BGE 116 Ia 202
 
34. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 11. September 1990 i.S. A. gegen Erben des B. sowie Kassationsgericht des Kantons Zürich (staatsrechtliche Beschwerde)
 
Regeste
Art. 4 BV, § 162 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH; Willkür, Verletzung des Anklagegrundsatzes.
 
Sachverhalt
Die Bezirksanwaltschaft Z. erhob gegen A. die folgende Anklage:
"Die Angeklagte A. hat fahrlässig den Tod eines Menschen verursacht, indem sie am Dienstag, 15. Juli 1986, ca. 15.30 Uhr, den Swimmingpool bei der von ihr bewohnten Liegenschaft nicht mit der Kindersicherung (Abdeckung) versah und das Bassin auch nicht ständig überwachte, obschon sie immer mit Blickkontakt zum Bad im Garten sass, so dass der 3 1/4 Jahre alte B., der mit Erlaubnis seiner Mutter zusammen mit seiner 5jährigen Schwester C. bei der Angeklagten zwecks Baden auf Besuch weilte - wobei die Angeklagte einverstanden war, wodurch sie die Betreuung und Verantwortung für die Kinder übernommen hatte -, unbemerkt in den Swimmingpool fiel und darin mindestens drei Minuten lang lag, bis er entdeckt wurde, wodurch er schwere Verletzungen (Herz-/Kreislauf- und Atemstillstand) erlitt, an deren Folgen er am 19. Juli 1986 verstarb.
Dadurch hat sich die - nicht geständige - Angeklagte schuldig gemacht der fahrlässigen Tötung im Sinne von Art. 117 StGB, wofür sie angemessen zu bestrafen ist."
Auf Berufung der Geschädigten gegen das freisprechende Urteil der 1. Instanz hin erklärte das Obergericht des Kantons Zürich A. mit Urteil vom 6. September 1988 der fahrlässigen Tötung schuldig und bestrafte sie mit einer Busse von Fr. 500.--.
Gegen diesen Entscheid führte die Verurteilte sowohl eidgenössische als auch kantonale Nichtigkeitsbeschwerde. Das Kassationsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde mit Entscheid vom 6. November 1989 ab.
Gegen dieses Urteil führt A. staatsrechtliche Beschwerde mit dem Antrag, den angefochtenen Entscheid aufzuheben.
Die Erben des B. beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen. Das Kassationsgericht verzichtete auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Das Obergericht Zürich ging in seinem Urteil davon aus, dass sich die Kinder nach einem ersten Bad mit Ausnahme von D. alle entfernt hätten, um sich zum unmittelbar in der Nähe befindlichen Kindergarten zu begeben; als sie zurückgekehrt seien, sei das Fehlen von B. aufgefallen; niemand habe bemerkt, wie B. zum Schwimmbecken gelangt und darin ertrunken sei. Es kam zum Schluss, der tragische Unfall habe sich zu einem massgeblichen Teil ereignet, weil die Aufenthaltsbestimmung und Aufsicht der Kinder B. und C. nach Abschluss des Bades durch die Obhutinhaber nicht klar geregelt und durchgesetzt worden sei; eine umfassende Obhut über die Kinder habe der Beschwerdeführerin nicht zugestanden; diese treffe lediglich im Zusammenhang mit dem Badebetrieb eine Garantenstellung, die sie nicht verletzt habe; der Betrieb eines Swimmingpools der vorliegenden Art (4 x 7 m, 1,5 m tief) stelle für Kinder und Nichtschwimmer eine erhebliche Gefahr dar; insbesondere habe sich diese Gefahr aktualisiert, weil die Beschwerdeführerin es geduldet habe, dass Nachbarskinder sich zum Baden in ihrem Garten aufgehalten hätten; die Beschwerdeführerin sei sich dieser Gefahr durchaus bewusst gewesen; aus diesem Grunde sei das Bad mit einer Kindersicherung (Abdeckung) versehen gewesen, die regelmässig nach dem Baden montiert worden sei; aufgrund des Ingerenzprinzips sei ihr anzulasten, dass sie entweder das Schwimmbecken hätte intensiver überwachen oder es mit der Kindersicherung zudecken müssen.
Das Kassationsgericht führte im angefochtenen Urteil aus, es treffe zu, dass die Anklage die Garantenstellung der Beschwerdeführerin aus der übernommenen Obhutspflicht hergeleitet habe, während das Obergericht eine solche aus Ingerenz bejaht habe; gemäss § 162 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH seien die dem Angeklagten zur Last gelegten Handlungen oder Unterlassungen unter Angabe aller Umstände, welche zum gesetzlichen Tatbestand gehörten, in der Anklageschrift aufzuführen. Da bei den unechten Unterlassungsdelikten die Garantenstellung nach Lehre und Rechtsprechung ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal sei, müssten die Umstände, die zur Bejahung einer Garantenstellung führten, in der Anklage umschrieben werden; vorliegend sei wohl im Hinblick auf die Garantenpflicht eingeklagt worden, dass die Obhut über die Kinder B. und C. freiwillig übernommen worden sei; indes seien in der Anklageschrift auch diejenigen Umstände aufgeführt, die auf die Garantenstellung aus Ingerenz schliessen liessen, nämlich die Tatsache, dass das Bassin nicht mit der Kindersicherung versehen und auch nicht ausreichend überwacht worden sei, wie auch die Tatsache, dass kleine Kinder, insbesondere