BGE 111 Ia 169
 
31. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 16. Oktober 1985 i.S. X. gegen den Gerichtspräsidenten VIII von Bern und die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV, überspitzter Formalismus; Art. 221 Abs. 2 StrV/BE, fehlende Unterschrift beim Einspruch gegen ein Strafmandat.
 
Sachverhalt
X. wurde mit Strafmandat des Richteramtes VIII Bern vom 4. März 1985 wegen verschiedener Verstösse gegen Strassenverkehrsvorschriften mit einer Busse von Fr. 500.-- nebst Kosten belegt. Die auf einem Formular ausgefertigte schriftliche Mitteilung enthielt den Hinweis darauf, dass gegen die Verurteilung innert zehn Tagen beim Richter Einsprache erhoben werden könne. Das Strafmandat wurde X. am 5. März 1985 zugestellt. Am 6. März 1985 richtete dieser an das Richteramt VIII Bern folgendes Schreiben:
"Messieurs,
J'accuse réception de votre avis du 4 ct.
Je vous prie de prendre bonne note que je conteste le bien-fondé de cette dénonciation et que j'y forme opposition.
Veuillez agréer, Messieurs, mes salutations distinguées."
Das Schreiben enthält keine Unterschrift, doch figurieren Namen und Adresse des Absenders in Maschinenschrift sowohl im Kopf der Eingabe als auch auf dem Briefumschlag.
Mit Beschluss vom 19. März 1985 stellte der Gerichtspräsident VIII von Bern fest, die Unterschrift bilde Gültigkeitserfordernis jeder Einsprache; da sie hier fehle, sei das Strafmandat in Rechtskraft erwachsen. Die Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland visierte diese Verfügung am 28. März 1985. Am 29. März 1985 liess X. durch einen bernischen Fürsprecher gegen den genannten Beschluss bei der Anklagekammer des Obergerichtes des Kantons Bern Beschwerde erheben mit den Anträgen, er sei aufzuheben, und der Gerichtspräsident VIII von Bern sei anzuweisen, die Einsprache als gültig zu betrachten und das weitere Verfahren einzuleiten; eventuell sei ihm eine Nachfrist zur Unterzeichnung der Eingabe vom 6. März 1985 anzusetzen. Die Anklagekammer wies die Beschwerde nach Einholung eines Berichtes des Gerichtspräsidenten VIII von Bern am 17. April 1985 ab.
X. erhob hiergegen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Er macht Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus geltend.
Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
Aus den Erwägungen:
Die Einhaltung der Form diene der Rechtssicherheit, weshalb nicht davon abgesehen werden könne. Wollte man verlangen, dass die ein Rechtsmittel empfangende Behörde eine Verbesserung veranlassen müsse, dann müsste dies aus Gründen der Rechtssicherheit nicht nur bei Fehlen der Unterschrift, sondern auch bei unklarem Inhalt der Erklärung geschehen. Eine Pflicht zu einer solchen Überprüfung der Rechtsmitteleingaben würde indessen zu weit führen und die Bestimmungen über die Rechtsmittel zu reinen Ordnungsvorschriften machen. Häufig sei auch das Rechtsmittel gar nicht bei der Behörde einzureichen, welche den angefochtenen Entscheid erlassen habe; in diesem Falle sei die Behörde, welcher die Erklärung zugehe, zu deren formeller Kontrolle gar nicht in der Lage. Schliesslich würde es auch von zufälligen Umständen, wie etwa von der Dauer der Beförderung einer Eingabe durch die Post, abhängen, ob die Partei, die einen Formfehler begangen habe, rechtzeitig darauf aufmerksam gemacht werden könnte oder nicht; hierin läge eine rechtsungleiche Behandlung.
b) Der Bechwerdeführer hält dem entgegen, er habe nicht verlangt, dass einer Partei eine - über die gesetzliche Frist hinausgehende - Nachfrist zur Behebung des Formmangels angesetzt werde; vielmehr rüge er als überspitzten Formalismus einzig, dass der Gerichtspräsident VIII von Bern die noch zur Verfügung stehende Frist von acht Tagen nicht dazu benützt habe, ihn auf seinen Fehler aufmerksam zu machen. Notwendig sei eine Abwägung zwischen dem erlaubten, die ordnungsgemässe Erledigung eines Verfahrens erst ermöglichenden Formalismus und dem Anspruch des Bürgers, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe durch die dafür eingesetzten Instanzen überprüfen zu lassen. Nach seiner Auffassung hätte hier das letztgenannte Interesse überwogen.
