BGE 116 Ia 106
 
20. Auszug aus dem Urteil der I. öffentlichrechtlichen Abteilung vom 13. März 1990 i.S. L. gegen Einwohnergemeinde Gretzenbach und Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 und 22ter BV; Entschädigung für Enteignungen im Rahmen einer Baulandumlegung, Stichtag.
Dauert eine Landumlegung mehrere Jahre und steigen in dieser Zeit die Landpreise erheblich an, so kann als Stichtag für die Bemessung der Entschädigung für Minderzuteilungen und Landabtretungen an öffentliche Werke nicht der Zeitpunkt der Verfahrenseinleitung gewählt werden (E. 3).
In der Weigerung des Enteignungsrichters, die nötigen Abklärungen zur Bestimmung der Höhe des werkbedingten Vor- oder Nachteils vorzunehmen, liegt ein Verstoss gegen Art. 4 BV (E. 4).
 
Sachverhalt
Anfangs 1983 wurden in der Gemeinde Gretzenbach die Unterlagen für die Baulandumlegung "Grund", so auch das "Reglement über die speziellen Bedingungen", öffentlich aufgelegt. Während der Auflagefrist erhoben mehrere Grundeigentümer beim Gemeinderat Einsprache und gelangten hierauf an den Regierungsrat des Kantons Solothurn, vor dem sie unter anderem geltend machten, dass die im Reglement festgelegte Entschädigung von Fr. 40.--/m2 für Mehr- und Minderzuteilungen sowie für das an das Strassenareal abzutretende Land zu niedrig sei. Der Regierungsrat trat auf diese Rüge nicht ein und überwies die Akten zur Beurteilung der Entschädigungsfrage an die zuständige kantonale Schätzungskommission. Diese sistierte das Verfahren, weil die Unterlagen ihrer Meinung nach für einen Schätzungsentscheid noch nicht genügten, und bestätigte schliesslich, nachdem die Sistierungsverfügung von der Gemeinde Gretzenbach mit Erfolg beim Verwaltungsgericht angefochten worden war, mit Entscheid vom 10. November 1987 den angefochtenen Entschädigungsansatz von Fr. 40.--/m2.
Gegen den Entscheid der Schätzungskommission reichte L. beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn Beschwerde ein, das diese mit Urteil vom 13. März 1989 abwies. L. hat den Verwaltungsgerichtsentscheid mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung der Eigentumsgarantie angefochten.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Gemäss der solothurnischen Verordnung über Baulandumlegung und Grenzbereinigung vom 10. April 1979 (im folgenden: Umlegungs-Verordnung) gliedert sich die Baulandumlegung in die Verfahrensabschnitte Anordnung, Einleitung, Publikation der Grundlagen, Neuzuteilung und Kostenverteilung bzw. Berechnung des Geldausgleichs und der Entschädigungen (§§ 5-23). Als "Grundlagen" sind anschliessend an die Anordnung und Einleitung des Verfahrens der Perimeterplan und die den Altbestand wiedergebenden Verzeichnisse (§ 10 Ziff. 1) sowie das Reglement über die speziellen Bedingungen (Ziff. 2) öffentlich aufzulegen. Die speziellen Bedingungen setzen nach § 11 der Verordnung die "allgemeinen Abzüge, den Verteilungsmassstab, die Bewertung des Altbestandes und die Entschädigung für Mehr- und Minderzuteilungen fest". Über die Landabzüge und die Entschädigungen für Mehr- und Minderzuteilungen wird folgendes bestimmt:
"Landabzüge
§ 12. Anhand der Nutzungspläne legt die durchführende Behörde die
verhältnismässig auf alle beteiligten Grundstücke zu verteilenden
Landabzüge nach folgenden Grundsätzen fest:
a) Landabzüge für gemeinsame Abstell-, Spiel- und Ruheplätze erfolgen
ohne Entschädigung. Das Land wird Miteigentum der beteiligten
Grundeigentümer.
b) Landabzüge für öffentliche Erschliessungsanlagen und andere
öffentliche Bauten und Anlagen erfolgen gegen Entschädigung nach den für
die Enteignung geltenden Grundsätzen. Das Land geht in das Eigentum des
Gemeinwesens über, für das es bestimmt ist. Wenn das Gemeinwesen das für
Erschliessungsanlagen bestimmte Land nicht sofort übernimmt, kann es den
Grundeigentümern als gemeinschaftliches Eigentum zugeteilt werden.
Entschädigung für Mehr- und Minderzuteilungen
§ 15. Die Entschädigungen für entstehende Mehr- und Minderzuteilungen
sind nach den Grundsätzen der Enteignung festzusetzen."
