BGE 108 Ia 172 - Zürcher Krawalle
 
32. Auszug aus dem Urteil der II. öffentlichrechtlichen Abteilung
vom 9. Juli 1982
i.S. X. gegen Verwaltungskommission des Obergerichts des Kantons Zürich
(staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
1. Zürcherische Bezirksrichter unterstehen der Disziplinargewalt des Obergerichts (E. 4a).
2. Die politischen Tätigkeiten des Richters stehen unter dem Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit. Die Wahrung der richterlichen Unabhängigkeit erfordert vom Richter indes Zurückhaltung, wenn es um öffentliche Stellungnahmen zu hängigen Verfahren und deren Begleitumstände geht (E. 4b).
 
Sachverhalt
A.- Bezirksrichter X., Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, verteilte am Samstag, 20. Dezember 1980, an der Ecke Bahnhofbrücke/Bahnhofquai (Zürich), zusammen mit anderen Parteimitgliedern eine Druckschrift des "Komitees für ein repressionsfreies Zürich". Die Sozialdemokratische Partei hatte dort einen Stand aufgestellt, wo ausser der erwähnten Drucksache ein Unterschriftenbogen mit der Forderung nach Einstellung aller Strafverfahren, das Flugblatt "Mütter und Väter, Frauen und Männer" sowie die Zeitschrift "Eisbrecher", Organ der Zürcher "Bewegung", auflagen. Die Aktion fand im Rahmen des Informationstages des "Komitees für ein repressionsfreies Zürich" statt und wurde durch Parteibeschluss unterstützt.
In der von X. verteilten, vierseitigen Schrift wird das im Laufe des Sommers/Herbst 1980 in Zürich Geschehene einer kritischen Würdigung unterzogen, namentlich was das Verhalten der Behörden und das politische Klima in der Stadt Zürich betrifft. Auf Seite 4 wird sodann im Fettdruck unter dem Titel "Plattform" was folgt ausgeführt:
    "Die Politik der Behörden ist gescheitert. Keine Ursachen der Jugendbewegung sind ausgeräumt. Die Probleme haben sich im Gegenteil noch verschärft.
    Und trotzdem versuchen die herrschenden Kreise mit allen Mitteln, diese verfehlte Politik fortzusetzen. Über die massive Unterdrückung und Kriminalisierung der Jugendbewegung hinaus wird in den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen die Repression verstärkt und werden die demokratischen Rechte eingeschränkt. Das Ziel ist nicht nur die Zerschlagung der Jugendbewegung, sondern die Einschüchterung breiter Kreise der Bevölkerung, welche die berechtigten Anliegen dieser Bewegung unterstützen.
    Das Demonstrations- und Versammlungsrecht wird eingeschränkt. Der Stadtrat beschliesst eine restriktive Bewilligungspraxis und verweigert die Benutzung geeigneter Räumlichkeiten für Versammlungen der Bewegung. Das Recht auf freie Meinungsäusserung wird faktisch aufgehoben. Wer für die Anliegen der Jugend Stellung bezieht, hat mit Repressionen zu rechnen. 6 Bezirksrichter der SP sollen in den Prozessen gegen Jugendliche als befangen erklärt werden.
    Die Pressefreiheit wird zunehmend in Frage gestellt. Medien, wie Radio, Fernsehen und Zeitungen stehen mehr denn je unter massivem Druck wirtschaftlicher und rechtsbürgerlicher Kreise.
    Die Persönlichkeitsrechte werden durch willkürliche Verhaftungen und polizeiliche Registrierungen verletzt und die Rechte von Angeklagten und Verteidigern missachtet.
    Wir wehren uns gegen den Abbau demokratischer Rechte und fordern:
    - Die Einstellung aller hängigen Strafverfahren gegen Demonstranten; Amnestie für alle bereits Verurteilten.
    - Das uneingeschränkte Demonstrations- und Versammlungsrecht für alle.
    - Das Recht auf freie Meinungsäusserung für alle.