Es ist somit festzuhalten, dass die Unterschrift unter der in einer nach Bundesrecht zu beurteilenden Rechtsmittelerklärung nach wie vor als Gültigkeitserfordernis betrachtet wird und dass demnach eine gleichartige Rechtsprechung zu Rechtsmittelerklärungen des kantonalen Rechtes nicht willkürlich sein kann. Gleich verhält es sich mit der Verbindlichkeit der Rechtsmittelfristen, d.h. mit der Unzulässigkeit, über die gesetzlich bestimmte Dauer hinausgehende Nachfristen anzusetzen. Diese beiden Fragen sind indessen im vorliegenden Falle auch nicht streitig. Zu beurteilen ist einzig, ob es einen Verstoss gegen Art. 4 BV bedeute, wenn eine Behörde das Fehlen der Unterschrift auf einer Rechtsmittelerklärung so rechtzeitig bemerkt, dass eine Behebung des Mangels ohne weiteres noch möglich wäre, die Sache jedoch auf sich beruhen lässt, bis die gesetzliche Frist abgelaufen ist und alsdann auf das Rechtsmittel nicht eintritt. Diese Frage hat das Bundesgericht im angeführten Urteil vom 22. Juli 1976 weder in positivem noch in negativem Sinne entschieden. Hingegen existiert ein nicht veröffentlichtes Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 22. Oktober 1980 i.S. S., dem ein mit dem vorliegenden einigermassen vergleichbarer Sachverhalt zugrundelag. Ein im Kanton Waadt praktizierender Anwalt hatte drei Tage nach der Verurteilung seines Klienten durch das Polizeigericht eines Bezirks gegen den Schuldspruch das zulässige Rechtsmittel (recours) eingereicht, jedoch dieses nicht unterschrieben; die Rechtsmittelfrist betrug fünf Tage. Auch in jenem Falle war die Rekursinstanz nicht auf das Rechtsmittel eingetreten, und auch damals hatte der Verurteilte staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV durch überspitzten Formalismus erhoben. Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab, jedoch mit einer Begründung, die erkennen lässt, dass unter bestimmten Umständen allenfalls anders zu entscheiden gewesen wäre. Es führte aus, von einer Behörde, die vor Fristablauf eine Rechtsmittelerklärung ohne Unterschrift erhalte, könne erwartet werden, dass sie den Rechtsmittelkläger informiere und ihm Gelegenheit gebe, den Fehler innerhalb der gesetzlichen Frist zu beheben. So gehe denn auch die Bundesgerichtskanzlei vor, wenn sie feststelle, dass bei einer neu eingegangenen Beschwerde die Unterschrift fehle. Wenn allerdings dann das unterzeichnete Rechtsmittel erst nach Fristablauf wieder beim Bundesgericht eingereicht werde, dann werde darauf nicht eingetreten; die Bestimmung von Art. 52 Abs. 2 des Bundesgesetzes über das Verwaltungsverfahren betreffend die Ansetzung einer Nachfrist könne im Anwendungsbereich des OG nicht analog herangezogen werden.