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung gewährt die Eigentumsgarantie den in ein Landumlegungsverfahren einbezogenen Grundeigentümern einen Anspruch auf Realersatz oder, soweit ein solcher nicht geleistet werden kann, auf Geldausgleich in Höhe des Verkehrswertes, das heisst auf eine volle Entschädigung im Sinne von Art. 22ter BV. Aus dem Prinzip des wertgleichen Realersatzes oder der vollen Entschädigung ergibt sich in verfahrensmässiger Hinsicht, dass sich der betroffene Eigentümer unter Umständen auch nach Abschluss des Bonitierungs- oder Neuzuteilungsverfahrens noch bei der Bemessung des Geldausgleiches auf die wahren Wertverhältnisse berufen können muss. Das gilt insbesondere dann, wenn eine Landumlegung mehrere Jahre dauert, sich während dieser Zeit die Preise auf dem Immobilienmarkt wesentlich ändern und die zu Beginn des Umlegungsverfahrens festgesetzten Bonitierungs- oder Entschädigungsansätze dem wahren Verkehrswert der Grundstücke in keiner Weise mehr entsprechen. Wird in einem solchen Fall eine Überprüfung der Neuzuteilung oder des Geldausgleichs aus rein formalrechtlichen Gründen abgelehnt, so läuft dies auf eine Rechtsverweigerung sowie auf eine Verletzung des Prinzips der vollen Entschädigung hinaus (BGE 105 Ia 329, BGE 114 Ia 260 f., nicht publ. Entscheid vom 15. Dezember 1987 i.S. B. und R.; s. auch ANTOGNINI, Le respect de la garantie de la propriété dans les remaniements parcellaires, ZBl 72/1971 S. 8 f., FRIEDRICH, Das Verfahrensrecht der Güterzusammenlegung, Blätter für Agrarrecht 1970 S. 60). Im Hinblick auf diese Grundsätze erscheint der Hinweis des Verwaltungsgerichtes auf die Mehrstufigkeit des Verfahrens und die Unabänderlichkeit der einmal in Rechtskraft erwachsenen Entschädigungsansätze als zumindest fragwürdig.
Nach den oben angeführten §§ 12 und 15 der solothurnischen Landumlegungs-Verordnung sind die Entschädigungen für Landabzüge für öffentliche Erschliessungsanlagen sowie für Mehr- und Minderzuteilungen nach den für die Enteignung geltenden Grundsätzen festzusetzen. Diese Vorschriften entsprechen im wesentlichen § 90 des kantonalen Baugesetzes vom 3. Dezember 1978, wonach Mehr- und Minderzuteilungen durch Geld auszugleichen sind und das Gemeinwesen für das ihm im Landumlegungsverfahren für öffentliche Bauten und Anlagen zugeteilte Land nach den für die Enteignung geltenden Grundsätzen Entschädigung zu leisten hat. Allerdings wird auch in dieser Bestimmung nicht präzisiert, ob die für die formelle oder die für die materielle Enteignung geltenden Grundsätze Anwendung finden sollen. Wie sich im folgenden zeigt, erweist sich der angefochtene Entscheid sowohl im einen als auch im anderen Fall als unhaltbar.
a) In den §§ 228-236 des solothurnischen Gesetzes über die Einführung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches vom 4. April 1954 (EG ZGB), in welchen die formelle Enteignung geregelt wird, wird über den dies aestimandi nichts bestimmt. Anwendbar sind daher direkt die verfassungsmässigen Grundsätze. Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung wird dem verfassungsmässigen Anspruch des Enteigneten auf volle Entschädigung nur Rechnung getragen, wenn der Bewertungs-Stichtag nahe beim Zeitpunkt des Entzugs der enteigneten Rechte liegt. Das Bundesgericht hat daher vor der Einfügung von Art. 19bis in das Bundesgesetz über die Enteignung erklärt, dass die Enteignungsentschädigung grundsätzlich anhand des Verkehrswerts der enteigneten Rechte am Tage des Entscheids der Eidgenössischen Schätzungskommission zu berechnen sei (BGE 89 I 343). Nun ist zwar durch Art. 19bis EntG der Stichtag auf die Einigungsverhandlung vorverlegt, dem Enteigneten jedoch zugleich die Möglichkeit eingeräumt worden, sofort eine Zahlung in Höhe der voraussichtlichen Entschädigung zu verlangen (Art. 19bis EntG); dadurch bleibt dieser trotz der Verschiebung des Schätzungszeitpunktes zumindest theoretisch in der Lage, mit der Entschädigung ein Ersatzgrundstück zu erwerben (vgl. BGE BGE 115 Ib 27 E. 7b, BGE 114 Ia 262). Im übrigen hat das Bundesgericht auch schon die Frage aufgeworfen, ob bei langer Verfahrensdauer nicht eine zweite, für den Schätzungszeitpunkt massgebende Einigungsverhandlung durchzuführen sei (vgl. BGE 115 Ib 25; BGE 116 Ib 18 E. 2dd).