der 3 1/4 Jahre alte B., zwecks Baden auf Besuch geweilt hätten; die Frage allerdings, ob aufgrund dieser genannten Umstände eine Garantenpflicht der Beschwerdeführerin zu Recht bejaht worden sei, wäre als Rechtsfrage dem Bundesgericht zu unterbreiten gewesen (§ 430b StPO/ZH); bei der rechtlichen Würdigung des eingeklagten Sachverhalts sei der Richter frei; die Vorinstanz habe folglich gemäss § 185 Abs. 1 StPO/ZH von der Auffassung der Anklagebehörde über die Herleitung der Garantenstellung der Beschwerdeführerin abweichen dürfen, ohne dass dadurch die Tatidentität oder die Trennung zwischen richterlicher und anklagender Funktion betroffen worden sei; die Rüge der Verletzung des Anklageprinzips erweise sich damit als unbegründet.
Dagegen wendet die Beschwerdeführerin ein, selbst wenn sich ein Sachverhalt aus den Akten ergebe, so könne dieser nicht in die Beurteilung miteinbezogen werden, es sei denn, er sei ausdrücklich in der Anklage erwähnt; Schlussfolgerungen seitens des Sachrichters ersetzten die ausdrückliche Umschreibung der Tathandlung in der Anklageschrift nicht, die Sachverhaltskonstellation, welche die Garantenstellung ausmache, sei zu behaupten und zu umschreiben; die in der Anklage angeführten Sachverhaltsmomente ergäben für sich allein, so wie sie dargestellt worden seien, keine Behauptung und keine Umschreibung der Garantenstellung aus Ingerenz, sie stellten lediglich das Umfeld für die behauptete und umschriebene Garantenstellung aus Obhutsübernahme dar; die gegenteilige Auslegung der Vorinstanz müsse als willkürlich bezeichnet werden (Art. 4 BV), weil sie der Anklage auch einen völlig neuen Sinn gebe.
2. Bei unechten Unterlassungsdelikten bildet die Garantenstellung ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal (NOLL/TRECHSEL, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, S. 205). Nach zürcherischem Strafprozessrecht sind in der Anklageschrift alle Umstände aufzuführen, welche zum gesetzlichen Tatbestand gehören (§ 162 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH). Das Obergericht nahm eine Garantenstellung aus Ingerenz an, d.h. dass derjenige, der eine Gefahrenlage schafft, verpflichtet ist, an Vorsichts- und Schutzmassnahmen alles Zumutbare vorzukehren, um einen Unfall zu verhüten (STRATENWERTH, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, S. 378 N. 18 mit Hinweisen). Es hielt der Beschwerdeführerin vor, das fragliche Schwimmbecken habe für Kinder und Nichtschwimmer eine erhebliche Gefahr dargestellt, die sich aktualisiert habe, weil die Beschwerdeführerin Nachbarkskinder zum Baden in ihrem Garten geduldet habe.
Dass dieser Vorwurf in der Anklageschrift enthalten sei, behauptet das Kassationsgericht nicht. Es hält lediglich fest, dies lasse sich aus den angeführten Tatsachen schliessen.
a) Es kann offenbleiben, ob das Kassationsgericht das kantonale Recht willkürlich anwandte, wenn es genügen liess, dass aus der Anklageschrift auf die massgeblichen Umstände geschlossen werden könne; immerhin spricht ARMAND MEYER (Die Bindung des Strafrichters an die eingeklagte Tat, Diss. Zürich 1972, S. 26), der im angefochtenen Urteil zitiert wird, von den "in der Anklageschrift ausdrücklich aufgeführten Tatsachen", und in einem Entscheid des Kassationsgerichts (ZR 82 Nr. 83) wurde ein blosses Erkennen-können des Gegenstandes des Strafverfahrens nur für das Übertretungsverfahren als genügend betrachtet, wo das Anklageprinzip nicht in seiner vollen Strenge gelte.
b) Aus den übrigen Tatsachen konnte vorliegend wohl geschlossen werden, dass das Schwimmbecken eine Gefahr für Kinder darstellte. Der vom Obergericht ebenfalls als massgeblich angenommene Umstand, dass sich diese Gefahr aktualisiert habe, weil die Beschwerdeführerin Nachbarskinder zum Baden in ihrem Garten geduldet habe, lässt sich jedoch nicht aus der Anklageschrift ableiten. Darin wird lediglich angeführt, die Beschwerdeführerin sei damit einverstanden gewesen, dass B., nachdem das Einverständnis seiner Mutter vorgelegen habe, in ihrem Garten bade. Dass sie allgemein das Baden von Nachbarskindern in ihrem Garten geduldet habe - nachdem ein Dulden von B. zum Baden im Garten nach dem Aufsuchen des nahegelegenen Kindergartens aufgrund einer übernommenen Obhutspflicht verneint wurde (so jedenfalls muss die entsprechende Feststellung des Obergerichts verstanden werden) -, wird in der Anklageschrift nicht behauptet und kann aus den übrigen darin aufgeführten Tatsachen nicht geschlossen werden. Die Annahme des Kassationsgerichts, alle zum gesetzlichen Tatbestand gehörenden Umstände seien in der Anklageschrift aufgeführt, ist offensichtlich unzutreffend, steht in klarem Widerspruch zu § 162 Abs. 1 Ziff. 2 StPO/ZH und ist deshalb mit dem Willkürverbot von Art. 4 BV (BGE 114 Ia 27 f.) nicht zu vereinbaren. Dies führt zur Aufhebung des angefochtenen Entscheids.