Sodann sei zu beachten, dass man von einer Behörde nur dann erwarten könne, dass sie den Rechtsmittelkläger auf sein Versehen aufmerksam mache, wenn sie diesen Fehler selbst rechtzeitig bemerkt habe. Es gehe nicht an, der Behörde zuzumuten, sämtliche eingehenden Eingaben unverzüglich auf Formfehler hin zu überprüfen. Es sei daher nicht zulässig, den Grundsatz aufzustellen, ein der Behörde vor Fristablauf zugegangenes, nicht unterschriebenes Rechtsmittel dürfe grundsätzlich nie als verspätet betrachtet werden, weil es möglich gewesen wäre, den Absender zur Behebung des Mangels aufzufordern. Dagegen müsste die Lösung vielleicht anders ausfallen, wenn es einem Rechtsmittelkläger gelingen würde, den Nachweis dafür zu führen, dass die Behörde den Mangel rechtzeitig festgestellt habe, es jedoch unterlassen habe, ihn zu dessen Behebung einzuladen (E. 3c des erwähnten Urteils vom 22. Oktober 1980 i.S. S.: "En revanche, la solution pourrait éventuellement être différente dans un cas où le recourant pourrait prouver que l'informalité a été observée à temps par l'autorité, mais que celle-ci ne l'a pas invité à la réparer à temps."). Im gegebenen Falle führte die Feststellung, dass der Beschwerdeführer nicht dartun konnte, in welchem Zeitpunkt die Behörde das Fehlen der Unterschrift bemerkt habe, zur Abweisung der staatsrechtlichen Beschwerde.
4. a) In der vorliegenden Sache hat der Gerichtspräsident VIII von Bern in seinem Bericht an die Anklagekammer des Obergerichtes ausgeführt, er wisse nicht mehr, ob ihm die Einsprache des Beschwerdeführers noch am Tage ihres Eingangs bei seiner Kanzlei, d.h. am 7. März 1985, vorgelegt worden sei; er weist in diesem Zusammenhang auf die von ihm um dieselbe Zeit zu behandelnden zahlreichen Geschäfte hin. Hingegen anerkennt der Präsident im folgenden, dass er den Beschwerdeführer aufgrund einer langjährigen Praxis des Obergerichtes nicht auf das Fehlen der Unterschrift aufmerksam gemacht habe. Man kann die Stellungnahme des Gerichtspräsidenten VIII kaum anders verstehen als so, dass er die Eingabe des Beschwerdeführers spätestens am 8. März 1985 zur Kenntnis genommen und dabei auch das Fehlen der Unterschrift bemerkt hat. Da die zehntägige Einsprachefrist erst am 15. März 1985 ablief, hätte somit zweifellos noch genügend Zeit zur Verfügung gestanden, um den Beschwerdeführer einzuladen, den Mangel zu beheben. Somit ist die im erwähnten Urteil i.S. S. vom 22. Oktober 1980 im Sinne eines obiter dictums aufgeworfene Frage, ob unter solchen Umständen nicht eine Pflicht zur Benachrichtigung des Beschwerdeführers bestehe, hier von entscheidender Bedeutung.
b) Es ist unbestritten, dass das bernische Prozessrecht eine Pflicht der genannten Art nicht kennt. Es kann sich somit einzig fragen, ob sie sich - wie der Beschwerdeführer geltend macht - unmittelbar aus Art. 4 BV ableiten lasse. Der Beschwerdeführer beruft sich auf das Verbot des überspitzten Formalismus. Ein solcher liegt allerdings nicht darin, dass der Gerichtspräsident VIII (und die Anklagekammer des Obergerichtes) an der eigenhändigen Unterschrift als Gültigkeitserfordernis einer Rechtsmittelerklärung streng festhalten wollen; dieses Vorgehen deckt sich vielmehr mit der bereits zitierten Rechtsprechung des Bundesgerichtes. Der Beschwerdeführer stellt diese Praxis denn auch selbst nicht in Frage. Er beruft sich vielmehr allein auf den vom Bundesgericht in den Urteilen vom 5. Juli 1967 (BGE 93 I 214) sowie vom 16. Februar 1966 (BGE 92 I 12 und 17) aufgestellten Satz, Art. 4 BV verpflichte die Behörde, den Bürger auf allfällige Formfehler aufmerksam zu machen und ihm eine kurze Frist zu deren Behebung zu setzen; diese Bestimmung verbiete es, eine Sache unter dem Vorwand eines Formfehlers ohne materielle Prüfung von der Hand zu weisen.