    - Die Aufhebung von Repressionsmassnahmen gegen diejenigen, die von diesen Rechten Gebrauch machten.
    - Die Garantie der Persönlichkeitsrechte und die Wiederherstellung der Rechte für Angeklagte und ihre Verteidiger.
    - Die sofortige Wiedereröffnung des AJZ."
Wegen des Verteilens dieses Flugblattes sprach die Verwaltungskommission des Obergerichts gegen X. einen Verweis aus. Das Bundesgericht weist die dagegen erhobene staatsrechtliche Beschwerde ab.
 
Auszug aus den Erwägungen:
Aus den Erwägungen:
 
Erwägung 3
    "Die Beamten haben sich ihrem Amte voll zu widmen. Sie haben ihre dienstlichen Obliegenheiten gewissenhaft und unter Wahrung der Interessen des Staates zu erfüllen.
    Die dienstlichen Anweisungen ihrer Vorgesetzten haben sie sorgfältig auszuführen. Sie haben sich für eine einfache, speditive und wirtschaftliche Geschäftsabwicklung einzusetzen.
    Die Beamten haben sich der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, die ihrer amtlichen Stellung gebührt.
    Sie haben sich im dienstlichen Verkehr und im Umgang mit dem Publikum höflich und taktvoll zu benehmen."
(Es folgt die Feststellung, dass die Bezirksrichter trotz der Volkswahl als Beamte gelten.)
 
Erwägung 4
4.- a) Nach § 106 Abs. 1 des zürcherischen Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) steht dem Obergericht die Aufsicht unter anderem über die ihm unterstellten Gerichte zu, worunter die Bezirksgerichte fallen. Auf Beschwerde wegen Verletzung von Amtspflichten kann das Obergericht disziplinarische Massnahmen, insbesondere gestützt auf das Ordnungsstrafengesetz, verfügen (§ 108 Abs. 1 GVG). Zu den Amtspflichten zählen die Vorschriften von § 9 BVO. § 108 Abs. 1 GVG erlaubt daher dem Obergericht, Amtspflichtverletzungen aller Art, begangen durch die der Aufsicht des Obergerichts unterstehenden Amtspersonen, mit den im Ordnungsstrafengesetz vorgesehenen Disziplinarmassnahmen zu ahnden. Der Umstand, dass im Kanton Zürich die Bezirksrichter vom Volk gewählt werden, vermag angesichts dieser klaren gesetzlichen Ordnung nichts an der Disziplinarbefugnis des Obergerichts zu ändern. Ob und inwiefern der von der Verwaltungskommission angerufene § 62 des Gesetzes betreffend die Organisation der Geschäftsordnung des Regierungsrates und seiner Direktionen vom 26. Februar 1899 (ZG 172.1) als genügende gesetzliche Grundlage betrachtet werden kann, muss bei dieser Sachlage nicht entschieden werden. Dass auch dem Präsidenten des Bezirksgerichts Disziplinarbefugnisse über die Mitglieder seines Gerichts zustehen (§ 121 Abs. 2 GVG), schliesst die Zuständigkeit des Obergerichts nicht aus. Zusammenfassend ergibt sich daher, dass die Verwaltungskommission des Obergerichts berechtigt war, den Beschwerdeführer mit einer Sanktion nach Ordnungsstrafengesetz zu disziplinieren, soweit ihm eine Amtspflichtverletzung im Sinne von § 9 BVO nachgewiesen werden konnte.
