BGE 113 Ia 12 |
2. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 11. Februar 1987 i.S. E. gegen Staatsanwaltschaft und Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt (staatsrechtliche Beschwerde) |
Regeste |
Art. 4 BV; § 10 Abs. 3 lit. a StPO/BS, Anspruch auf einen amtlichen Verteidiger. |
Sachverhalt |
E. wurde in Basel wegen gewerbsmässigen Diebstahls und wiederholten und fortgesetzten Konsums von Betäubungsmitteln in Strafuntersuchung gezogen. Die Staatsanwaltschaft beantragte, ihn mit zehn Monaten Gefängnis zu bestrafen. Am 29. August 1986 ersuchte E. um Bewilligung der Offizialverteidigung. Der Strafgerichtspräsident lehnte das Gesuch mit Verfügung vom 1. September 1986 ab. Eine dagegen erhobene Beschwerde wurde vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 18. September 1986 abgewiesen.
|
Gegen das Urteil des Appellationsgerichts reichte E. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV ein. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut, soweit es auf sie eintreten kann.
|
Aus den Erwägungen: |
2. Der Anspruch eines Angeschuldigten auf Beigabe eines Verteidigers von Amtes wegen beurteilt sich in erster Linie nach dem massgebenden kantonalen Strafprozessrecht. Allgemein hat das Bundesgericht gewisse Mindestanforderungen aufgestellt, bei deren Vorliegen sich der Anspruch auf amtliche Verteidigung unmittelbar aus dem Gleichheitssatz (Art. 4 BV) ergibt. Dies trifft zu, wenn dem Angeschuldigten eine Strafe droht, bei der wegen ihrer Dauer der bedingte Strafvollzug nicht mehr möglich ist; ferner dann, wenn zwar eine weniger schwere Strafe droht, der Fall aber in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, deren Beurteilung und Erörterung die Fähigkeiten des Angeschuldigten übersteigt; hiervon ausgenommen sind lediglich Bagatellfälle (BGE 103 Ia 5 E. 2; BGE 102 Ia 89 ff.). Der Beschwerdeführer anerkennt ausdrücklich, dass der so umschriebene, unmittelbar aus Art. 4 BV fliessende Anspruch auf amtliche Verteidigung im vorliegenden Fall nicht verletzt worden ist; indessen rügt er eine willkürliche Anwendung der massgebenden kantonalrechtlichen Bestimmung. Da die Kantone die unentgeltliche Verteidigung auch in weitergehendem Masse gewähren können, als sie dem Angeschuldigten bereits aufgrund von Art. 4 BV zusteht, ist im folgenden zu prüfen, ob das kantonale Recht willkürfrei angewendet worden sei.
|
"Ist ein Angeschuldigter unvermögend, so wird ihm auf sein Begehren
|
von Amtes wegen ein Advokat als Verteidiger beigegeben,
|
a) sofern der gesetzliche Strafrahmen eine Höchststrafe von fünf Jahren
|
Zuchthaus überschreitet."
|
Das Recht des Kantons Basel-Stadt stellt somit klarerweise für die Beurteilung der Frage nach der notwendigen Verteidigung nicht auf die im konkreten Einzelfall in Aussicht stehende, sondern auf die vom Gesetzgeber in abstrakter Form angedrohte Freiheitsstrafe ab. Es unterscheidet sich in diesem Punkte von den analogen Gesetzen der meisten anderen Kantone und auch von der dargelegten bundesgerichtlichen, lediglich die Minimalanforderungen umschreibenden Rechtsprechung. Es bedarf keiner weiteren Ausführungen, dass eine solche, für den Angeschuldigten günstigere Lösung der Verteidigungsfrage nicht gegen eidgenössisches Verfassungsrecht verstossen kann.
