; vgl. auch GIACOMETTI, die Verfassungsgerichtsbarkeit des Schweiz. Bundesgerichtes, S. 79 f., W. BURCKHARDT, Die Befristung des staatsrechtlichen Rekurses, ZBJV 62/1926 S. 58 f.).
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b) Das Verwaltungsgericht glaubt, Art. 51 Ziff. 6 BauG, der die umstrittene Quartierplanpflicht begründet, sei eine Norm genereller und abstrakter Natur im oben dargestellten Sinne und könne daher auf ihre Vereinbarkeit mit dem Bundesverfassungsrecht untersucht werden. Dieser Meinung ist jedoch nicht zu folgen. Zwar sind die in Art. 51 enthaltenen Vorschriften in das kommunale Baugesetz, einen rechtsetzenden Erlass der Gemeinde, eingefügt worden, doch weisen sie nicht den generellabstrakten Charakter anderer baupolizeilicher Bestimmungen auf, sondern beziehen sich ausschliesslich auf die im Zonenplan eingezeichnete Zone 2A und umschreiben die in diesem Gebiet geltende rechtliche Ordnung. Diese Vorschriften stehen an Stelle einer Planlegende, sie sind die für das Verständnis des Planes notwendigen Erläuterungen, mit anderen Worten Bestandteile des Zonenplanes selbst. Bilden aber Zonenplan und die in Art. 51 BauG enthaltenen Zonenvorschriften ein untrennbares Ganzes, so ist die Überprüfbarkeit von Art. 51 BauG nicht einfach anhand der Regeln zu beurteilen, die für die Anfechtung von Rechtssätzen gelten, sondern haben jene Prinzipien Beachtung zu finden, die bei der Anfechtung von Plänen, insbesondere von Zonenplänen, massgebend sind.
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c) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtes stellen die Zonenpläne zwischen Rechtssatz und Verfügung stehende Anordnungen besonderer Natur dar, auf welche teils die für generell-abstrakte Normen geltenden, teils die für Verfügungen massgebenden Grundsätze anzuwenden sind (vgl. IMBODEN/RHINOW, a.a.O., Bd. I S. 64 ff. Nr. 11 B I; GYGI, Bundesverwaltungsrechtspflege, S. 102 f.). Ob ein Zonenplan nur anschliessend an den Erlass oder auch bei späterer Anwendung noch angefochten werden könne, bestimmt sich in erster Linie danach, ob der Betroffene schon bei Planerlass über die ihm auferlegten Beschränkungen im klaren sein konnte und welche Möglichkeiten er in diesem Zeitpunkt hatte, seine Interessen zu verteidigen. Da der Zonenplan indessen auf Verhältnissen beruht, die stetem Wandel unterworfen sind, hat er nur so lange Bestand, als auch die seinem Erlass zugrundeliegenden Voraussetzungen und Annahmen über den zukünftigen Verlauf der Entwicklung weiterbestehen. Sind die bei Planerlass gegebenen Voraussetzungen inzwischen dahingefallen, so darf dem Eigentümer, der den Plan anficht, nicht entgegengehalten werden, Einsprache- und Genehmigungsverfahren seien längst beendet. Die Gültigkeit eines Zonenplanes muss stets dann noch in Zweifel gezogen werden können, wenn die gesetzlichen Vorschriften über die Ortsplanung geändert worden sind oder sich die tatsächliche Situation seit Erlass des Zonenplanes in einer Weise gewandelt hat, dass das öffentliche Interesse an den auferlegten Eigentumsbeschränkungen untergegangen sein könnte (BGE 90 I 354 ff.; Entscheid vom 7. Juli 1964, publ. in ZBl 66/1965 S. 432; 106 Ia 317 E. 3; vgl. GRISEL, Droit administratif suisse, S. 395 f., 411 f.; KUTTLER, Der Beitrag des Bundesgerichtes an die Entwicklung des Raumplanungsrechts, in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweiz. Bundesgerichtes, Festgabe 1975, S. 186).
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Diese Grundsätze sind bei der Beurteilung gegen Zonenpläne gerichteter staatsrechtlicher Beschwerden entwickelt worden, gelten aber allgemein, zeigen also auch die Grenzen auf, die dem kantonalen Richter bei der vorfrageweise durchgeführten Kontrolle der Verfassungsmässigkeit von Plänen gesteckt sind. Sie garantieren auf der einen Seite die Ausübung der dem Eigentümer gegen planerische Eingriffe zustehenden Abwehrrechte, gewährleisten auf der anderen Seite aber auch die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit der Planung und verhindern, dass ein unhaltbarer, mit den Zwecken der Raumplanung (Art. 22quater BV) unvereinbarer Zustand der Rechtsunsicherheit entsteht.
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