b) aa) Das ungeschriebene Verfassungsrecht der Meinungsäusserungsfreiheit gewährleistet das Recht des Bürgers, seine Meinung Dritten bekannt zu geben (BGE 107 Ia 65 mit Hinweisen). Insofern es um die blosse Weitergabe von Mitteilungen geht, verschafft Art. 10 Ziff. 1 EMRK keine weitergehenden Rechte. Desgleichen weist Art. 3 Abs. 1 KV/ZH keinen darüber hinausgehenden Inhalt auf. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung geniesst auch der Beamte den Schutz der Meinungsäusserungsfreiheit. Er darf sich insbesondere politisch betätigen und sich, sei es öffentlich oder privat, an der politischen Kritik beteiligen. Dabei hat er sich aber an die Beschränkungen zu halten, die seine besondere Stellung mit sich bringt (BGE 101 Ia 181 mit Hinweisen). Die aus dem Treueverhältnis fliessenden Einschränkungen in den Freiheitsrechten des Beamten finden nach zürcherischem Recht in § 9 BVO ihren Niederschlag, der, wie bereits erwähnt, auch für die vom Volk gewählten Bezirksrichter gilt: Während Abs. 1, 2 und 4 der genannten Bestimmung sich auf Verhaltenspflichten des Beamten hinsichtlich seiner innerdienstlichen Tätigkeit beziehen, unterscheidet der Satz, die Beamten hätten sich der Achtung und des Vertrauens würdig zu erweisen, die ihrer amtlichen Stellung gebührt (§ 9 Abs. 3 BVO), nicht zwischen dienstlichem und ausserdienstlichem Verhalten (vgl. dieselbe Formulierung in Art. 24 Abs. 1 BtG, SR 172.221.10). Ob und inwiefern in- und ausserhalb des Dienstes dieselben Massstäbe an die Treuepflicht des Beamten gelegt werden können, ist umstritten (vgl. RAUSCH, Die Meinungsäusserungsfreiheit der Staatsangestellten, ZBl 80/1979, S. 104 f.; HANGARTNER, Reform des Beamtendisziplinarrechts, ZBl 71/1970, S. 431; anders RICHNER, Umfang und Grenzen der Freiheitsrechte der Beamten nach schweizerischem Recht, Diss. Zürich 1954, S. 104 f.). In jedem Falle aber hat sich der Beamte inner- und ausserdienstlich so zu verhalten, dass er seine dienstlichen Aufgaben gehörig erfüllen kann (HÄNNI, Die Treuepflicht im öffentlichen Dienstrecht, Diss. Freiburg 1982, S. 39). Die ausserdienstliche (politische) Tätigkeit findet ihre Grenze demnach dort, wo das Verhalten des Beamten seine Amtsführung beeinträchtigt. Neben der Natur der ausserdienstlichen Tätigkeit sind im Einzelfalle daher die dienstlichen Aufgaben des Beamten sowie seine Stellung und Verantwortung zu berücksichtigen.
bb) Der Richter ist in einem gegenüber anderen Beamten qualifizierten Sinne Garant für die Einhaltung der Rechtsordnung und für den ordnungsgemässen Gang der Justiz. Seine Stellung innerhalb des demokratischen Gemeinwesens erfordert, dass er unabhängig von sachfremden Einflüssen und vorurteilslos die ihm übertragenen Aufgaben erfüllt. Die Bedeutung des Richteramtes hat für ihn persönlich deshalb zur Folge, dass er sich, wie § 39 des Richtergesetzes der Bundesrepublik Deutschland es ausdrückt und wie es auch hierzulande gelten dürfte, "innerhalb und ausserhalb seines Amtes, auch bei politischer Betätigung so zu verhalten hat, dass das Vertrauen in seine Unabhängigkeit nicht gefährdet wird" (vgl. BGE 108 Ia 54). Dies gilt umso mehr, als der Richter vielfach aufgerufen ist, Streitsachen zu beurteilen, die Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind. Die ihm gebotene Zurückhaltung im öffentlichen Leben verunmöglicht freilich politische Tätigkeiten nicht schlechthin. Es ist ihm insbesondere nicht verwehrt, zu allgemeinen Fragen (rechts)politischer Natur öffentlich Stellung zu nehmen. Die Grenze des Erlaubten findet sich aber jedenfalls dort, wo die Justiz im Zusammenhang mit konkreten Vorkommnissen in den Widerstreit politischer Meinungen gerät. Der Grundsatz der richterlichen Unabhängigkeit sowie die Wahrung des Ansehens und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung (Art. 10 Ziff. 2 EMRK) verlangt in diesen Fällen vom Betreffenden, dass er sich politischer Meinungsäusserungen enthält, die das gesellschaftliche Umfeld von Vorgängen betreffen, die die Rechtspflegeorgane zum Einschreiten veranlassen, wie z.B. Stellungnahmen zu politischen Fragen im Zusammenhang mit begangenen strafbaren Handlungen. Tut er dies nicht, ist darin eine Verletzung der Dienstpflicht im oben beschriebenen Sinne zu erblicken.