b) Für die materielle Enteignung bestimmt § 237bis EG ZGB, dass die Entschädigung nach dem Verkehrswert festzulegen sei, den das belastete Grundstück im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Eigentumsbeschränkung habe. Diese Regelung stimmt mit der ständigen bundesgerichtlichen Praxis zum Entschädigungsanspruch aus Art. 5 Abs. 2 RPG überein (BGE 114 Ib 111 E. 2a, 122 f., 283, 293 f. E. 5, je mit Hinweis auf weitere Urteile). Auch in diesem Rahmen hat das Bundesgericht schon eingeräumt, dass der Grundeigentümer benachteiligt werden könne, wenn das Gemeinwesen seinen Entschädigungsanspruch für materielle Enteignung bestreite, das Gerichtsverfahren lange daure und während dieser Zeit die Landpreise erheblich anstiegen. In einer solchen Situation müsse allenfalls ein Ausgleich geschaffen werden (BGE 114 Ib 294 E. 5).
c) Aus diesen gesetzlichen bzw. verfassungsrechtlichen Regeln ergibt sich, dass die Auffassung des Solothurner Verwaltungsgerichtes, der Stichtag für die Bemessung der Entschädigungen für Landabzüge sowie für Mehr- und Minderzuteilungen falle selbst dann auf den Zeitpunkt der Festsetzung der speziellen Bedingungen, wenn dieser und der Zeitpunkt der Neuzuteilung oder Entschädigungszahlung weit auseinander liegen und sich die Landpreise in der Zwischenzeit verändern, mit Art. 22ter BV nicht vereinbar ist. Da im vorliegenden Fall das Reglement über die speziellen Bedingungen im Januar 1983 aufgelegt worden ist, die Neuzuteilung im August 1986 stattgefunden hat, eine Entschädigung offenbar noch heute nicht ausbezahlt ist und nach der allgemeinen Erfahrung in diesen Jahren die Baulandpreise erheblich angestiegen sind, ist der angefochtene Entscheid in Gutheissung der Beschwerde aufzuheben.
Ob hier der Stichtag für die Entschädigungsbemessung, wie der Beschwerdeführer verlangt, auf den Zeitpunkt der Neuzuteilung oder - da die kantonale Schätzungskommission nicht an die Parteianträge gebunden ist (§ 7 Abs. 2 der Verordnung über das Enteignungsverfahren vom 28. Oktober 1954) - auf ein noch späteres Datum zu legen sei, braucht gleich wie in BGE 114 Ia 262 nicht näher untersucht zu werden, haben doch zunächst die kantonalen Instanzen über diese Frage zu befinden.
4. Das Verwaltungsgericht hat schliesslich noch erklärt, dem Beschwerdeführer stehe auch deshalb keine Entschädigung in Höhe des Verkehrswertes zur Zeit der Neuzuteilung zu, weil dieser Wert durch die projektierte Landumlegung mitbestimmt worden sei und die Gemeinde für die durch die Landumlegung bewirkte Wertsteigerung nichts zu bezahlen habe. Man könne sich höchstens fragen, ob die Bodenpreise auch ohne die Landumlegung angestiegen wären und dem Grundeigentümer allenfalls diese Wertsteigerung zugute kommen müsse. Diese Frage lasse sich jedoch kaum in seriöser Weise beantworten und führe allzusehr in Hypothesen. Unter diesen Umständen erscheine die von der Schätzungskommission gewählte Lösung, die Entschädigungen aufgrund der Zustände zur Zeit der Auflage der speziellen Bedingungen festzusetzen, als korrekt.
Es trifft zu, dass werkbedingte Vor- und Nachteile bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung nicht zu berücksichtigen sind, und dieser Grundsatz, der sich aus dem verfassungsrechtlichen Prinzip der vollen Entschädigung ergibt, auch im kantonalrechtlichen Enteignungsverfahren gilt (BGE 104 Ia 470 ff., BGE 115 Ib 26 E. 5b und dort zitierte Entscheide). Bei der Bestimmung der Landabzugs-Entschädigung darf daher auch im vorliegenden Fall der Verkehrswert des fraglichen Grundstücks am massgebenden Stichtag in dem Masse reduziert werden, als er aufgrund der Vorwirkungen der Landumlegung angestiegen ist. Davon, dass die Bemessung des werkbedingten Vorteils allzu hypothetisch und daher kaum möglich sei, kann indessen keine Rede sein. Vielmehr handelt es sich bei der Vornahme einer solchen Schätzung um eine fast alltägliche, in der Regel nicht mit erheblichen Schwierigkeiten verbundene Aufgabe des Enteignungsrichters, geht es doch einzig darum, die Preisentwickung der im Umlegungsgebiet liegenden Grundstücke jener von vergleichbaren Parzellen, die nicht ins Verfahren einbezogen worden sind, gegenüberzustellen. Schöpft der Enteignungsrichter bei der Festsetzung der Enteignungsentschädigung nicht alle ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten und Mittel zur Abklärung der Preisverhältnisse aus, so liegt darin eine Rechtsverweigerung, gleich, wie wenn bei der Neuzuteilung nicht alle vorhandenen technischen Mittel zu Hilfe genommen werden (vgl. BGE 105 Ia 327 E. 2c).