|
b) Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt macht geltend, die vorstehend wiedergegebene Bestimmung sei "unglücklich abgefasst", das Abstellen auf den abstrakten Strafrahmen führe dazu, dass z.B. ein kleiner Ladendieb nach zwei Diebstählen bereits Anspruch auf einen Offizialverteidiger hätte. Ausschlaggebend müsse der gesetzgeberische Gedanke sein, der im Gesetzeswortlaut immer nur einen unvollkommenen Ausdruck finde. Dieser Gedanke bestehe in der hier zu beurteilenden Frage darin, dass Offizialverteidigung immer dann zu gewähren sei, wenn der Angeschuldigte konkret mit einer längeren Freiheitsstrafe rechnen müsse. Das treffe in Fällen wie dem vorliegenden, wo nur eine verhältnismässig kurze Freiheitsstrafe drohe, nicht zu, weshalb vom Wortlaut des Gesetzestextes abgewichen werden dürfe. Dieses Vorgehen stehe mit der bundesgerichtlichen Rechtsprechung zum Minimalanspruch, wie sie vorstehend dargelegt wurde, in Einklang, und das Bundesgericht habe diese Praxis in seinem Urteil BGE 103 Ia 4 ff. nicht beanstandet, sondern die Frage ausdrücklich offengelassen. Wenn möglicherweise einzelne erstinstanzliche Strafgerichtspräsidenten eine andere Praxis befolgten, so sei dies für das Appellationsgericht bedeutungslos.
|
Der Beschwerdeführer hält den angefochtenen Entscheid und die erwähnte Begründung für willkürlich. Zur Stützung seines Standpunktes verweist er auf den Gesetzeswortlaut, auf die Entstehungsgeschichte der Norm sowie darauf, dass die erstinstanzlichen Gerichtspräsidenten im Kanton Basel-Stadt § 10 Abs. 3 lit. a StPO teils nach seinem Wortlaut, teils nach der engeren Praxis des Appellationsgerichtes anwendeten, was zu einer Rechtsungleichheit führe.
|
c) Der Wortlaut der vorstehend angeführten Norm ist an sich unzweideutig, was das Gericht sinngemäss selbst anerkennt. Auch kann er nicht gegen eidgenössisches Verfassungsrecht verstossen, da er den Angeschuldigten nicht weniger, sondern mehr Rechte einräumt als die vom Bundesgericht aus Art. 4 BV abgeleiteten Minimalansprüche.
|
Dies bedeutet noch nicht, dass die Auslegung der Norm gegen ihren Wortlaut von vornherein ausgeschlossen wäre. Nach ständiger Rechtsprechung ist ein solches Abweichen vom Text vielmehr dann zulässig, wenn triftige Gründe zur Annahme bestehen, dass der Wortlaut nicht den wahren Sinn der Bestimmung wiedergibt. Solche Gründe können sich aus der Entstehungsgeschichte, aus Sinn und Zweck der Vorschrift und aus dem Zusammenhang mit anderen Gesetzesbestimmungen ergeben (BGE 108 Ia 297 E. 2a; BGE 106 Ia 211 E. 5 mit Hinweis; ferner BERNHARD SCHNYDER, "Entgegen dem Wortlaut...", in: Erhaltung und Entfaltung des Rechts in der Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts, Festgabe 1975, S. 29 ff.; ULRICH HÄFELIN, Bindung des Richters an den Wortlaut des Gesetzes, in: Festschrift für Cyril Hegnauer, Bern 1986, S. 111 ff.). Gründe dieser Art sind indessen hier, entgegen der Auffassung des Appellationsgerichtes, nicht ersichtlich. Die vom Beschwerdeführer vorgelegten Materialien aus den Jahren 1926-1929 zeigen, dass der Gesetzgeber des Kantons Basel-Stadt bewusst die abstrakte Strafandrohung als Massstab für die notwendige Verteidigung gewählt hat, wobei darüber diskutiert wurde, ob die Grenze - nach altem kantonalem Strafrecht - bei vier oder fünf Jahren Freiheitsentzug zu ziehen sei. Dabei herrschte offensichtlich eine weitherzige Auffassung vor. Aus dem Bericht der Kommission des Grossen Rates vom 4. April 1929 ergibt sich, dass diese die notwendige Verteidigung verglichen mit dem früheren Rechtszustand in vermehrtem Masse gewähren wollte und sich sogar die Frage gestellt hat, ob nicht vor Strafgericht jedem Angeschuldigten ein Verteidiger beizugeben sei (Prot. S. 37). Historische Gründe rechtfertigen somit ein Abweichen vom Wortlaut des Gesetzes jedenfalls nicht. Der Vollständigkeit halber sei beigefügt, dass das Appellationsgericht selbst nicht geltend macht, das Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzbuches im Jahre 1942 habe hinsichtlich der Strafandrohungen eine fundamental andere Lage geschaffen, so dass die Bestimmungen über die notwendige Verteidigung aus diesem Grunde nicht mehr nach ihrem Wortlaut angewendet werden könnten.