cc) Der Beschwerdeführer ist, wie praktisch alle Bezirks-, Ober- und Kassationsrichter im Kanton Zürich, Mitglied einer politischen Partei. Daraus folgt klarerweise, dass die Mitgliedschaft in einer Partei - zwar nicht rechtlich, dennoch aber faktisch - notwendig ist, um für das Richteramt portiert und darin gewählt zu werden. Dass der Beschwerdeführer ausserdienstlich an einer Aktion seiner Partei teilnahm, ist daher an sich nicht zu beanstanden und wird ihm auch von der Verwaltungskommission nicht vorgeworfen. Ob das Verteilen des Flugblattes des "Komitees für ein repressionsfreies Zürich" als Dienstpflichtverletzung zu qualifizieren ist, beurteilt sich nach dem Inhalt der fraglichen Schrift, die dem Beschwerdeführer, wie die Verwaltungskommission willkürfrei feststellte, bekannt war. Darin werden teilweise scharfe Angriffe gegen das Verhalten der Zürcher Behörden im Gefolge der "Zürcher Krawalle" erhoben. Insbesondere wird ihnen auf Seite 4 unter dem Titel "Plattform" vorgeworfen, die Repression zu verstärken und die demokratischen Rechte einzuschränken. Schliesslich wird sinngemäss den Justizorganen zur Last gelegt, die Persönlichkeitsrechte durch willkürliche Verhaftungen und polizeiliche Registrierungen zu verletzen und die Rechte von Angeklagten und Verteidigern zu missachten. Insbesondere dieser Vorwurf wiegt ausserordentlich schwer. Damit wird der Eindruck erweckt, Staatsorgane missachteten grundlegende, rechtsstaatliche Prinzipien. Schliesslich wird die Einstellung aller hängigen Strafverfahren gegen Demonstranten sowie Amnestie für alle bereits Verurteilten gefordert.
Der Beschwerdeführer muss sich den Inhalt des Flugblattes zurechnen lassen, auch wenn er subjektiv damit nicht in allen Teilen einig ging. Entscheidend ist, dass er durch das Verteilen der Schrift sein grundsätzliches Einverständnis mit dessen Inhalt bekundete. Betrachtet man das Flugblatt als Ganzes unter Berücksichtigung der oben erwähnten hervorstechenden Stellen, muss dem Beschwerdeführer vorgeworfen werden, der richterlichen Pflicht zur Zurückhaltung nicht nachgekommen zu sein. Er hat in eindeutiger Weise Stellung zu hängigen Strafverfahren genommen, vermeintliche Missstände in der Justiz kritisiert und mit der Forderung nach Einstellung aller Strafverfahren gegen Demonstranten sowie Amnestie für alle bereits Verurteilten zum Ausdruck gebracht, dass er die begangenen Straftaten unbeachtet ihres Gewichts für nicht strafwürdig hält. Diese eindeutige Stellungnahme lässt die notwendige Zurückhaltung vermissen, egal wie es sich in der Sache selbst verhält. Hinzu kommt, dass der Beschwerdeführer am 20. Dezember 1980 nicht davon ausgehen konnte, von der Mitwirkung an sogenannten "Krawallprozessen" dispensiert zu werden. Dass unter diesen Umständen die Verwaltungskommission das Verhalten des Beschwerdeführers als Dienstpflichtverletzung qualifizierte, gibt sowohl unter dem Gesichtswinkel der Meinungsäusserungsfreiheit als auch des in erster Linie anwendbaren kantonalen Rechts zu keinen Beanstandungen Anlass.