c) Die Verfahrensvorschriften des Zivilprozess-, Strafprozess- und Verwaltungsrechtes haben der Verwirklichung des materiellen Rechtes zu dienen. Die zur Rechtspflege berufenen Behörden sind somit verpflichtet, sich innerhalb des ihnen vom Gesetz gezogenen Rahmens gegenüber dem Rechtssuchenden so zu verhalten, dass sein Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden kann. Behördliches Verhalten, das einer Partei den Rechtsweg verunmöglicht oder verkürzt, obschon auch eine andere gesetzeskonforme Möglichkeit bestanden hätte, ist mit Art. 4 BV nicht vereinbar.
Nun ist allerdings nicht zu verkennen, dass die vorstehend dargelegten Erwägungen durch das Interesse des Staates an einem der Rechtssicherheit genügenden Verfahren begrenzt werden, wodurch ein gewisser Interessengegensatz entsteht. So liegt, wie bereits beiläufig bemerkt, ein Verstoss gegen Art. 4 BV nicht vor, wenn bei Einlegung eines Rechtsmittels auf der Schriftform (einschliesslich eigenhändiger Unterschrift) als Gültigkeitserfordernis bestanden wird, und es bedeutet auch keine Verletzung von Art. 4 BV, wenn bei Fehlen der Unterschrift keine Nachfrist angesetzt wird, die über die gesetzliche Rechtsmittelfrist hinausginge. Beides lässt sich nicht nur mit dem Erfordernis nach Rechtssicherheit, sondern auch mit demjenigen nach Rechtsgleichheit rechtfertigen: Die unsorgfältige Partei soll nicht durch Einräumung einer über die gesetzliche Vorschrift hinausgehenden Frist im Ergebnis besser gestellt werden als die sorgfältige. In diesem Sinne scheint der vom Beschwerdeführer angerufene, oben (lit. b) angeführte Satz in BGE 93 I 214 und BGE 92 I 12 /17 zu umfassend formuliert zu sein. Er bedarf einer Einschränkung im Sinne von BGE 102 IV 142 ff. sowie der vorstehenden Ausführungen.
Stellt ein Richter oder Kanzleibeamter eines Gerichtes bei einer Eingabe einen sofort erkennbaren Formfehler, wie das Fehlen der Unterschrift auf einer Rechtsmittelerklärung, so rechtzeitig fest, dass er die betreffende Partei zur wirksamen Verbesserung des Mangels auffordern kann, so gehört ein solches Vorgehen zu seinen richtig verstandenen Amtspflichten; denn er hat der Rechtspflege zu dienen und darf demgemäss die Beurteilung des Falles durch eine weitere Instanz nicht durch Stillschweigen verhindern, wenn die Heilung des Mangels noch möglich ist. Entgegen der Annahme der Anklagekammer stehen dem grundsätzlich weder die Rechtssicherheit noch die Rechtsgleichheit entgegen; denn die gesetzliche Rechtsmittelfrist, die für jedermann dieselbe ist, muss auch für das Nachbringen der Unterschrift eingehalten werden. Seitens der Behörden zuzuwarten, bis sich der Fehler nicht mehr heilen lässt, und hernach die Partei die Folgen tragen zu lassen, kommt vielmehr einem überspitzten Formalismus gleich und ist daher vor Art. 4 BV nicht zulässig (BGE 94 I 525 mit Hinweis; vgl. dazu ARTHUR HAEFLIGER, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, S. 125). Wenn der Mangel der Unterschrift so rechtzeitig erkannt worden ist, dass die betreffende Partei den Fehler bei entsprechendem Hinweis innert Frist hätte verbessern können, verletzt das Stillschweigen der Behörden Art. 4 BV (BGE 109 Ia 22 E. 2; BGE 108 Ia 120 E. 2c; BGE 108 III 42 E. 2 mit Hinweisen).