|
Es lässt sich auch nicht sagen, Sinn und Zweck der Vorschrift stünden einer wortgetreuen Anwendung entgegen. Wohl führt diese dazu, dass gelegentlich Angeklagte in den Genuss der Offizialverteidigung gelangen, bei denen dies, gemessen an den Minimalgarantien gemäss Art. 4 BV, nicht unbedingt erforderlich wäre; es ist jedoch nicht ersichtlich, weshalb ein Kanton in dieser Hinsicht nicht weitherziger sein dürfte (vgl. Art. 64bis Abs. 2 BV). Beispiele für das Gegenteil, nämlich dafür, dass nach dem Wortlaut der fraglichen Bestimmung Offizialverteidigung in bestimmten Fällen nicht gewährt werden könnte, wo sie von der Sache her erforderlich oder mindestens wünschenswert wäre, führt das Appellationsgericht nicht an. Schliesslich ist auch nicht ersichtlich, dass andere Gesetzesbestimmungen bestünden, deren Heranziehung eine Auslegung des Gesetzes entgegen seinem Wortlaut geböten.
|
"Da die StPO auf den gesetzlichen Strafrahmen abstellt, wäre zu
|
berücksichtigen, dass die Straftaten, welche das Strafgericht dem
|
Beschwerdeführer zur Last legt, alle mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren als
|
Höchststrafe bedroht sind (...). Man kann sich fragen, ob nicht im
|
Hinblick auf Art. 68 StGB anzunehmen wäre, der gesetzliche Strafrahmen
|
aller Delikte überschreite die Grenze von fünf Jahren Zuchthaus. Die Frage
|
kann indessen offen bleiben."
|
In der Folge gelangte das Bundesgericht zum Ergebnis, die Verweigerung eines Offizialverteidigers sei im konkreten Falle schon wegen der Schwierigkeit der Sache weder mit dem einschlägigen § 10 Abs. 3 lit. c StPO noch mit den sich unmittelbar aus Art. 4 BV ergebenden Minimalanforderungen vereinbar gewesen. Verhielt es sich aber so, dann kann daraus, dass das Bundesgericht zur Anwendbarkeit von § 10 Abs. 3 lit. a StPO in diesem Urteil bewusst nicht Stellung genommen hat, nichts zugunsten der Auslegung gegen den Wortlaut abgeleitet werden; die vorstehend wiedergegebenen beiden Sätze sprechen eher für die gegenteilige Auffassung.
|
Sodann ist auch der vom Beschwerdeführer erwähnte, im Urteil des Appellationsgerichtes nicht in Abrede gestellte Umstand zu berücksichtigen, dass die Praxis der erstinstanzlichen Strafgerichtspräsidenten in der hier streitigen Frage uneinheitlich ist und dass es dem Appellationsgericht - da bei Gewährung der Offizialverteidigung durch die erste Instanz keine beschwerdelegitimierte Partei vorhanden sein dürfte - praktisch nicht möglich ist, seine Auffassung innerhalb des Kantons durchzusetzen. Die sich hieraus notwendigerweise ergebende Rechtsungleichheit und Rechtsunsicherheit bildet einen zusätzlichen Grund, um hier die Notwendigkeit der Auslegung einer gesetzlichen Bestimmung gegen ihren Wortlaut nicht als berechtigt anzuerkennen.
|
Abschliessend darf darauf hingewiesen werden, dass eine zurückhaltende Anwendung der "Auslegung gegen den Wortlaut" auch in der neuesten einschlägigen wissenschaftlichen Literatur gefordert wird (ULRICH HÄFELIN, a.a.O., Schlussbetrachtung, S. 138/139).
|
Nach dem Gesagten lässt sich die Auffassung des Appellationsgerichts, bei der Auslegung von § 10 Abs. 3 lit. a StPO dürfe vom Wortlaut der Vorschrift abgewichen werden, mit sachlichen Gründen nicht vertreten. Das Gericht verletzte daher Art. 4 BV, wenn es einen Anspruch des Beschwerdeführers auf Beigabe eines Offizialverteidigers verneinte, obgleich die Voraussetzungen dieses Anspruchs nach dem Wortlaut der kantonalen Vorschrift erfüllt waren, da die dem Beschwerdeführer zur Last gelegte Straftat (gewerbsmässiger Diebstahl) gemäss Art. 137 Ziff. 1bis StGB mit einer Höchststrafe von mehr als fünf Jahren Zuchthaus bedroht ist. Die staatsrechtliche Beschwerde ist deshalb gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann, und der angefochtene Entscheid aufzuheben.
|